Beitrag

Der Rechtsstaat auf dem Pandemieprüfstand

Kolumne aus der ZAP Nr. 11 | 19.5.2021


Seit über einem Jahr leben wir in einer Ausnahmesituation, die wir uns in unseren schlimmsten Träumen nicht hätten ausmalen können. Wie ein Schreckgespenst streift Corona – COVID-19 oder SARS-CoV-2 –durch die Welt und verbreitet Verunsicherung, wenn nicht gar Furcht und Schrecken. Das Virus bedroht aber nicht nur unser aller Gesundheit, sondern weitaus mehr.

Damit ziele ich nicht einmal auf die wirtschaftliche Bedrohung vieler Bürgerinnen und Bürger, die nicht von der Hand zu weisen ist. Auch die Anwaltschaft war und ist in weiten Teilen von den wirtschaftlichen Auswirkungen betroffen, wie zwei Umfragen der BRAK bei Kolleginnen und Kollegen ergeben haben. Teilweise fürchteten und fürchten diese um ihre Existenz.

Mir geht es hier vielmehr um die Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege einerseits und die Gesetzgebungsverfahren andererseits. Denn die Corona-Pandemie hat Exekutive, Legislative und Judikative gleichermaßen vor ungeahnte Herausforderungen gestellt. Obgleich die Krise andauert und uns voraussichtlich noch eine Weile begleiten wird, gilt es bereits jetzt, Lehren aus ihr zu ziehen und den Rechtsstaat zukunftssicher zu gestalten; ganz gleich, ob er künftig weitere Pandemien oder andere unerwartete Ausnahmesituationen zu überstehen hat.

Bedingt durch notwendige Gesundheitsschutzmaßnahmen kam es insb. im vergangenen Jahr zu einem faktischen Stillstand der Rechtspflege. Laut unserer BRAK-Umfrage (https://www.brak.de/diebrak/coronavirus/corona-umfrage/) gaben fast 50 % aller befragten Anwältinnen und Anwälte an, dass sich Verfahren um durchschnittlich mehr als acht Wochen verzögerten. Termine wurden abgesagt, eilige Verfahren nicht weiter gefördert. Die Justiz war – ohne ihr daraus einen Vorwurf machen zu wollen – auf den Umgang mit einer Pandemienicht vorbereitet. Die Zeit der Gewöhnung ist nun indes vorbei. Folgt man wissenschaftlichen Erkenntnissen und Prognosen, müssen wir uns darauf einrichten, auch künftig mit derartigen Krisen umzugehen. Hierfür bedarf es eines Umdenkens. Die Arbeitsfähigkeit der Gerichte muss auch in Krisensituationen durchgängig gewährleistet bleiben. Hierzu gilt es, nicht nur das Verfahrensmanagement zu verbessern, sondern auch dafür Sorge zu tragen, dass die Gerichte über die technische Ausstattung verfügen, um die bereits bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten zu nutzen, z.B. § 128a ZPO. Die BRAK erhielt regelmäßig Feedback aus der Kollegenschaft, dass von diesen Möglichkeiten noch sehr unzureichend Gebrauch gemacht wird. Dort, wo es die Rechte der Beteiligten zulassen, sollten Verfahrenshandlungen zeitgemäß erfolgen, um die Rechtspflege unter Beachtung des Gesundheitsschutzes funktionsfähig zu halten. Dies ist nur eines von vielen Beispielen, das die BRAK in ihrer AG „Sicherung des Rechtsstaates“ aufgegriffen und gegenüber Justiz und Politik geltend gemacht hat. Es sind dringend Maßnahmen zu ergreifen, um die Rechtspflege zukunftssicher und krisenfest zu gestalten. Nur so lässt sich sicherstellen, dass der Zugang zum Recht auch während einer Pandemie gewährleistet bleibt. Man könnte sagen, wir müssen nicht nur uns selbst, sondern auch den Rechtsstaat vor einer Infektion mit Corona schützen.

Die Anwaltschaft ist selbstverständlich ebenfalls gefordert, hierzu ihren Teil beizutragen. Diesen hat sie geleistet, wofür ich allen Kolleginnen und Kollegen danke. Wir waren weiterhin für unsere Mandantinnen und Mandanten erreichbar, haben unsere Beratung unter Beachtung des Infektionsschutzes durchgeführt oder auf digitale Kommunikationsformen umgestellt. Dies mag einer der wenigen positiven Aspekte sein, den wir aus der Krise mitnehmen können: Die Digitalisierung, die mit dem beA längst Einzug in die Anwaltschaft gehalten hat, hat einen weiteren Anschub und Aufschwung bekommen. Die Anwaltschaft hat sich als flexibel erwiesen und sich rasch auf die neue Situation eingestellt. Ich wünsche mir, dass unser Berufsstand diesen krisenbedingten Schwung nutzt und weiter ausbaut. Denn wir üben als Organ der Rechtspflege einen Beruf aus, der aus unserem Rechtsstaat nicht wegzudenken ist. Je moderner und zukunftsorientierter wir diesen Beruf gestalten, desto sicherer können wir in einer Krise zur Funktionsfähigkeit unseres Rechtsstaates beitragen. Genau dafür werden wir dringend gebraucht, denn ohne Anwaltschaft gibt es keinen Rechtsstaat und keinen (dringend notwendigen) Zugang zum Recht.

Als weitere Schattenseite erweist sich das Gesetzgebungsverfahren in der Krise, das durch die BRAK sehr genau beobachtet wurde und wird. Selbst eine Pandemie darf unter keinen Umständen dazu führen, dass die Judikative und insb. die Legislative von der Exekutive überrollt werden. Bei aller Eilbedürftigkeit getroffener Maßnahmen zum Schutze der Gesundheit müssen Regeln eingehalten werden: Die Gewährleistung ordnungsgemäßer Gesetzgebungsverfahren unter Beteiligung der notwendigen Akteure – und dies in einem angemessen Zeitrahmen! Stellungnahmefristen von zwei Tagen sind nicht zumutbar und verhindern sachgerechte Entscheidungsfindungen. Fachdebatten müssen geführt und fundierte Expertise muss in die Gesetzentwürfe einfließen und Berücksichtigung finden können.

Dies zeichnet eine gute Gesetzgebung aus. Wir müssen realisieren: Es handelt sich bei Corona nicht um ein kurzfristiges Phänomen, sondern um eine länger andauernde Krise. Diesem Umstand müssen die Gesetzgebungsverfahren wie auch die gesetzlichen Regelungen selbst ausreichend Rechnung tragen. Nur so lässt sich die Akzeptanz aller von der Krise Betroffenen und das Vertrauen in den Rechtsstaat erhalten. Die Gewaltenteilung ist unverzichtbar; an ihr darf nicht gerüttelt werden. Aus diesem Grunde hat die BRAK auch wiederholt eine stärkere Parlamentsbeteiligung gefordert. Rechtsstaatliche Grundsätze müssen unabhängig davon eingehalten werden, ob sich das Land in einer Sondersituation befindet oder nicht.

Dazu gehört auch, dass sich Deckmantelgesetzgebung verbietet. Es ist nicht hinnehmbar, vielleicht seit langem geplante Gesetzesänderungen in die Krisengesetzgebung „hineinzumogeln“, obschon sie in keinerlei Zusammenhang mit der Krise stehen – so zuletzt geschehen bei den Strafschärfungen im Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz. In Pandemiezeiten ist transparente Gesetzgebung wichtiger denn je. Die frühzeitige Einbeziehung der Anwaltschaft als rechtsanwendende Experten, besonders i.R.d. Verbändeanhörung, sollte sich daher von selbst verstehen. Dass dies leider nicht im gebotenen Maße der Fall ist, hat die BRAK angeprangert und wird so lange mit der Kritik fortfahren, bis sie entsprechendes Gehör findet. Dies ist nicht nur im Interesse der Anwaltschaft geboten, sondern gerade im Interesse aller rechtsuchenden Bürger und Bürgerinnen. Aufgabe des Gesetzgebers wird es sein, diese für Akzeptanz in der Bevölkerung unverzichtbare Transparenz zu gewährleisten. Nur Gesetze, die durchdacht und verständlich sind, den Bürgerinnen und Bürgern erläutert werden und zugleich nachvollziehbar auf dem dafür vorgesehenen Weg erlassen werden, sind geeignet, angenommen und akzeptiert zu werden. Dies wiederum ist unabdingbare Voraussetzung dafür, dass kein Verdruss entsteht und getroffene Maßnahmen sowie gesetzgeberische Entscheidungen gesellschaftlich (mit)getragen werden. Das so geschaffene Vertrauen wird uns den Weg aus der Krise ebnen. Nur so sind wir in der Lage, unseren Rechtsstaat zukunftssicher aus der Krise zu führen und sachgerecht weiter zu gestalten.


Packen wir es an!

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…