Das Wichtigste in Kürze:
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Akteneinsicht
Eine wirksame Verteidigung des Beschuldigten ist nur möglich, wenn er und auch sein Verteidiger die dem Beschuldigten zur Last gelegten Umstände kennen (s.a. Burhoff StV 1997, 432, 433; MAH-Schlothauer, § 3 Rn 34; zur Bedeutung a. EGMR, Urt. v. 25.7.2019 – 1586/15, NJW 2020, 3019; BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, NJW 2021, 455 [Bußgeldverfahren] und dazu Krawczyk StV 2021, 396). Das setzt die Kenntnis des Inhalts der Strafakte/der Akten voraus.
Ohne – ausreichende und vollständige – AE kann es keine erfolgreiche Verteidigung geben (s.a. Ernesti JR 1982, 221; FA Strafrecht-Bockemühl, 2. Teil Kap. 1 Rn 60 ff. m.w.N.; zur AE auch Dallmeyer, in: HBStrVf, Kap. II, Rn 322 ff.). Das AER umfasst die Befugnis der Verteidigung, in eigener Verantwortung zu prüfen, welche Aktenbestandteile (OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 21.12.2020 − 3 Ws 852/20, NStZ 2021, 382). |
Auch versetzt nur eine möglichst frühzeitige Information über die Vorwürfe, wegen der ermittelt wird, den Verteidiger in die Lage, sich auf eine effektive Verteidigung einzurichten und sich für den Beschuldigte Verteidigungsmittel zu beschaffen. Deshalb ist das AER des § 147 – neben dem Beweisantrags- und Fragerecht – ein Kernstück der Verteidigung, das den Grundsätzen des Rechts auf rechtliches Gehör in Art. 103 Abs. 1 GG und des fairen Verfahrens entspringt (u.a. Bahnsen, S. 33; Meglalu, S. 15 ff.; LR-Jahn, § 147 Rn 1 m.w.N.; Walischewski StV 2001, 244; Krehl, S. 1055 ff.; Wölky StraFo 2013, 493 [zugleich auch zur Beschränkung]; Wohlers/Schlegel NStZ 2010, 486; zur Akteneinsicht im Bußgeldverfahren BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, NJW 2021, 455; VerfGH Rheinland-Pfalz VRR 2012, 70 m. Anm. Deutscher und zu den Fragen Krawczyk StV 2021, 396; Niehaus VRR 1/2021, 4; ders., DAR 2021, 377; ders., zfs 2022, 484; zur Verletzung des rechtlichen Gehörs im Zwischenverfahren durch ungenügende Gewährung von AE KG StV 2016, 545; zum rechtlichen Gehör schließlich auch noch Eschelbach ZAP F. 22, S. 605 ff.). Die AE dient insbesondere auch dazu, Fehlurteile zu verhindern und Waffengleichheit zwischen Anklagebehörde und Verteidigung herzustellen (OLG Brandenburg NJW 1996, 67).
§ 147 unterscheidet zwischen dem Recht zur Einsicht in die Akten und dem Recht zur Besichtigung der Beweisstücke, wobei das Besichtigungsrecht das Einsichtsrecht ergänzt. Beides wird vom Gesetz im Wesentlichen gleich behandelt (in Zusammenhang mit digitalen Akten eingehend u.a. Meglalu, S. 519 ff.). Die Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV) regeln die AE über § 147 hinaus in den Nrn. 182 ff. Der Verteidiger hat außerdem die berufsrechtlichen Grundsätze des § 19 BORA, der u.a. die AE, die Anfertigung von Abschriften und die Bekanntgabe des Akteninhalts regelt, besonders zu beachten (dazu in Zusammenhang mit der Einsicht des Nebenklägers Riemann-Uwer StraFo 2021, 414. Das AER beinhaltet darüber hinaus nicht nur das Recht zur Einsicht in die Akten und Beiakten, sondern auch die Pflicht (des Gerichts), den Verteidiger auf neue Ermittlungsergebnisse hinzuweisen, um ihm so die Möglichkeit der Kenntnisnahme zu verschaffen (BGH NStZ 2017, 549; StV 2001, 4; s.a. BGH, Beschl. v. 29.11.1989 – 2 StR 264/89, BGHSt 36, 305). Im EV ist auch Art. 6 Abs. 3b EMRK einschlägig (EGMR NStZ 1998, 429). Das AER kann nicht auf Beweismittel beschränkt werden, die von der Anklage als relevant angesehen werden, vielmehr umfasst es das gesamte im Besitz der Behörden befindliche Material, das potentiell relevant ist, auch wenn es überhaupt nicht berücksichtigt oder als nicht relevant angesehen wird (EGMR, Urt. v. 25.7.2019 – 1586/15, NJW 2020, 3019).
Ob die Gewährung von AE gem. § 78c Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB die Verjährung unterbricht, lässt sich nicht allgemein beantworten und hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (KG StV 2018, 43; OLG Saarbrücken zfs 2009, 532). Voraussetzung für eine Unterbrechung ist jedenfalls, dass die StA im Zeitpunkt der Einsichtsgewährung bereits einen Strafverfolgungswillen haben muss, der sich auf eine bestimmte Tat beziehen muss (BGH StV 1997, 187). Aus den Umständen muss klar ersichtlich sein, dass die dem Verteidiger gewährte AE zur Information des Beschuldigten über Inhalt und Umfang des EV dienen soll und auch tatsächlich gedient hat (BGH NStZ 2008, 214; KG, a.a.O.). |
Schon das StrafverfahrensänderungsG 1999 hatte zahlreiche Änderungen im Recht der Akteneinsicht gebracht. Diese sind dann in die RiStBV eingearbeitet worden. Es hat dann in neuerer Zeit das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts v. 29.7.2009 zu weiteren Änderungen im Recht der AE geführt, die von erheblicher Bedeutung sind, wenn sich der Beschuldigte in Haft befindet. Außerdem hat dann das 2. OpferRRG v. 29.7.2009 weitere Änderungen gebracht. Inzwischen ist die elektronischen Akte auch im Strafverfahren eingeführt worden (dazu u.a. Gerson StraFo 2017, 402; Kassebohm StraFo 2017, 393). Das „Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs“ ist am 1.1.2018 in Kraft getreten. Bis zum 31.12.2025 stellt die elektronische Aktenführung aber lediglich eine Option dar.
Nach dem „Gesetz zur weiteren Digitalisierung der Justiz“ v. 12.7.2024, das am 17.7.2024 in Kraft getreten ist (BGBl I Nr. 234), dürfen Papierakten, die vor dem 1.1.2026 angelegt wurden, auch nach dem 31.12.2025 als Hybridakte derart weitergeführt werden dürfen, dass in Papier angelegte Aktenteile weiterhin in Papier geführt werden, die Weiterführung der Akte elektronisch jedoch möglich ist/bleibt (dazu z.B. § 32 Abs. 1a; Burhoff VRR 3/2024, 13 = StRR 4/2024, 10). |
Informationsfreiheitsgesetz
Am 1.1.2006 ist das Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (Informationsfreiheitsgesetz – IFG) in Kraft getreten (dazu eingehend Kugelmann, a.a.O., und Schmitz/Jastrow NVwZ 2005, 987). Dieses hat ein „formales“ subjektivöffentliches Jedermannrecht auf Zugang zu Bundesinformationen eingeführt, ohne dass jeweils tatsächliche Rechte des Einzelnen dahinter stehen müssen.
Entsprechende Regelungen gibt es teilweise auch in einigen Bundesländern – in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen und Sachsen existieren keine Regelungen – und zwar in:
- Berliner Informationsfreiheitsgesetz v. 15.10.1999 (GVBl., S. 561),
- Brandenburger Akteneinsichts- und Informationszugangsgesetz (AIG) vom 10.3.1998 (GVBl I, S. 46),
- Bremisches Informationsfreiheitsgesetz v. 24.5.2006 (Brem.GBl, S. 263),
- Hamburgisches Informationsfreiheitsgesetz (HmbIFG) v. 17.2.2009 (HmbGVBl. 2009, S. 29),
- Informationsfreiheitsgesetz – IFG Mecklenburg-Vorpommern 10.7.2006 (GVOBl. M-V 2006, S. 556),
- Informationsfreiheitsgesetz Nordrhein-Westfalen 27.11.2001 (GV.NRW., S. 806),
- Landesinformationsfreiheitsgesetz Rheinland-Pfalz (LIFG) v. 26.11.2008 (GVBl 2008, 296),
- Informationszugangsgesetz Sachsen-Anhalt 19.6.2008 (GVBl. Sachsen-Anhalt, S. 242),
- Saarländisches Informationsfreiheitsgesetz v. 15.9.2006 (Amtsbl. des Saarlandes, S. 1624),
- Informationsfreiheitsgesetz für das Land Schleswig-Holstein 9.2.2000 (GVOBl. Schl.-H., S. 166; zu Schleswig-Holstein Teschner SchlHA 2002, 221),
- Thüringer Informationsfreiheitsgesetz (ThürIF) v. 20.12.2007 (GVBl 2007, S. 256).
Das IFG – und die weitgehend gleichlautenden Landesgesetze – gewähren in § 1 IFG einen Anspruch auf Informationszugang. Dieser Anspruch auf Informationsfreiheit richtet sich aber nur gegen „Behörden“. Dabei entspricht der Behördenbegriff dem des § 1 Abs. 4 VwVfG (Schmitz/Jastrow NVwZ 2005, 987). Gerichte sind nur einbezogen, soweit dort öffentlich-rechtliche Verwaltungsaufgaben wahrgenommen werden (so auch Teschner SchlHA 2002, 221 für das schleswig-holsteinische IFG). Das bedeutet, dass das IFG bzw. die entsprechenden länderrechtlichen Regelungen auf die AE des Verteidigers nach § 147 StPO keinen Einfluss haben. Die abschließenden Regelungen der StPO gehen vor (vgl. § 1 Abs. 3 IFG). Deshalb kann z.B., wenn Polizeibeamte als Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft tätig geworden sind, nicht über das IFG ein Anspruch auf Einsicht in Einsatzunterlagen durchgesetzt werden (VG Düsseldorf, Urt. v. 20.3.2009 – 26 K 118/08).
Geltung für das gesamte Strafverfahren
§ 147 gilt für das gesamte Strafverfahren (zum AER des Verteidigers während laufender HV Burhoff, HV, Rn 387 ff. m.w.N.; s.a. OLG Brandenburg NJW 1996, 67; zur Aussetzung der HV, wenn die Akten unvollständig waren LG Hamburg StV 2014, 406; LG Hannover StV 2013, 79) oder rechtswidrig Aktenteile von der StA zurückgehalten worden sind (LG Berlin StV 2014, 403) und über § 46 Abs. 1 OWiG auch für das OWi-Verfahren (wegen der Besonderheiten, auch zur AE in die Bedienungsanleitung eines Messgerätes und sonstige (Mess)Unterlagen: zur AE im (straßenverkehrsrechtlichen) Bußgeldverfahren eingehend Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 144 ff., vor allem Rn 198 ff. zur AE in die Bedienungsanleitung und Messunterlagen usw.).
Hinweise für den Verteidiger
Für den Akteneinsichtsantrag gilt:
Die Vorlage einer (schriftlichen) Vollmacht ist zur AE nicht erforderlich. Es genügt die Anzeige des Rechtsanwalts, dass er bevollmächtigt ist (BVerfG, Beschl. v. 18.2.2022 – 1 BvR 305/21, NJW 2022, 1441; VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 28.1.2021 – VGH B 71/20, zfs 2021, 173 m. Anm. Burhoff StRR 3/2021, 27; BGHSt 36, 259, 260; BGH StraFo 2010, 339; KG, Beschl. v. 10.4.2007 – 2 Ss 58/07; Beschl. v. 17.10.2011 – 2 Ss 68/11; OLG Brandenburg VRS 117, 305; Beschl. v. 20.3.2023 – 1 ORBs 136/23 [Zustellung]; OLG Jena VRS 108, 276; OLG Koblenz VRS 94, 219; OLG Köln StRR 2011, 479; OLG München StV 2008, 127; LG Bremen StV 1982, 505; LG Chemnitz StraFo 2009, 207; LG Cottbus StraFo 2002, 233; LG Dortmund AnwBl 1977, 118; LG Ellwangen NStZ 2003, 331; LG Oldenburg StV 1990, 59; Meyer-Goßner/Schmitt, vor § 137 Rn 9 und § 147 Rn 9; KK/Willnow, § 147 Rn 3; Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 154; auch BVerfG NJW 2012, 141 m. Anm. Burhoff StRR 2011, 426). Etwas anderes gilt für das Stadium der Anbahnung des Verfahrens. Allerdings sollte der Verteidiger sich immer überlegen, ob es sich im Interesse des Mandanten lohnt, in dieser Frage „Streit“ mit den Ermittlungsbehörden anzufangen. Andererseits muss er die sich aus der Vorlage einer schriftlichen Vollmacht ggf. für den Mandanten ergebenden Nachteile, wie z.B. die Zustellungsbevollmächtigung, bedenken. |
Der Verteidiger darf ohne AE keine Einlassung des Beschuldigten oder eine Stellungnahme abgeben (s.a. Bosbach u.a., Rn 298; R. Hamm StV 1982, 494; FA Strafrecht-Bockemühl, 2. Teil Kap. 1 Rn 62).
Geschieht dies doch, handelt es sich um einen groben (Verteidiger-)Fehler (Burhoff StV 1997, 432 f.). |
Eine Ausnahme von dieser Regel kann allenfalls dann gelten, wenn der Beschuldigte ein Geständnis ablegen möchte oder sich seine Unschuld, z.B. durch ein Alibi oder bei Notwehr, leicht beweisen lässt bzw. ein Beweismittelverlust droht (s.a. Bosbach u.a., Rn 95 f.). Nach Bosbach u.a. (a.a.O.) soll eine Ausnahme auch dann gelten, wenn der Mandant bereits Angaben gemacht hat. Im Zweifel wird der Verteidiger aber in einem solchen Fall ebenfalls nicht auf die AE verzichten können. Denn nur durch AE kann er klären, ob diese Angaben überhaupt verwertbar sind (§ 136a!).
Den Anklagten/Verteidiger treffen prozessuale Obliegenheiten, sich um die Erlangung der benötigten Informationen durch Gewährung von AE innerhalb einer angemessenen Frist zu bemühen (BGH NJW 2014, 2456 [Ls.] m. Anm. Krawczyk StRR 2014, 219). Anderenfalls kann später nicht unzureichende Gewährung von AE bzw. der Besichtigung von Beweisstücken geltend gemacht werden, denn das erfordert, dass die Verteidigung durchgehend im Rahmen der Zumutbarkeit von den ihr eröffneten Möglichkeiten zur AE bzw. zur Besichtigung von Beweismitteln Gebrauch macht (BGH, a.a.O.).
Der Verteidiger muss auch darauf drängen/achten, wenigstens einmal die Originalakten zu erhalten, um so prüfen zu können, ob in den ihm ggf. zur Verfügung gestellten Doppelakten auch alles aus den Originalakten fotokopiert worden ist (StrafPrax-Gillmeister, § 2 Rn 149). Wichtig für die Verteidigung können z.B. auch Randnotizen oder sonstige Kennzeichnungen (z.B. eingefaltete Seiten oder eingelegte Pappstreifen) der StA oder des Gerichts sein. |
Antragsmuster
Ein Auszug aus dem Buch Detlef Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 10. Auflage 2024, S. 85-91.
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