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Besonderheiten im Jugendgerichtsgesetz (JGG): Rechtsmittelverzicht/-rücknahme

Das Wichtigste in Kürze:

1.     Im Jugendstrafverfahren ist ein Rechtsmittelverzicht immer unzulässig, wenn er auch im allgemeinen Strafverfahren unzulässig ist.

2.     Das Anfechtungsrecht der Erziehungsberechtigten (§ 67 Abs. 2 JGG) bleibt erhalten, auch wenn der Jugendliche selbst wirksam auf Rechtsmittel verzichtet hatte.

3.     Die Rechtsmittelrücknahme eines jugendlichen oder heranwachsenden Angeklagten beurteilt sich gem. § 2 Abs. 2 JGG nach allgemeinem Strafverfahrensrecht.

4.     Gem. § 55 Abs. 3 JGG kann der Erziehungsberechtigte oder gesetzliche Vertreter das von ihm eingelegte Rechtsmittel nur mit Zustimmung des Angeklagten zurücknehmen.

 

1. Im Jugendstrafverfahren ist ein Rechtsmittelverzicht immer unzulässig, wenn er auch im allgemeinen Strafverfahren unzulässig ist (dazu allgemein Burhoff, HV, Rn 2694 ff.). Darüber hinaus ist insbesondere von Unzulässigkeit/Zulässigkeit auszugehen in folgenden Beispielsfällen:

 

Unzulässigkeit,

  • bei unverteidigtem Angeklagten in einem Fall der notwendigen Verteidigung (OLG Celle, Beschl. v. 30.5.2012 – 32 Ss 52/12, StV 2013, 12 [Ls.] m. Anm. Burhoff StRR 2012, 424; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.9.1998 – 5 Ss 303/98 – 47/98 IV, StV 1998, 647; OLG Hamm, Beschl. v. 26.3.2009 – 5 Ws 91/09, StV 2010, 67; OLG Köln, Beschl. v. 25.6.2002 – Ss 266/02, StV 2003, 65; OLG Naumburg, Beschl. v. 19.9.2011 – 2 Ws 245/11, StV 2013, 12; BeckOK JGG-Noak, § 68 Rn 27; s.a. Burhoff, HV, Rn 2694 ff.),
  • wenn dem Verurteilten aufgrund seiner geistigen Entwicklung die notwendige Einsichtsfähigkeit in die Bedeutung und Tragweite der Prozesshandlung fehlt (OLG Düsseldorf JZ 1985, 960; Ostendorf, § 55 Rn 3; Eisenberg/Kölbel, § 55 Rn 15),
  • wenn ein Jugendlicher sich im Verzichtszeitpunkt in einer Ausnahme- oder Überforderungssituation befindet oder ihn der Jugendrichter in dahingehend beeinflusst, dass er meint, eine günstigere Rechtsfolge sei ohnehin nicht zu erlangen (Eisenberg/Kölbel, § 55 Rn 15).

 

Zulässigkeit,

  • wenn sowohl der Angeklagte als auch sein anwesender Vater auf Rechtsmittel verzichtet haben, sofern keine besonderen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Verzicht nicht gewollt oder die Tragweite des Verzichts nicht erfasst wurde (OLG Hamm, Beschl. v. 3.4.2008 – 2 Ws 97/08),
  • bei einem ausländischen Heranwachsenden ohne hinreichende Deutschkenntnisse, wenn kein Fall der notwendigen Verteidigung vorlag, aber jedenfalls ein Dolmetscher übersetzt hat (str.; OLG Brandenburg, Beschl. v. 4.6.2004 – 1 Ws 50/04; OLG Hamburg, Beschl. v. 17.5.2005 – I – 26/05 – 1 Ss 61/05, StV 2006, 175 m. Anm. Keller/Gericke).

 

2. Das Anfechtungsrecht der Erziehungsberechtigten (§ 67 JGG), welches aber nur zugunsten des Angeklagten eingelegt werden darf (OLG Celle, Beschl. v. 18.10.1963 – 3 Ws 637/63, NJW 1964, 417), bleibt erhalten, auch wenn der Jugendliche selbst wirksam auf Rechtsmittel verzichtet hatte. Der abwesende Erziehungsberechtigte soll an die Erklärung des anwesenden Berechtigten gebunden sein. Das soll auch für einen Rechtsmittelverzicht im Anschluss an die Urteilsverkündung gelten (Brunner/Dölling, § 67 Rn 10; zw. Eisenberg/Kölbel, § 67 Rn 43).

Legt ein Erziehungsberechtigter oder gesetzlicher Vertreter des Angeklagten Rechtsmittel ein und ist über das Rechtsmittel bei Eintritt der Volljährigkeit noch nicht entschieden, so kann der Angeklagte das Rechtsmittel auch dann weiter betreiben, wenn er vorher selbst auf Rechtsmittel verzichtet hatte (BGH, Urt. v. 20.3.1957 – 2 StR 583/56, BGHSt 10, 174).

 

3. Die Rechtsmittelrücknahme eines jugendlichen oder heranwachsenden Angeklagten beurteilt sich gem. § 2 Abs. 2 JGG nach allgemeinem Strafverfahrensrecht, sofern ihm nicht im Hinblick auf seine geistige Entwicklung die genügende Einsichtsfähigkeit fehlt. Die Einsichtsfähigkeit in die Tragweite eines Rechtsmittelverzichts soll bei einem 19-Jährigen auch dann gegeben sein, wenn das Tatgericht eine „schizoide Persönlichkeitsstörung“ mit „paranoiden Tendenzen“ im Sinne einer schweren anderen seelischen Abartigkeit angenommen hat und daher gemäß §§ 20, 21 StGB von einer verminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten ausgegangen ist (BGH, Beschl. v. 23.7.1997 – 3 StR 520/96, NStZ-RR 1998, 60).

Nach Ansicht des BGH soll die alleinige Rechtsmittelrücknahme eines sich in U-Haft befindlichen Jugendlichen ohne Wissen bzw. Einverständnis der Eltern und des Verteidigers auch dann wirksam sein, wenn zwar die dem Verteidiger erteilte Vollmacht des Angeklagten von dessen Eltern als gesetzliche Vertreter unterschrieben worden war, das Rechtsmittel jedoch ausschließlich namens und in Vollmacht des Angeklagten eingelegt wurde (BGH, Beschl. v. 13.1.2005 – 1 StR 563/04, StraFo 2005, 161 mit abl. Anm. Eisenberg/Müller Jura 2006, 54). Diese Ansicht ist jedoch abzulehnen. Zwar hat grds. der Wille auch des minderjährigen Angeklagten Vorrang. Allerdings ist das Jugendstrafverfahren durch eine besondere Schutz- und Fürsorgepflicht gegenüber dem Jugendlichen gekennzeichnet. Dies gilt insbesondere für den Bereich der U-Haft, da gem. § 72 Abs. 1 JGG die besonderen Belastungen des Vollzuges für Jugendliche zu berücksichtigen sind (→ JGG-Besonderheiten, Untersuchungshaft, Teil A Rdn 933 ff.). Insofern kann die Rechtsmittelrücknahme unwirksam sein, wenn er aus der U-Haft heraus abgegeben und nicht seitens des Gerichts überprüft wurde, ob der Prozesserklärung unzutreffende tatsächliche oder rechtliche Annahmen zugrunde liegen (vorliegend ging der Jugendliche fälschlicherweise davon aus, dass sich die Strafe noch erhöhen könne; Eisenberg/Kölbel, § 55 Rn 9). Jedenfalls sollte der Jugendliche (seitens der Vollzugsanstalt oder des Gerichts) darauf hingewiesen werden, dass er sich mit seinem Verteidiger oder gesetzlichen Vertreter beraten und ggf. seine Rücknahmeerklärung widerrufen könne (Eisenberg/Müller, Jura 2006, 56).

Zwar kann der Verteidiger – um die o.g. Situation zu vermeiden – den Eltern raten, in eigenem Namen Rechtsmittel einzulegen. Allerdings bedeutet dies bei dem Rechtsmittel „Revision“ die Notwendigkeit der Beauftragung eines eigenen Anwalts, was die Kosten nicht unerheblich erhöht. Sinnvoller ist es daher, den Jugendlichen umfassend über das Rechtsmittelverfahren aufzuklären und ihm zu verdeutlichen, dass eine Rücknahme des Rechtsmittels nur nach Rücksprache erfolgen sollte.

 

4. Gem. § 55 Abs. 3 JGG kann der Erziehungsberechtigte oder gesetzliche Vertreter das von ihm eingelegte Rechtsmittel nur mit Zustimmung des Angeklagten zurücknehmen. Dies gilt auch für eine nachträgliche Rechtsmittelbeschränkung. Die Zustimmung des Angeklagten ist auch dann erforderlich, wenn er seinerseits vorher auf Rechtsmittel verzichtet hat, weil er das im Vertrauen auf von anderen betriebenen Rechtsmitteln getan haben kann (BGH, Urt. v. 20.3.1957 – 2 StR 583/56, BGHSt 10, 174; Eisenberg/Kölbel, § 55 Rn 10; Ostendorf, § 55 Rn 4).

Der Erziehungsberechtigte oder gesetzliche Vertreter kann ein vom Angeklagten oder seinem Verteidiger eingelegtes Rechtsmittel nur mit Einwilligung des Angeklagten zurücknehmen.

 


 

Ein Auszug aus dem Buch Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 3. Auflage, 2024, Teil A Rdn. 847-856

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