1.a) Die §§ 172–177 StPO enthalten die Regelungen für ein verselbstständigtes Zwischenverfahren im EV (SK-Wohlers, § 172 Rn 1), das dazu dient, dem (Straf-) Antragsteller die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung der von der StA gem. § 170 Abs. 2 getroffenen Einstellungsentscheidung zu eröffnen (weitere bei Einzelh. Meyer-Goßner/Schmitt, §§ 172 ff., bei KK/Moldenhauer, §§ 172 ff.; LR-Graalmann-Scheerer, §§ 172 ff.; Krumm StraFo 2011, 205). Vorgesehen ist ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung; in der Praxis wird anschaulicher vom „Klageerzwingungsverfahren“ gesprochen.
Die §§ 172 ff. enthalten eine abschließende Regelung. Soweit danach das Klageerzwingungsverfahren nicht eröffnet ist, kann der Verletzte nach h.M. nicht einen Antrag nach §§ 23 ff. EGGVG stellen (LR-Graalmann-Scheerer, § 172 Rn 5; Burhoff, EV, Rn 622 ff.). Im Bußgeldverfahren ist ein Klageerzwingungsverfahren ausgeschlossen (OVG Saarland NVwZ-RR 2018, 510). |
1.b) In der Praxis scheitern die Mehrheit der bei den OLG anhängigen Klageerzwingungsverfahren i.d.R. aus formellen Gründen (dazu LR-Graalmann-Scheerer, § 172 Rn 3), weil meist der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 172 Abs. 3 nicht den an ihn von der Rspr. der OLG gestellten formellen Anforderungen gerecht wird. Die inhaltlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen sollen daher dargestellt werden bei (→ Klageerzwingungsverfahren, Antrag, inhaltliche Anforderungen, Teil B Rdn 538, die Ausführungen zu den allgemeinen Fragen betreffend den Antrag befinden sich bei → Klageerzwingungsverfahren, Antrag, Allgemeines, Teil B Rdn 521). Die Ausführungen zum Antragsteller sind bei → Klageerzwingungsverfahren, Antragsteller, Teil B Rdn 559, aufgenommen. Der Begriff des Verletzten wird näher erläutert bei → Klageerzwingungsverfahren, Begriff des Verletzten, Teil B Rdn 568). Zudem werden einige für die Praxis wichtige Verfahrensfragen dargestellt bei → Klageerzwingungsverfahren, Verfahren, Teil B Rdn 620). Die allgemeine Zulässigkeit des Verfahrens behandelt schließlich → Klageerzwingungsverfahren, Zulässigkeit, Teil B Rdn 640 (zu den gebührenrechtlichen Fragen → Klageerzwingungsverfahren, Gebühren, Teil D Rdn 257).
2.a) Der Sache nach handelt es sich beim Klageerzwingungsverfahren um einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 172 Abs. 2 S. 1) an das OLG (§ 172 Abs. 4 S. 1) mit dem Verfahrensziel, dass die Erhebung der öffentlichen Klage angeordnet wird (§ 175 S. 1). Das Anklagemonopol der StA wird also nicht durchbrochen, da der Antragsteller nicht selbst Anklage erheben, sondern mit seinem Klageerzwingungsverfahren nur erreichen kann, dass die StA zur Anklageerhebung gezwungen wird (BVerfG NJW 2002, 2859). Allerdings besteht nach dem GG grds. kein Anspruch auf Strafverfolgung (u.a. BVerfG NJW 2015, 150 [Gorch Fock]; NStZ-RR 2015, 117 [Tennessee Eisenberg]), aus der staatlichen Pflicht zum Schutz höchstpersönlicher Rechtsgüter folgt jedoch in bestimmten Fallgruppen ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung (wegen der Einzelh. BVerfG, a.a.O.; NJW 2015, 150 [Gorch Fock]; 2015, 3550 [Kundus]; NStZ-RR 2015, 117 [Tennessee Eisenberg]; 2015, 347 [Münchner Lokalderby], jew. m.w.N.; Beschl. v. 15.1.2020 – 2 BvR 1763/16, NJW 2020, 675; Beschl. v. 25.10.2019 – 2 BvR 498/15, NStZ-RR 2020, 51; Beschl. v. 22. 1. 2021 – 2 BvR 757/17, NStZ-RR 2021, 148 [Ls.]; Beschl. v. 21.12.2022 – 2 BvR 378/20 [Oury Jalloh], NJW 2023, 1277; s.a. Walter/Retczak NStZ 2023, 513; aber a. OLG Bremen StV 2018, 268 zum Prüfungsmaßstab im Klageerzwingungsverfahren; eingehend Würdinger HRRS 2016, 29 ff.). Letztlich dient das Klageerzwingungsverfahren der Sicherung des Legalitätsprinzips (zum Zweck des Klageerzwingungsverfahrens Krumm StraFo 2011, 205; Esser/Lubrich StV 2017, 418, 422; Burhoff, EV, Rn 2858).
b)aa) Nach der Rspr. des BVerfG kann ein Anspruch auf Strafverfolgung ausnahmsweise ggf. aber bei erheblichen Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit der Person in Betracht kommen (BVerfG NJW 2015, 150; Beschl. v. 19.5.2015 – 2 BvR 987/11, NJW 2015, 3500; NStZ-RR 2015, 117 [Ls.]; 2015, 347; Beschl. v. 25.10.2019 – 2 BvR 498/15; NStZ-RR 2020, 51; Beschl. v. 23.1.2020 – 2 BvR 859/17; s.a. noch BVerfG, Beschl. v. 23.3.2020 – 2 BvR 1615/16, NJW 2020, 1877; Beschl. v. 21.12.2022 – 2 BvR 378/20 [Oury Jalloh], NJW 2023, 1277). In solchen Fällen stellt die wirksame Verfolgung von Gewaltverbrechen und vergleichbaren Straftaten eine Konkretisierung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 u. S. 2 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG dar (BVerfGK 17, 1, 5; NStZ-RR 2015, 117 [Ls.]) und ist damit ein wesentlicher Auftrag des rechtsstaatlichen Gemeinwesens (BVerfG, Beschl. v. 15.1.2020 – 2 BvR 1763/16, NJW 2020, 675 m.w.N.).
bb) Das BVerfG (BVerfG, Beschl. v. 15.1.2020 – 2 BvR 1763/16, NJW 2020, 675 m.w.N. und Beschl. v. 23.1.2020 – 2 BvR 859/17, medstra 2020, 296; Beschl. v. 21.12.2022 – 2 BvR 378/20 [Oury Jalloh], NJW 2023, 1277) hat zum Bestehen des Rechts auf effektive Strafverfolgung unterschiedliche Fallgruppen entwickelt und den Inhalt des damit verbundenen Anspruchs näher konturiert (wegen Einzelh. BVerfG, a.a.O.), und zwar wie folgt:
- Ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung besteht dort, wo der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter – insbesondere Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person – abzuwehren, und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen kann. In solchen Fällen kann, gestützt auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 u. 2 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG, ein Tätigwerden des Staates und seiner Organe auch mit den Mitteln des Strafrechts verlangt werden (BVerfG, Beschl. v. 23.1.2020 – 2 BvR 859/17, medstra 2020, 296, m.w.N.).
- Ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung kommt zudem dort in Betracht, wo der Vorwurf im Raum steht, dass Amtsträger bei Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben Straftaten begangen Ein Verzicht auf eine effektive Verfolgung solcher Taten kann zu einer Erschütterung des Vertrauens in die Integrität staatlichen Handelns führen. Daher muss bereits der Anschein vermieden werden, dass gegen Amtswalter des Staates weniger effektiv ermittelt wird oder hierbei erhöhte Anforderungen an eine Anklageerhebung gestellt werden (BVerfG NJW 2015, 150 [Gorch Fock]; Beschl. v. 11.2. 2022 – 2 BvR 723/20, NStZ-RR 2022, 141; Beschl. v. 21.12.2022 – 2 BvR 378/20 [Oury Jalloh], NJW 2023, 1277; OLG München, Beschl. v. 9.5.2022 – 1 Ws 981722 KL – 1 Ws 99/22 KL).
- Eine Verletzung des Anspruchs auf effektive Strafverfolgung kommt nicht in Betracht, wenn die zuvor durchgeführten Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden und die von diesen getroffenen Entscheidungen den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das angerufene Gericht den Antrag als unzulässig oder unbegründet zurückgewiesen hat, solange wenigstens eine implizite Befassung mit den angegriffenen Entscheidungen der Strafverfolgungsbehörden erkennbar wird (BVerfG, Beschl. v. 19.5.2015 – 2 BvR 987/11, NJW 2015, 3500; Beschl. v. 20.12.2023 – 2 BvR 559/22).
- Der Anspruch auf effektive Strafverfolgung ist schließlich in Konstellationen von Bedeutung, in denen sich die Opfer möglicher Straftaten in einem „besonderen Gewaltverhältnis“ zum Staat befinden und diesem eine spezifische Fürsorge- und Obhutspflicht In dergestalt strukturell asymmetrischen Rechtsverhältnissen, die den Verletzten nur eingeschränkte Möglichkeiten lassen, sich gegen strafrechtlich relevante Übergriffe in ihre Rechtsgüter aus Art. 2 Abs. 2 GG zu wehren (etwa im Maßregel- oder Strafvollzug), obliegt den Strafverfolgungsbehörden eine besondere Sorgfaltspflicht bei der Durchführung von Ermittlungen und der strafrechtlichen Würdigung der gefundenen Ergebnisse (BVerfG NStZ-RR 2015, 117 [Ls.]).
In diesen Fällen bezieht sich die verfassungsrechtliche Verpflichtung zu effektiver Strafverfolgung auf das Tätigwerden aller Strafverfolgungsorgane. Es muss gewährleistet werden, dass Straftäter für von ihnen verschuldete Verletzungen dieser Rechtsgüter tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden Das bedeutet aber nicht, dass der in Rede stehenden Verpflichtung stets nur durch Erhebung einer Anklage genügt werden kann. Vielfach kann ggf. es ausreichend sein, wenn die StA und – nach ihrer Weisung – die Polizei die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel personeller und sachlicher Art sowie ihre Befugnisse nach Maßgabe eines angemessenen Ressourceneinsatzes auch tatsächlich nutzen, um den Sachverhalt aufzuklären und Beweismittel zu sichern (st. Rspr des BVerfG, zuletzt Beschl. v. 15.1.2020 – 2 BvR 1763/16, NJW 2020, 675 m.w.N.). |
3. Das Klageerzwingungsverfahren zählt zum innerstaatlichen Rechtsweg, ist also durchzuführen, bevor eine Verfassungsbeschwerde erhoben wird (BVerfG, Beschl. v. 22.5.2017 – 2 BvR 1454/16).
Ein Klageerzwingungsverfahren kann erforderliches Vorverfahren für ein weiteres Klageerzwingungsverfahren sein. Dies ist etwa der Fall, wenn gegen einen StA ein Verfahren wegen Rechtsbeugung nach § 172 betrieben werden soll. Dieses Verfahren setzt voraus, dass der Antragsteller zuvor sämtliche Möglichkeiten ausschöpfen muss, die ihm nach der StPO zur Durchsetzung einer Strafverfolgung im Ursprungsverfahren zustehen. Dazu gehört auch, dass der Antragsteller das Klageerzwingungsverfahren im (Ausgangs-) Verfahren der StA bis hin zum Antrag auf gerichtliche Entscheidung betreiben muss, wenn ihm die aus Rechtsgründen nicht verwehrt ist (OLG Dresden NStZ-RR 1998, 338).
Der Klageerzwingungsantrag kann, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel vorliegen, wiederholt werden (OLG Köln NStZ 2003, 682). |
4.a) Das Klageerzwingungsverfahren ist in den §§ 172 ff. dreistufig aufgebaut. Nur der Antragsteller, der zugleich Verletzter ist und der schon den (Straf-) Antrag i.S.d. § 171 i.V.m. § 158 gestellt hat, kann das Verfahren betreiben. Dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 172 Abs. 3 muss eine fristgebundene Beschwerde an den „vorgesetzten Beamten der StA“ (GStA) vorausgehen (§ 172 Abs. 1). Sie ist eine Vorschaltbeschwerde auf dem Weg zum Gericht.
Der Anzeigende kann ungeachtet eines Unterbleibens der Mitteilung nach § 171 S. 1 die Einstellungsbeschwerde an die GStA erheben und im Anschluss ggf. das Klageerzwingungsverfahren durchführen (BVerfG, Beschl. v. 22.5.2017 – 2 BvR 1454/16, BGH, Beschl. v. 21.2.2014 – 5 AR (VS) 29/13). Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass die erforderliche Entscheidung über das Strafverfolgungsverlangen auch stillschweigend – durch Einstellung oder Nichtbetreiben eines EV – ohne förmliche Bescheidung erfolgen kann. |
b) Die unterschiedlichen Verfahrensschritte veranschaulicht folgendes
Schaubild: Klageerzwingungsverfahren
1. Stellung eines (Straf-)Antrags durch den Verletzten |
Strafanzeige (§ 158), Strafantrag (§ 77 StGB), Strafverlangen (§ 77e StGB) |
↓ |
Antragsbescheidung durch die StA (§ 171): Nichterhebung der öffentlichen Klage, Einstellung des Verfahrens |
↓ |
2. Befristete Beschwerde an den Vorgesetzten Beamten der StA (§ 172 Abs. 1 S. 1), |
↓ |
Ablehnungsbescheid durch den Vorgesetzten Beamten der StA (GStA)t |
↓ |
3. Befristeter Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 172 Abs. 2 S. 1) |
Ein Auszug aus dem Buch Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 3. Auflage, 2024, Teil A Rdn. 511-520
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