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Absehen vom Fahrverbot wegen rechtsstaatswidriger Verfahrens- verzögerung

1. Ob ein Absehen von einem Fahrverbot wegen langer Verfahrensdauer zu erwägen ist, ist eine Frage des Einzelfalls und kommt regelmäßig erst in Betracht, wenn seit der zu ahnenden Ordnungswidrigkeit deutlich mehr als zwei Jahre vergangen sind. Hierbei ist grundsätzlich auf den Zeitraum zwischen Tat und letzter tatrichterlicher Entscheidung abzustellen.

2. Bei einer rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung kommt in Betracht, dass ein ordnungsgemäß verhängtes Fahrverbot teilweise oder vollständig als vollstreckt gilt. Ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, ist eine Frage des Einzelfalls. Das Gericht muss in einem solchen Fall erkennen lassen, dass es diesen Gesichtspunkt erwogen hat. (Leitsätze des Gerichts)

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 22.5.20251 ORbs 3 SsBs 56/23

I. Sachverhalt

Verzögerung beim OLG

Das AG verurteilte den Betroffenen am 7.8.2023 wegen einer am 14.5.2022 begangenen vorsätzlichen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften zu einer Geldbuße und ordnete ein einmonatiges Fahrverbot an. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen dieses Urteil wurde durch Beschluss des Senats vom 10.2.2025 als unbegründet verworfen. Gegen diesen Beschluss hat der Betroffene Anhörungsrüge erhoben. Zur Begründung führt er aus, dass so weit im angefochtenen Beschluss des Senats eine rechtsstaatswidrige Verzögerung des Verfahrens nicht geprüft worden sei. Das OLG hat das Verfahren in die Lage vor Erlass des Beschlusses vom 10.2.2025 versetzt, die Rechtsbeschwerde als unbegründet verworfen und von dem angeordneten Fahrverbot eine Woche als vollstreckt erklärt.

II. Entscheidung

Erforderlichkeit des Fahrverbots bei erheblichem Zeitablauf

Der konkrete Zeitablauf bis zur Entscheidung des Senats gebiete es nicht, von Verhängung des Fahrverbots abzusehen. Der Senat führt hierzu die bekannten Grundsätze näher aus. Es sei grundsätzlich auf den Zeitraum zwischen Tat und letzter tatrichterlicher Entscheidung abzustellen (statt vieler OLG Hamm DAR 2011, 409 = VRR 2011, 232 [Deutscher]). Der zwischen der gegenständlichen Tat und der amtsgerichtlichen Entscheidung verstrichene Zeitraum von einem Jahr und drei Monaten gebiete hier daher nicht, von der Verhängung des Fahrverbots abzusehen. Von der Frage, ob ein Fahrverbot im Hinblick auf den Sanktionszweck wegen Zeitablaufs wegfällt oder verkürzt werden darf, also ob oder wie die Rechtsfolge anzuordnen ist, zu trennen sei die Auswirkung der langen Verfahrensdauer auf die bereits konkret feststehende Rechtsfolge, also ob eine Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung zu erfolgen hat.

Überraschungsentscheidung

Im vorliegenden Fall sei im Hinblick auf die konkreten Umstände von einem Gehörsverstoß unter dem Aspekt einer Überraschungsentscheidung auszugehen. Art. 103 Abs. 1 GG gewährleiste das Recht eines Bürgers, sich im gerichtlichen Verfahren vor Erlass einer Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zum Streitstoff äußern zu können. Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Somit müssten im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist. Hingegen gewähre Art. 103 Abs. 1 GG keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen. Auch ergebe sich aus diesem Verfahrensgrundrecht keine umfassenden Informationspflichten des Gerichts. Insbesondere müsse das Rechtsbeschwerdegericht vor der Entscheidung grundsätzlich nicht auf seine Rechtsauffassung hinweisen. Ebenso wenig sei dem Verbot von Überraschungsentscheidungen auch keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Richters zu entnehmen. Das Gericht müsse lediglich auf solche Rechtsauffassungen aufmerksam machen, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter – selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen – nach bisherigem Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte. Nach Maßgabe des Vorstehenden stelle die Entscheidung des Senats im Hinblick auf den Vortrag des Betroffenen keine Überraschungsentscheidung in diesem Sinne dar.

Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung

Dies gelte jedoch nicht hinsichtlich des von Amts wegen zu berücksichtigenden Aspekts der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung. Eine solche komme in Fallgestaltungen wie der vorliegenden, wenn eine erhebliche Verfahrensverzögerung erst im Anschluss an die das Fahrverbot anordnende tatrichterliche Entscheidung bis zu einer Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts eingetreten ist, in Betracht. Dem Erfolg der Anhörungsrüge stehe insoweit auch nicht entgegen, dass eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes grundsätzlich nur auf eine entsprechende Verfahrensrüge hin zu überprüfen ist. Denn für Verzögerungen nach Urteilserlass könne ein Eingreifen des Rechtsmittelgerichts von Amts wegen geboten sein, wenn der Betroffene diese nicht frist- und formgerecht rügen kann, weil die Verzögerung erst nach Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist eingetreten ist. Dem stehe auch nicht entgegen, dass der Betroffene – ungeachtet der abgelaufenen Rechtsbeschwerdebegründungsfrist – auf die Verzögerung durchaus noch hätte hinweisen können. Dass ein solcher Vortrag nicht innerhalb der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist hätte erfolgen können, erklärt sich bei Fallgestaltungen wie der vorliegenden von selbst. Die vorstehenden Grundsätze zur Überraschungsentscheidung würden entsprechend gelten, wenn davon auszugehen ist, dass das Gericht von Amts wegen zu berücksichtigende Gesichtspunkte nicht erwogen hat. Bei der Frage der rechtsstaatswidrigen Verzögerung handele es sich im Hinblick auf die Vollstreckung der getroffenen Entscheidung um einen wesentlichen Gesichtspunkt i.S.d. Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung ist dieser Aspekt in Fallgestaltungen wie der vorliegenden von Amts wegen zu prüfen.

Im konkreten Fall

Auch wenn grundsätzlich davon auszugehen sei, dass Gerichte von Amts wegen zu beachtender Umstände bei der Entscheidungsfindung berücksichtigen, ergebe sich aus dem Beschluss des Senats vom 10.2.20225 nicht, ob der Aspekt einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung erwogen wurde. Die im Strafverfahren entwickelten Grundsätze für erhebliche rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen (sog. Vollstreckungslösung) fänden auch im Bußgeldverfahren Anwendung, wobei etwa ein Fahrverbot ganz oder teilweise als vollstreckt gelten kann (OLG Hamm a.a.O.). Die Dauer des Verfahrens, die dabei noch als angemessen anzusehen ist, bestimme sich nach den Umständen Einzelfalles. Maßgebliche Kriterien seien der durch die Verfahrensverzögerung verursachte Zeitraum der Verfahrensverlängerung, die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, Umfang und Schwierigkeit der Sache, sowie die mit der Dauer des schwebenden Verfahrens für den Betroffenen verbundenen Belastungen. Verfahrensverzögerungen, die der Betroffene selbst, sei es auch durch zulässiges Prozessverhalten verursacht hat, würden in aller Regel nicht geeignet sein, die Feststellungen einer seine Rechte verletzenden überlangen Verfahrensdauer zu begründen. Die Strenge des anzuwendenden Maßstabs werde allerdings bei Ordnungswidrigkeiten dadurch gemildert, dass mit der Sanktion lediglich eine nachdrückliche Pflichtenmahnung bezweckt wird, so dass die Eingriffsintensität einer staatlichen Bestrafung nicht erreicht wird. Die Annahme einer überlangen Verfahrensdauer liege nach diesem Maßstab nahe, wenn die Verfahrensdauer ein Vielfaches der normalen Verjährungsfrist erreicht. Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs sei im vorliegenden Fall von einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung auszugehen. Die Akte sei mit der Rechtsbeschwerdebegründung am 30.10.2023 beim OLG eingegangen. Der justizinternen Umständen geschuldete Bearbeitungszeitraum von einem Jahr und zwei Monaten stelle eine Verfahrensverzögerung im vorgenannten Sinne dar. Angesichts dessen halte es der Senat für angemessen, eine Kompensation der eingetretenen Verfahrensverzögerung in der Weise vorzunehmen, dass eine Woche des angeordneten einmonatigen Fahrverbots als vollstreckt gilt. Eine darüberhinausgehende Kompensation habe der Senat angesichts der geringeren Eingriffsintensität des Bußgeldverfahrens für nicht geboten erachtet (OLG Hamm a.a.O.).

III. Bedeutung für die Praxis

Die Nachweise der nahezu zu allen Punkten umfänglich mit Belegen aus der Rechtsprechung versehenen Entscheidung wurden hier weitgehend entfernt (insofern wird Eigenlektüre angeregt).

Anhörungsrüge

1. Der seltene Fall einer Anhörungsrüge im Bußgeldverfahren, noch dazu erfolgreich. Betrachtet man die höchst- und obergerichtlichen Entscheidungen, dann geht die Erfolgsquote von Anhörungsrügen in Straf- und Bußgeldsachen gefühlt gen Null.

„Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung“

2. Die Grundsätze zur Berücksichtigung von rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung des Rechtsbeschwerdegerichts bei der Vollstreckung von Fahrverboten werden allgemein von den OLG und hier auch vom OLG Zweibrücken anerkannt (Nachweise im Beschluss sowie bei Deutscher, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 7. Aufl. 2024, Rn 1491 f.). Gerade dieser Fall zeigt aber, dass dieses Rechtsinstitut bei Fahrverboten nach erheblichem Zeitablauf überflüssig ist (näher Deutscher, a.a.O., Rn 1492). Die Grundsätze des Wegfalls des Fahrverbots mangels Erforderlichkeit nach erheblichem Zeitablauf (Richtwert: zwei Jahre seit der Tat) genügen für die Sachbehandlung solcher Fallgestaltungen unabhängig davon, bei welchem Gericht die Verzögerung eingetreten ist. Zudem wird der Betroffene hier unfair benachteiligt. Weder beim AG noch beim OLG hat er Einfluss auf den zeitlichen Verfahrensablauf. Aus seiner Sicht ist es ohne Belang, bei welchem Gericht „geschlampt“ worden ist. Ein erheblicher Zeitablauf hätte beim AG bei einer Entscheidung im Jahr 2025 vorbehaltlich der übrigen Voraussetzungen zu einem vollständigen Wegfall des Fahrverbots geführt. Hier aber muss er die Vollstreckung weiterer drei Wochen Fahrverbot hinnehmen, obwohl die Tat bereits drei Jahre zurückliegt. Dem Argument, in solchen Fällen sei die Rechtsfolge schon vom AG festgelegt worden, steht entgegen, dass eben diese Entscheidung noch nicht rechtskräftig ist und damit keine Rechtswirkung für die Vollstreckung entfalten kann. Wie man es systemgerecht richtig macht, hat das BayObLG in einem vergleichbaren Fall vorgemacht (zfs 2022, 106 m. abl. Anm. Krenberger = NZV 2022, 298 [zust. Deutscher]). Allerdings ist für die Praxis zu beachten, dass es sich dabei (leider) um eine Einzelfallentscheidung handelt.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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