Die Staatsanwaltschaft muss bei einer Rechtsmitteleinlegung und -begründung das Formerfordernis des § 32b Abs. 3 Satz 2 StPO nur dann beachten, wenn die Verfahrensakte elektronisch geführt wird. (Leitsatz des Verfassers)
I. Sachverhalt
Revision der StA wegen fehlender Mordverurteilung
Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens mit Todesfolge in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs verurteilt (sog. Wormser-Raserfall). Hiergegen richtete sich die Revision der Staatsanwaltschaft, die sich gegen die unterbliebene Verurteilung wegen Mordes und versuchten Mordes wendet. Der BGH hat die Revision als zulässig angesehen, sie dann aber als unbegründet zurückgewiesen.
II. Entscheidung
Rechtsmittel zulässig
Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft sei zulässig erhoben. Insbesondere sei es entgegen der Auffassung der Verteidigung formgerecht eingelegt und begründet worden. Dem Formerfordernis des § 32b Abs. 3 Satz 2 StPO habe die Übermittlung des Rechtsmittels und seiner Begründung nicht genügen müssen. Denn dieses bestehe nur unter der hier nicht gegebenen Voraussetzung, dass die Verfahrensakte elektronisch geführt werde (vgl. BGH, Urt. v. 12.9.2023 – 3 StR 306/22 Rn 87; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2024, § 32b Rn 6; SSW-StPO/Claus, 5. Aufl. 2023, § 32b Rn 8. Gercke/Temming/Zöller/Pollähne, StPO, 7. Aufl. 2022, § 32b Rn 4; Pragal/Rhein StV-Spezial 2023, 132). Dieses Verständnis der Norm folge zwar nicht ohne weiteres aus ihrem Wortlaut, der – anders als § 32b Abs. 3 Satz 1 StPO – die elektronische Aktenführung nicht ausdrücklich erwähne. Es ergebe sich jedoch aus der Auslegung der Vorschrift unter systematischen, historischen und teleologischen Gesichtspunkten.
Systematische und historische Gesichtspunkte
Hierfür spreche zunächst, dass die Verpflichtung zur elektronischen Übermittlung der Revision und ihrer Begründung (sowie der weiteren aufgezählten Dokumente) im selben Absatz wie die ausdrücklich unter dem Vorbehalt der elektronischen Aktenführung stehende Sollverpflichtung zur elektronischen Übermittlung aller anderen Dokumente (§ 32b Abs. 3 Satz 1 StPO) geregelt sei. Dieser enge Zusammenhang deute darauf hin, dass das Gesetz den ersten Halbsatz des Satzes 1 als eine für den gesamten Absatz geltende Voraussetzung verstehe; anderenfalls wäre eine Klarstellung dahingehend zu erwarten, dass sich die Vorschriften der Sätze 1 und 2 nicht nur in der Strenge ihres Anwendungsbefehls (als Soll- bzw. Mussvorschrift), sondern zusätzlich auch in ihrem zeitlichen Geltungsbereich unterscheiden, an der es indes fehle. Dem entspreche auch die Gesetzesbegründung zu § 32b StPO-E, die den Regelungsgehalt des Absatzes 3 der Vorschrift pauschal dahin zusammenfasst, dass „bei elektronischer Aktenführung“ grundsätzlich elektronische Dokumente übermittelt werden sollen (BT-Drucks 18/9416, S. 48). Eine Differenzierung zwischen den ersten beiden Sätzen des Absatzes nimmt die Gesetzesbegründung auch im Weiteren – wobei sie allerdings unzutreffend „im zweiten Halbsatz des Satzes 1 genannte Dokumente“ in Bezug nimmt – allein danach vor, ob die elektronische Form zwingend (Satz 2) oder nur im Regelfall (Satz 1) zu verwenden ist (BT-Drucks 18/9416, S. 49). In dieselbe Richtung deutet auch die amtliche Überschrift des § 32b StPO, die im Gegensatz zu der für Rechtsanwälte und Verteidiger geltenden, ein von der Einführung der elektronischen Akten unabhängiges Formerfordernis begründenden Vorschrift des § 32d StPO nicht von einer Übermittlungspflicht spricht. Hätte der Gesetzgeber für die in § 32b Abs. 3 Satz 2 StPO geregelten Dokumentarten eine § 32d Satz 2 StPO entsprechende vorbehaltlos bestehende Pflicht zur elektronischen Übermittlung regeln wollen, hätte es nach Ansicht der BGH zudem nahegelegen, dies für alle Adressaten (Rechtsanwälte und Verteidiger sowie die Staatsanwaltschaft), in einer einheitlichen Vorschrift zu tun, wie es der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte vom 23.9.2014 noch vorsah (vgl. § 32d RefE) und wie es auch in Parallelvorschriften in anderen Prozessordnungen der Fall ist (vgl. z.B. – jew. bzgl. Rechtsanwälten und Behörden – § 130d ZPO, § 55d Satz 1 VwGO).
Teleologische Gesichtspunkte
Soweit der Gesetzesbegründung teleologische Erwägungen zu entnehmen sind, sprechen schließlich auch diese – so der BGH – für das von ihm zugrunde gelegte Verständnis der Norm. So werde dort die Regelung in § 32b Abs. 3 Satz 3 Halbs. 2 StPO, wonach eine vorübergehend unmögliche elektronische Übermittlung auf Anforderung nachzuholen sei, dahingehend erläutert, es solle sichergestellt werden, dass das betreffende Dokument nicht erst vom Empfänger in die elektronische Form zu überführen ist (BT-Drucks 18/9416, S. 49). Ein Bedürfnis für eine solche Überführung bestehe indes erst, wenn tatsächlich eine elektronische Akte geführt werde. Überdies stehe die Annahme, dass eine Pflicht zur elektronischen Übermittlung bestimmter Dokumente für die Staatsanwaltschaft erst unter dieser Voraussetzung bestehen solle, wohingegen Rechtsanwälte und Verteidiger hierzu bereits seit Inkrafttreten des § 32d StPO unabhängig von der Art der gerichtlichen Aktenführung verpflichtet seien, mit den Ausführungen der Gesetzesbegründung zu den durch die Neuregelung zu erwartenden Erfüllungsaufwänden in Einklang. Denn diese belegen die den Vorschriften zur elektronischen Kommunikation im Strafverfahren zugrundeliegende gesetzgeberische Annahme, dass auf Seiten der öffentlichen Hand teils noch erhebliche Maßnahmen zur Einführung der benötigten Infrastruktur ausstehen, wohingegen diese auf Seiten der Verteidiger jedenfalls bei der Rechtsanwaltschaft (gemäß § 31a BRAO) bereits als vorhanden vorausgesetzt werden können (BT-Drucks 18/9416, S. 36 ff.). Angesichts dessen liege es auch fern anzunehmen, § 32b Abs. 3 StPO könnte den (womöglich technisch noch nicht hinreichend ausgestatteten) Staatsanwaltschaften die elektronische Übermittlung der in Satz 2 der Vorschrift genannten, besonders wichtigen Dokumente bereits seit dem 1.1.2022 auferlegt haben, ihnen für die alle sonstigen Dokumente betreffende Sollverpflichtung aber eine Übergangsperiode bis längstens zur obligatorischen Einführung der elektronischen Akte im Jahr 2026 gewährt haben.
III. Bedeutung für die Praxis
Muss man hinnehmen
Die Justiz/die Staatsanwaltschaft muss also nach der vom BGH vorgenommenen Auslegung des § 32b Abs. 3 Satz 2 StPO ihre Rechtsmittel nur dann in elektronischer Form einlegen, wenn die Akte elektronische geführt wird. Das mag man als eine Bevorzugung der Justiz/Staatsanwaltschaft gegenüber Rechtsanwälten/Verteidigern ansehen, man muss es aber hinnehmen. es bringt also nichts (mehr), in vergleichbaren Fällen ggf. die Unzulässigkeit des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft zu rügen.