Die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens entheben den Tatrichter nicht davon, Einlassungen zur Kenntnis zu nehmen oder, soweit diese nicht von vornherein als pauschale Behauptungen unzureichend sind, in Erwägung zu ziehen.
(Leitsatz des Gerichts)
VerfG Brandenburg, Beschl. v. 18.2.2022 – VerfGBbg 54/21
I. Sachverhalt
Der Betroffene wendet sich gegen Entscheidungen des AG Oranienburg und des OLG Brandenburg in einem Bußgeldverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung. Der Betroffene hatte gegen einen Bußgeldbescheid Einspruch eingelegt und die Richtigkeit der Geschwindigkeitsmessung bezweifelt. Es gebe deutliche Anzeichen für einen Messfehler. Auf dem Beweisfoto in der Bußgeldakte sei eine hell leuchtende Fläche erkennbar. Dabei dürfte es sich um ein das Licht reflektierendes Verkehrsschild oder eine andere metallene Fläche handeln, die zu einer Doppelreflexion des Radarstrahls und dadurch erhöhten Geschwindigkeitsmessung geführt haben dürfte. Er werde für den Fall der Durchführung eines Hauptverfahrens die Zeugeneinvernahme des Messbeamten und die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragen, um zu beweisen, dass es aus den genannten Gründen zu Messfehlern gekommen sei.
Die Bußgeldstelle hat den Bußgeldbescheid unter Verweis auf die korrekte Durchführung des Messverfahrens aufrechterhalten. Das AG hat Hauptverhandlungstermin bestimmt. Der Betroffene hat beantragt, zu diesem den Messbeamten als Zeugen zu laden und zu vernehmen. Dabei hat der Betroffene die nach seiner Ansicht vorliegenden Fehler bei der Messung wiederholt. Das AG hat in der Hauptverhandlung die Beweisanträge gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG abgelehnt. In dem als Anlage zum Protokoll genommenen Vordruck heißt es: Nach dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme lägen die Voraussetzungen einer standardisierten Messsituation vor, insbesondere sei das Messgerät gültig geeicht. Es bestünden keine konkreten Anhaltspunkte, die auf ein fehlerhaftes Messergebnis hindeuteten. Eine weitere Sachverhaltsaufklärung sei daher nicht geboten.
Gegen das gegen ihn ergangene Urteil hat der Betroffene die Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen der Versagung rechtlichen Gehörs gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG beantragt. Das OLG hat den Antrag verworfen. Der Betroffene wendet sich nunmehr noch mit der Verfassungsbeschwerde gegen das amtsgerichtliche Urteil und den Verwerfungsbeschluss des OLG. Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.
II. Entscheidung
Nach Auffassung des VerfG ist der Anspruch des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Das Gericht sei zwar nicht verpflichtet, sich mit jeglichem Vorbringen ausdrücklich zu befassen, sondern könne sich auf die Bescheidung der ihm wesentlich erscheinenden Punkte beschränken. Das Gericht dürfe aber Kernvorbringen eines Beteiligten nicht unberücksichtigt lassen. Insoweit sei hier zu berücksichtigen, dass in Bußgeldverfahren die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens reduzierte Sachverhaltsaufklärungs- und Darlegungspflichten der Fachgerichte begründen. Die Gerichte seien nicht dazu gehalten, der Ordnungsgemäßheit des Messverfahrens nachzugehen, solange sich keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses ergeben (vgl. BVerfG NJW 2021, 455). Ermittele der Betroffene indes konkrete Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses, habe das Gericht zu entscheiden, ob es sich dennoch von dem Geschwindigkeitsverstoß überzeugen könne. Entsprechend seiner Amtsaufklärungspflicht habe das Fachgericht die Korrektheit des Messergebnisses dann individuell – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen – zu überprüfen und seine Überzeugung im Urteil darzulegen (vgl. BVerfG, a.a.O.; so wohl auch BGHSt 43, 277).
Nach diesen Maßstäben verletze das Urteil des AG Oranienburg den Betroffenen in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Das Urteil lasse nicht erkennen, dass das AG den Tatsachenvortrag des Betroffenen, mit dem er die Zuverlässigkeit des Messverfahrens in Zweifel gezogen hat, zur Kenntnis genommen und in Betracht gezogen habe. Kern des Beschwerdevorbringens sei gewesen, dass die im Beweisfoto erkennbaren hellen Lichtflächen auf eine das Messverfahren beeinflussende Reflexion der Laserstrahlen durch im Messbereich befindliche reflektierende Flächen hindeuten. Ob das AG das Vorbringen in Erwägung gezogen habe, lasse sich weder aus dem Beschluss, mit dem die Beweisanträge abgelehnt worden seien, noch aus den Urteilsgründen erkennen. Es habe in den Urteilsfeststellungen keinen Niederschlag gefunden. Dabei sei es Sache des Fachgerichts zu beurteilen, ob es die vorgetragenen Anhaltspunkte für hinreichend konkret erachte. Die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens entheben den Tatrichter jedoch nicht davon – so das OLG, Einlassungen zur Kenntnis zu nehmen oder, soweit diese nicht von vornherein als pauschale Behauptungen unzureichend sind, in Erwägung zu ziehen. Als bloße allgemeine Behauptungen „ins Blaue hinein“, die insgesamt zu vernachlässigen sind, ließe sich das Vorbringen des Betroffenen im Entscheidungszeitpunkt nicht ohne Weiteres qualifizieren. Dies könne inzwischen im Hinblick auf die Erkenntnisse zu feststehenden Objekten, Reflexionen und deren Einfluss auf Messungen durch die jüngste obergerichtliche Rechtsprechung anders zu betrachten sein (vgl. OLG Zweibrücken, Beschl. v. 13.1.2022 – 1 OWi 2 SsBs 58/21). Diesen Kenntnisstand habe jedoch das AG bei Bescheidung der Beweisanträge und Urteilsfällung nicht voraussetzen können.
III. Bedeutung für die Praxis
Es war ein steiniger Weg, den der Betroffene hier gehen musste, um rechtliches Gehör zu erlangen. Erfolgreich ist er dann erst beim VerfG gewesen. Und dabei ist m.E. doch gar nicht so schwer, die Rechtsprechung des BVerfG aus 2 BvR 1616/18 umzusetzen, die ja nicht gänzlich neu ist, sondern letztlich doch auf der Rechtsprechung des BGH zum standardisierten Messverfahren aus 1997 (!!) aufbaut (BGH, a.a.O.). Aber: man hat den Eindruck, dass die AG „nicht wollen“ und die von den Betroffenen beantragten Beweiserhebungen lästig sind. Gedeckt werden sie von der Rechtsprechung der OLG, die manchmal – so auch hier – nicht nachvollziehbar ist. Denn es folgt klar und eindeutig aus dem Beschluss des VerfG, dass das Kernvorbringen des Betroffenen vom AG eben nicht berücksichtig worden war, so dass an sich schon das OLG das amtsgerichtliche Urteil auf die zuzulassende Rechtsbeschwerde hätte aufheben und die Sacher zurückverweisen müssen, damit das AG seine Hausaufgaben nachholen konnte. Stattdessen hat sich auch das OLG hinter dem Totschlagsargument: „standardisiertes Messverfahren“ versteckt.
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg