1. Das Vorrecht gem. § 20 Abs. 5 StVO besteht nur unter den Voraussetzungen einer rechtzeitigen und ordnungsgemäßen Anzeige gegenüber dem ansonsten fortbestehenden Vorrang des fließenden Verkehrs.
2. Die Beweislast für die Inanspruchnahme eines Vorrechts der Straßenverkehrsordnung trägt derjenige, der sich auf es beruft. Erst wenn der Fahrer eines an einer Haltestelle haltenden Linienbusses bewiesen hat, dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme seines Vorrechts vorgelegen haben, entfällt der Vorrang des fließenden Verkehrs und mit ihm der Anscheinsbeweis, der auf einen Verstoß gegen die in § 10 StVO normierten Sorgfaltsanforderungen schließen lässt.
(Leitsätze des Gerichts)
OLG Celle, Urt. v. 10.11.2021 – 14 U 96/21
I. Sachverhalt
Der Kläger verlangt von der Beklagten Schadensersatz aufgrund eines Verkehrsunfalls vom 8.11.2019. Der Kläger befuhr mit seinem Fahrzeug die G. Straße in V. Der Zeuge R. hielt mit dem von ihm gefahrenen Fahrzeug der Beklagten, einem Linienbus, am rechten Fahrbahnrand an der dortigen Haltestelle mit rechtsseitigem eingeschalteten Fahrtrichtungsanzeiger. Als der Kläger mit seinem Fahrzeug an dem Bus linksseitig vorbeifahren wollte, fuhr der Zeuge R. schräg nach links in die G. Straße ein. Der Zeuge beabsichtigte, von der G. Straße nach links in die Straße P. abzubiegen. Noch beim Anfahren des Linienbusses kam es zu einer Kollision zwischen beiden Fahrzeugen. Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Zeuge R. vor dem Anfahren den linksseitigen Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hat, um sein Einfahren auf die Fahrbahn anzuzeigen.
Das Landgericht hat nach einer Beweisaufnahme mit Zeugenvernehmung und der Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Unfallhergang eine hälftige Schadensteilung zwischen den Parteien ausgeurteilt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Berufung. Er ist der Auffassung, das LG habe nicht beachtet, dass gem. § 10 StVO bei einem Anfahren aus dem ruhenden Verkehr eine Gefährdung der anderen Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen werden müsse. Ferner habe der Zeuge R. auch gegen § 9 Abs. 1 StVO verstoßen, als er sogleich nach dem Anfahren nach links in die Straße P. habe abbiegen wollen und nicht auf den Kläger geachtet habe. Die Berufung des Klägers hatte teilweise Erfolg.
II. Entscheidung
Das OLG geht von einer Haftung der Beklagten dem Grunde nach aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 2 StVG aus. Es ist allerdings – anders als das LG – von einer Haftungsquote der Beklagten in Höhe von 75 % ausgegangen. Im Einzelnen:
Der Verkehrsunfall habe sich – so das OLG – sowohl bei dem Betrieb des Fahrzeugs des Klägers als auch beim Betrieb des Fahrzeugs der Beklagten ereignet (§ 7 Abs. 1 StVG). Ein unabwendbares Ereignis gem. § 17 Abs. 3 StVG habe nach den festgestellten Tatsachen für keinen der beiden Fahrer vorgelegen. Keine Partei, die jeweils für die Unabwendbarkeit des Unfallgeschehens darlegungs- und beweisbelastet sei, habe konkrete Tatsachen vorgetragen, deren Berücksichtigung eine andere Bewertung erfordern. Die Unaufklärbarkeit tatsächlicher Umstände gehe zu Lasten des Beweispflichtigen. Im Rahmen der deshalb nach §§ 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG vorzunehmenden Haftungsabwägung stellt das OLG folgende Überlegungen an:
Der Fahrer des Linienomnibusses, dessen Verschulden sich die Beklagte zurechnen lassen müsse, habe gegen § 10 Abs. 1 StVO verstoßen. Den gegen sie sprechenden Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Unfallverursachung habe die Beklagte nicht erschüttern können. Gem. § 10 Satz 1 StVO müsse sich der Einfahrende vom Fahrbahnrand auf eine Fahrbahn so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Der Vorrang des fließenden Verkehrs gelte grundsätzlich auch gegenüber dem Fahrer eines Omnibusses des Linienverkehrs. Um derartigen Fahrzeugen, die an feste Fahrpläne und an die Einhaltung bestimmter Fahrzeiten gebunden sind, aber das Anfahren und Einordnen in den fließenden Verkehr zur Sicherstellung der zeitlichen Vorgaben zu erleichtern, bestimme § 20 Abs. 5 StVO, dass diesen das Abfahren von gekennzeichneten Haltestellen zu ermöglichen ist und andere Fahrzeuge, wenn nötig, warten müssen. Diese dem fließenden Verkehr auferlegte Verpflichtung schränke den sich aus § 10 StVO ergebenden Vorrang des fließenden Verkehrs insoweit ein, als dieser eine durch das Anfahren der Linienfahrzeuge entstehende Behinderung hinzunehmen habe (König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 20 StVO Rn 12 m.w.N.). Diese Einschränkung des Vorrangs des fließenden Verkehrs gelte aber erst dann, wenn der Fahrer eines Omnibusses des Linienverkehrs sein Vorhaben ordnungsgemäß und rechtzeitig angezeigt hat (§ 10 Satz 2 StVO). In diesem Fall müsse sich der fließende Verkehr auf das Einfahren des Busses einstellen, eine Behinderung hinnehmen und nötigenfalls auch mit einer mittelstarken Bremsung anhalten (vgl. König, a.a.O.; BayObLG NZV 1990, 402, 403).
Bis zu der Ankündigung, die die Absicht in den fließenden Verkehr einzufahren mittels Fahrtrichtungsanzeiger rechtzeitig anzeigt, bleibt auch in Bezug auf einen Linienbus das Vorrecht des fließenden Verkehrs bestehen. Erst wenn der Fahrer des Linienbusses sichergestellt habe, dass den Anforderungen des § 10 Satz 2 StVO Genüge getan ist, also der Fahrtrichtungsanzeiger rechtzeitig zuvor gesetzt war und nach Rückschau nicht anzunehmen sei, dass andere Verkehrsteilnehmer mehr als nur mittelstark bremsen müssten, entstehe sein Vorrecht gem. § 20 Abs. 5 StVO (vgl. BGHSt 28, 218: in der Entscheidung stand allerdings fest, dass der Fahrzeuglenker des Linienomnibusses geblinkt hatte), was in der Folge den Anscheinsbeweis gegen den Einfahrenden entfallen lasse. Sei – wie hier – streitig, ob der Fahrer des Linienomnibusses den Fahrtrichtungsanzeiger überhaupt gesetzt habe, um seine Absicht, in den fließenden Verkehr einzufahren, anzukündigen, dann treffe ihn auch die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme seines Vorrechts tatsächlich vorliegen. Denn § 20 Abs. 5 StVO erlaube es nur unter der Voraussetzung einer rechtzeitigen und ordnungsgemäßen Anzeige, das ansonsten bestehende Vorrecht anderer Verkehrsteilnehmer im fließenden Verkehr zu „missachten“. Wenn das Vorrecht des Fahrers eines Linienomnibusses aber erst ab der Anzeige gelte, müsse er auch beweisen, dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Vorrechts, einer Ausnahmeregelung in der Straßenverkehrsordnung, vorgelegen haben. Diese Beweislastverteilung sei im Rahmen des § 20 Abs. 5 StVO anzusetzen. Denn denjenigen, der sich auf ein Vorrecht berufe, treffe nach den allgemeinen Darlegungs- und Beweislastregeln auch die Obliegenheit, dessen Voraussetzungen darzulegen und ggf. zu beweisen. Dies sei der Beklagten, wie das OLG im Einzelnen ausführt, nach den vorgenannten Maßgaben nicht gelungen.
Der Beklagten sei indes kein Verstoß gegen § 9 Abs. 1 StVO anzulasten, wonach beim Abbiegen eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs auszuschließen ist. Der Begriff erfasse jede Fahrtrichtungsänderung im Längsverkehr, bei der der Fahrzeugführer seine Fahrbahn nach der Seite verlässt oder auf ihr in einem Bogen die Gegenrichtung oder den gegenüberliegenden Straßenrand zu erreichen versucht. Ausweislich der Feststellungen des Sachverständigen sei der Linienomnibus bei der Kollision noch nicht in den Längsverkehr eingeordnet gewesen, sondern dabei, von der Haltestelle anzufahren.
Da seitens des Klägers nach Auffassung des OLG kein Verschulden an dem Verkehrsunfall festgestellt werden konnte, verblieb bei einer vorzunehmenden Abwägung auf Seiten des Klägers (nur) eine erhöhte Betriebsgefahr seines Kraftfahrzeuges, die mit 25 % zu bemessen sei. Das OLG ist insoweit von einer erhöhten Betriebsgefahr ausgegangen, weil der Kläger nach dem Wortlaut des § 20 Abs. 1 StVO an haltenden Linienomnibussen vorsichtig vorbeizufahren ist. Dies intendiert die gesetzgeberische Wertung, welche beinhaltet, dass es sich dabei um ein Fahrmanöver handelt, aus welchem eine abstrakt erhöhte Gefährlichkeit erwächst.
III. Bedeutung für die Praxis
Das OLG hat Revision gegen sein Urteil gem. § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zugelassen, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordere. Denn das OLG hat in seiner Entscheidung einen abstrakten Rechtssatz aufgestellt, der von einem in anderen Entscheidungen eines höheren oder eines gleichgeordneten Gerichts aufgestellten abstrakten Rechtssatz abweicht (BGHZ 152, 182 ff. m.w.N.). Ferner ist die Revision zuzulassen, wenn aufgrund der Publizitätswirkung zu erwarten ist, dass ein Nachahmungseffekt gegeben ist, so dass eine höchstrichterliche Leitentscheidung notwendig ist (BGH, Beschl. v. 4.7.2002 – V ZR 75/02). Dies war nach Auffassung des OLG vorliegend der Fall. Das KG hat in seinem Beschl. v. 1.11.2018 (22 U 128/17, FAR 2019, 83) die Ansicht vertreten, die Klägerin habe zu widerlegen, dass rechtzeitig der Fahrtrichtungsanzeiger des Linienomnibusses gesetzt worden sei. Die gleiche Beweislastverteilung hat das KG bereits in der Entscheidung vom 24.7.2008 (12 U 142/07, zfs 2009, 140) vorgenommen. Diese Ansicht wird auch vom LG Saarbrücken vertreten (Urt. v. 5.12.2012 – 13 S 209/11, NZV 2013, 35), das zwar kein gleichgeordnetes Gericht ist, dessen Entscheidung aber einen hohen Verbreitungsgrad erfahren hat. Eine obergerichtliche Entscheidung ist daher nach Auffassung des OLG Celle notwendig, um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu sichern. Alle Entscheidungen wurden publiziert und von der Kommentarliteratur aufgegriffen, so dass zu erwarten sei, dass es den o.g. Nachahmungseffekt geben werde.
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg