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Zurverfügungstellung der Gebrauchsanleitung eines Enforcement- Trailers

Es verstößt gegen den Grundsatz eines fairen Verfahrens, wenn dem Betroffenen trotz eines vor der Hauptverhandlung gestellten Antrags die Gebrauchsanleitung für den Enforcement-Trailer nicht zur Verfügung gestellt wird.

(Leitsatz des Gerichts)

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 7.1.2021 – 1 OWi 2 SsBs 98/20

I. Sachverhalt

Das AG hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit verurteilt und ein Fahrverbot von einem Monat angeordnet. Die Messung wurde mit dem Messgerät PoliScan Speed FM1 in einem sog. Enforcement-Trailer vorgenommen. Die Verteidigerin beantragte vor der Hauptverhandlung mehrfach die Einsichtnahme in die Messunterlagen (u.a. die Zurverfügungstellung digitaler Falldatensätze der gesamten Messreihe inklusive Rohmessdaten, der Token-Datei, der Statistikdatei und der Aufbauvorschriften des Herstellers bei Verwendung des Messgeräts in einem Trailer. Die Messunterlagen wurden der Verteidigung nur teilweise zur Verfügung gestellt. Dagegen beantragte die Verteidigung die gerichtliche Entscheidung (§ 62 OWiG). Das AG entsprach dem Antrag der Verteidigung teilweise. In der Hauptverhandlung beantragte die Verteidigung die Aussetzung des Verfahrens unter Bezugnahme auf die unvollständig gewährte Einsicht in die Messunterlagen und die dadurch fehlende Nachprüfbarkeit der Messung. Das AG lehnte den Antrag ab und verurteilte den Betroffenen. Auch nach der Urteilsverkündung bemühte sich die Verteidigung weiterhin um Einsichtnahme in die nicht erhaltenen Messunterlagen.

II. Entscheidung

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hatte mit der Rüge der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren Erfolg. Die Sache wurde zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das AG zurückverwiesen.

Nach dem Beschl. des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 (VRR 1/2021, 4 ff.) hat der Betroffene einen aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) hergeleiteten Anspruch auf Zurverfügungstellung bzw. Einsicht auch in nicht bei den Akten befindliche Messunterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt. Dazu gehört auch die Gebrauchsanweisung des Herstellers für das Messgerät einerseits und den ebenfalls verwendeten Enforcement-Trailer andererseits. Um – wie in den Fällen der Verwendung standardisierter Messverfahren erforderlich – konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Messung vortragen zu können, muss der Betroffene nämlich die Möglichkeit haben, Kenntnis auch von solchen Inhalten zu nehmen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden. Bei dem entsprechenden Antrag, den die Verteidigung (neben dem Aussetzungsantrag) in der Hauptverhandlung wiederholt hat, handelt es sich nicht um einen Beweisermittlungsantrag, den das AG nach § 77 OWiG zurückweisen könnte.

III. Bedeutung für die Praxis

Es war schon vor der Entscheidung des BVerfG weitgehend anerkannt, dass der Betroffene einen Anspruch auf Einsicht in die Messunterlagen hat, der sich aus dem Akteneinsichtsrecht (§ 46 OWiG i.V.m. § 147 StPO) ergibt, wenn sich die Unterlagen bei der Akte befinden, und aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK), soweit dies nicht der Fall ist (umfassende Rechtsprechungsnachweise bei Burhoff in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 229 ff.; vgl. VerfGH Saarland VRR 6/2018, 15; KG, Beschl. v. 27.4.2018 – 3 Ws (B) 133/18; DAR 2013, 211; OLG Jena NJW 2016, 1457; OLG Naumburg DAR 2016, 215; OLG Brandenburg StraFo 2017, 31; Cierniak zfs 2012, 664, 669; Burhoff VRR 2011, 250; ders., VRR 2012, 273; VRR 2012, 353; ders., VRR 2012, 434; Cierniak/Niehaus DAR 2014, 2, 4 ff.; dies. NStZ 2014, 527). Der entgegenstehenden Auffassung des OLG Bamberg (VRR 7/2018, 14) und des BayObLG (VRR 5/2020, 20) ist durch die Entscheidung des BVerfG die Grundlage entzogen worden. Soweit das BayObLG auch weiterhin die Auffassung vertritt, dass die Versagung der Einsicht in die sog. Rohmessdaten das rechtliche Gehör des Betroffenen nicht verletze (Beschl. v. 4.1.2021 – 202 ObOWi 1532/20), vermag dies nicht zu überzeugen (vgl. VRR 1/2021, 4 ff. [Niehaus]). Auch das OLG Zweibrücken vollzieht mit dem Beschl. v. 7.1.2021 die Entscheidung des BVerfG nach und gelangt konsequenterweise zur Begründetheit der Rechtsbeschwerde.

Der Fall zeigt erneut auf, dass die Verteidigung ihr Vorbringen im Rahmen einer später ggf. erforderlich werdenden Rechtsbeschwerde sorgfältig vorbereiten muss, um den Verstoß gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren erfolgversprechend geltend zu machen (vgl. ausführlich Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 243 ff.). Insbesondere muss im Ermittlungsverfahren (ggf. wiederholt) ein Antrag auf Zurverfügungstellung der Messunterlagen gestellt werden. Wird dieser abgelehnt, muss dagegen mit dem statthaften Rechtsbehelf vorgegangen werden (vgl. § 62 OWiG, Antrag auf gerichtliche Entscheidung). In der Hauptverhandlung muss die Verteidigung den Einsichtsantrag wiederholen und zugleich die Aussetzung der Hauptverhandlung mit Blick auf die bisher nicht (ausreichend) gewährte Einsicht in die Messunterlagen beantragen. Gegen die Ablehnung dieses Antrags muss die gerichtliche Entscheidung nach § 238 Abs. 2 StPO beantragt werden. Mit Blick auf den daraufhin ergehenden Beschluss kann sodann im Rechtsbeschwerdeverfahren die unzulässige Beschränkung der Verteidigung nach § 338 Nr. 8 StPO, § 79 Abs. 3 OWiG gerügt werden. Zum Teil verlangen die OLG – sehr weitgehend – darüber hinaus sogar, dass der Betroffene sich nach dem Urteil (innerhalb der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist) weiterhin um die Einsichtnahme bemüht hat. All diesen Anforderungen hat die Verteidigung im vorliegenden Fall entsprochen – mit dem Ergebnis des Erfolgs der Rechtsbeschwerde.

Das OLG Zweibrücken entspricht mit seiner Rspr. der spätestens mit dem Beschl. des BVerfG v. 12.11.2020 einhelligen Auffassung zum Einsichtsrecht in die Messerunterlagen. Für die Zukunft bleibt abzuwarten, ob die Versuche etwa des BayObLG (Beschl. v. 4.1.2021 – 202 ObOWi 1532/20, a.a.O.), dieses Recht z.B. hinsichtlich vorhandener Rohmessdaten wieder zu relativieren, außerhalb Bayerns auf Widerhall stoßen.

RiLG Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

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