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VRR-Kompakt 2021-07

Mitverschulden: Überqueren einer Straße durch Kindergruppe

Einem elfjährigen Kind kann kein Mitverschuldensvorwurf gemacht werden, wenn es beim Überqueren einer Straße, zusammen mit einer bereits auf der Fahrbahn befindlichen Kindergruppe, als letztes Kind von einem Fahrzeug erfasst wird, dessen Fahrer die Kinder wahrgenommen hat und den Unfall hätte verhindern können. Neben der Einsichtsfähigkeit gem. § 828 Abs. 3 BGB, deren Fehlen das Kind zu beweisen hat, ist im Rahmen des Verschuldens gem. § 276 Abs. 2 BGB ein objektiver Maßstab anzulegen und zu prüfen, ob das Kind die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Dabei sind an ein Kind, gestaffelt nach dem Alter, andere Maßstäbe als an einen Jugendlichen oder einen Erwachsenen anzulegen. Neben dem Alter des Kindes ist dabei auch die konkrete Unfallsituation zu bewerten und zu prüfen, ob Kinder gleichen Alters und gleicher Entwicklungsstufe in der konkreten Situation hätten voraussehen müssen, dass ihr Tun verletzungsträchtig ist und es ihnen möglich und zumutbar gewesen wäre, sich dieser Erkenntnis gemäß zu verhalten. Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes muss ein junger Mensch, der einen schweren Schaden erlitten hat, wegen seines Alters im Verhältnis zu einem älteren Menschen mehr Schmerzensgeld bekommen, weil ersterer noch lange an seinen Verletzungsfolgen zu tragen hat.

OLG Celle, Urt. v. 19.5.2021 – 14 U 129/20

Kraftfahrzeugbrand: Beim Betrieb

Ein enger zeitlicher und örtlicher Zusammenhang zwischen einem Kraftfahrzeugbrand und dem Betriebsvorgang eines Fahrzeugs liegt jedenfalls vor, wenn dieses noch ca. zwei Stunden vor dem Brand gefahren wurde. Für eine Zurechnung ist nicht erforderlich, dass der klagende Halter gegenüber der beklagten Versicherung beweist, durch welche Betriebseinrichtung der Brand verursacht worden ist. Es reicht aus, dass unstreitig oder bewiesen ist, dass der Brand in einem engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Betriebsvorgang oder einer Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeugs entstanden ist. Die beklagte Versicherung könnte aber ihrerseits darlegen und beweisen, dass der Brand von außen herbeigeführt worden ist, was den Zurechnungszusammenhang entfallen ließe.

LG Celle, Urt. v. 12.5.2021 – 14 U 189/20

Arbeitsmaschine: Betrieb

Beschränkt sich der konkrete Einsatz eines Traktors darin, dass dessen Funktion als Arbeitsmaschine im Vordergrund stand und der Schadensablauf nicht durch den Betrieb des Traktors als Kraftfahrzeug mitgeprägt wurde, scheidet eine Haftung aus Betrieb gem. § 7 Abs. 1 StVG aus.

OLG Hamm, Beschl. v. 18.5.2021 – 9 W 14/21

Busreparatur: Reparatur in der eigenen Werkstatt

Nutzt ein Busunternehmen seine eigene Werkstatt zur Reparatur seines bei einem Verkehrsunfall beschädigten Busses, beschränkt sich der zur Herstellung erforderliche Betrag auf die insoweit anfallenden Kosten. Die höheren Kosten einer externen Werkstatt können grundsätzlich zugrunde gelegt werden, wenn das Busunternehmen einen Teil der Kapazitäten seiner Werkstatt als freie Werkstatt zur Gewinnerzielung verwendet. Voraussetzung ist allerdings, dass es im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast hinreichend dazu vortragen kann, dass es in der Zeit der Reparatur des Busses Fremdaufträge hätte annehmen können.

LG Düsseldorf, Beschl. v. 15.6.2021 – 1 U 142/20

VW-Abgasskandal: Schätzung der Gesamtlaufleistung eines Fahrzeugs

Bei der Berechnung der gezogenen Nutzungsvorteile kann die Gesamtlaufleistung eines gebrauchten Pkw geschätzt werden. Bei der Schadensschätzung steht dem Gericht gemäß § 287 ZPO ein Ermessen zu, wobei in Kauf genommen zu nehmen ist, dass das Ergebnis unter Umständen mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Die Berechnungsmethode für den Nutzungsvorteil nach der Formel: Nutzungsvorteil = Nettokaufpreis x gefahrene Strecke (seit Erwerb): erwartete Restlaufleistung im Erwerbszeitpunkt ist nicht zu beanstanden.

BGH, Urt. v. 23.3.2021 – VI ZR 3/20

VW-Abgasskandal: Bemessung des Nutzungsvorteils

Das Tatgericht ist bei der im Rahmen des Vorteilsausgleichs vorzunehmenden Bemessung des Nutzungsvorteils in einem sogenannten Dieselfall grundsätzlich nicht gehalten, zur Ermittlung der zu erwartenden Gesamtlaufleistung des betroffenen Pkws ein Sachverständigengutachten einzuholen; es kann diese vielmehr grundsätzlich selbst ohne sachverständige Hilfe gemäß § 287 ZPO schätzen (Fortführung Senatsurteile v. 27.4.2021 – I ZR 812/20; v. 23.3.2021 – VIZR 3/20).

BGH, Urt. v. 18.5.2021 – VI ZR 720/20

Wiedereinsetzung: Falsche Fax-Nummer

Ein Rechtsanwalt ist hinsichtlich der fristwahrenden Übermittlung von Schriftsätzen gehalten, durch geeignete organisatorische Vorkehrungen, insbesondere durch entsprechende allgemeine Anweisungen an das Büropersonal, sicherzustellen, dass Fehlerquellen im größtmöglichen Umfang ausgeschlossen sind und gewährleistet ist, dass – anhand einer nochmaligen Überprüfung der Faxnummer des angeschriebenen Gerichts entweder vor der Versendung oder mit dem Sendebericht anhand einer zuverlässigen Quelle – bei der Adressierung die zutreffende Faxnummer verwendet wird.

BGH, Beschl. v. 30.3.2021 – VIII ZB 37/19

Rechtsschutzversicherung: Leistungsausschluss

Ob die Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach Ziffer 5.5 S. 1 ARB-MPM 2009 vorliegen, insbesondere der Versicherungsnehmer oder Versicherte vorsätzlich eine Straftat begangen hat, ist im Deckungsprozess zu klären. Dabei besteht weder eine Bindung an die Ergebnisse eines gegen den Versicherungsnehmer oder Versicherten geführten Ermittlungsverfahrens oder des Ausgangsrechtsstreits noch ist der Rechtsschutzversicherer bis zu deren Abschluss vorläufig leistungspflichtig. Der Versicherer ist für die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses nach Ziffer 5.5 Satz 1 ARB-MPM 2009 darlegungs- und beweisbelastet.

BGH, Urt. v. 20.5.2021 – IV ZR 324/19

Fahrverbot: Vollstreckung eines verfahrensfremden Fahrverbotes

Die Annahme, dass die Vollstreckung eines verfahrensfremden Fahrverbotes zwischen Tat und Urteil eine so weitgehende erzieherische Wirkung entfalten könnte, dass ein weiteres Fahrverbot entbehrlich wird, liegt bei einem Wiederholungstäter regelmäßig fern. Dem steht nicht entgegen, dass im Falle gemeinsamer Verhandlung und Aburteilung der zugrunde liegenden Verkehrsordnungswidrigkeiten nur ein Fahrverbot zu verhängen gewesen wäre; aus der am 24.8.2017 in Kraft getretenen Neuregelung des § 25 Abs. 2b StVG ergibt sich vielmehr, dass mehrere Fahrverbote generell nacheinander vollstreckt werden, sich also nach dem Willen des Gesetzgebers in ihrer erzieherischen Wirkung nicht gegenseitig „vertreten“ sollen.

BayObLG, Beschl. v. 10.5.2021 – 201 ObOWi 445/21

Standardisiertes Messverfahren: Leivtec XV 3

Unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der PTB ist beim Messgerät Leivtec XV3 die Richtigkeit des ermittelten Geschwindigkeitswertes derzeit insgesamt nicht mehr garantiert. Eine Differenzierung danach, ob das sog. Messung-Start-Foto die in der am 14.12.2020 geänderten Gebrauchsanweisung genannten Anforderungen erfüllt, ist nicht geboten. Vielmehr bieten Geschwindigkeitsmessungen mit dem Messgerät Leivtec XV3 auch unabhängig davon, ob es sich um eine Rechts-, Links- oder Geradeausmessung handelt, derzeit keine hinreichende Gewähr mehr für die Annahme, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung zuverlässig ausgewiesen wurde.

OLG Celle, Beschl. v. 18.6.2021 – 2 Ss (OWi 69/21

Auffahren auf die BAB: Stau auf der bevorrechtigten Fahrspur

Die Norm des § 18 Abs. 3 StVO bezieht sich auf bauliche Gegebenheiten und setzt eine Einfädelspur und eine Fahrspur voraus. Ist dies der Fall, ist der Verkehr auf der Fahrspur gegenüber dem Verkehr auf der Einfädelspur bevorrechtigt. Dieses Vorrecht bleibt auch dann erhalten, wenn die Fahrzeuge auf der Fahrspur verkehrsbedingt zum Stehen kommen. Der Wortlaut des § 18 Abs. 3 StVO „Vorfahrt“ leitet sich nicht aus einer Bewegung („fahren“) ab, sondern aus einem „Vorrecht“, das der Gesetzgeber für die sich auf der Fahrspur befindlichen Fahrzeuge gegenüber dem Verkehr auf der Einfädelungsspur normiert hat (gegen OLG Hamm, Beschl. v. 3.5.2018 – III 4 RBs 117/18).

OLG Celle, Urt. v. 23.6.2021 – 14 U 186/20

Strafpunkteregister für Verkehrsverstöße: Einsichtsrecht

Ausschließlich Betroffene dürfen Einsicht in ihre Einträge im Strafpunkteregister nehmen dürfen. Eine Einsicht durch jedermann verstößt gegen die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) der Europäischen Union verstößt.

EuGH, Urt. v. 22.6.2021 – C-439/19

Abgekürztes Urteil: Nachträgliche Änderung

Wird eine abgekürzte Urteilsfassung zur förmlichen Zustellung aus dem inneren Dienstbereich des Gerichts – durch Übersendung an den Betroffenen und den Verteidiger oder an die Staatsanwaltschaft – herausgegeben, darf sie grundsätzlich nicht mehr verändert werden.

OLG Brandenburg, Beschl. v. 14.6.2021 – OLG 53 Ss-OWi 237/21

Bußgeldverfahren: Mittelgebühr

In straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren ist grundsätzlich der Ansatz der Mittelgebühr als Ausgangspunkt der Gebührenbemessung gerechtfertigt.

AG Hamburg-Harburg, Beschl. v. 3.6.2021 – 621 OWi 128/21

Bußgeldverfahren: Terminsgebühr

Der Ansatz der Mittelgebühr für die Terminsgebühr (nach Nr. 5110 VV RVG) ist jedenfalls dann nicht unbillig, wenn der Verteidiger eine 30-minütige Hauptverhandlung wegen eines Rotlichtverstoßes aufwendig vorbereitet hat.

AG Leer, Beschl. v. 3.5.2021 – 111 OWi 174/20

Berufung: Verfahrensgebühr

Die Verfahrensgebühr entsteht nicht erst durch die Berufungsbegründung, sondern bereits durch die anwaltliche Prüfung und Beratung, ob und gegebenenfalls mit welchen Anträgen die – häufig aus Zeitgründen zunächst nur zur Fristwahrung eingelegte – Berufung begründet und weiter durchgeführt werden soll; wird die Berufung nicht begründet und im Einverständnis des Mandanten zurückgenommen, fehlt es zwar an „einer anwaltlichen Kerntätigkeit im Rechtsmittelverfahren“, jedoch ohne dass dadurch die bereits entstandene Verfahrensgebühr wieder entfiele.

AG Halle, Beschl. v. 16.6.2021 – 322 Ds 370 Js 16649/20

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