1. Die unterbliebene Überlassung von nicht zu den (Gerichts-)Akten gelangten Unterlagen sowie der (digitalen) Messdaten einschließlich der sog. Rohmessdaten oder der Messreihe stellt für sich genommen weder eine Verletzung des rechtlichen Gehörs noch einen Verstoß gegen das faire Verfahren dar. Vielmehr handelt es sich bei den entsprechenden Anträgen um Beweisermittlungsanträge, deren Ablehnung nur unter Aufklärungsgesichtspunkten gerügt werden kann (Festhaltung an BayObLG VRR 1/2020, 17/StRR 1/2020, 27 [jew. Deutscher]; entgegen insbesondere VerfGH Saarland (DAR 2018, 557 = NZV 2018, 275 m. Anm. Krenberger = VRR 6/2018, 15/StRR 6/2018, 22 [jew. Deutscher]).
2. Hat sich das Tatgericht aufgrund der Beweisaufnahme rechtsfehlerfrei und ohne dass sich konkrete Anhaltspunkte für Messfehler ergeben hätten, vom Vorliegen einer Messung im standardisierten Messverfahren überzeugt, kommt eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung nach § 338 Nr. 8 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG insbesondere unter dem Gesichtspunkt eines – ggf. fortwirkenden – Verstoßes gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren auch dann nicht in Betracht, wenn die Verteidigung die Einsicht in die digitale Messdatei einschließlich der Rohmessdaten schon bei der Verwaltungsbehörde verlangt, sodann einen entsprechenden Antrag erfolglos im Verfahren nach § 62 OWiG gestellt und ihr neuerlicher, in der Hauptverhandlung mit einem Antrag auf Aussetzung des Verfahrens verbundener Antrag auf Einsichtnahme durch das Tatgericht zurückgewiesen wird (Fortführung von BayObLG a.a.O., entgegen insbesondere OLG Karlsruhe NStZ 2019, 620 = DAR 2019, 582 = VRR 8/02019, 15 [Deutscher]).
3. Für die Annahme einer unzulässigen Beschränkung der Verteidigung i.S.v. § 338 Nr. 8 StPO genügt es nicht, dass die Beschränkung nur generell (abstrakt) geeignet ist, die gerichtliche Entscheidung zu beeinflussen. Vielmehr muss die Möglichkeit eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem Verfahrensverstoß und dem Urteil konkret bestehen (st. Rspr.; u.a. Anschluss an BGHSt 30, 131 = NJW 1981, 2267 = NStZ 1981, 361; BGHSt 44, 82 = NJW 1998, 2296 = NStZ 1998, 584; NStZ 2000, 212; NStZ 2014, 347 = StRR 2014, 219 [Krawczyk]; BayObLGSt 1997, 165 = NJW 1998, 1655). An einem solchen konkret-kausalen Zusammenhang zwischen der unterbliebenen Zugänglichmachung der (digitalen) Messdaten einschließlich der sog. Rohmessdaten und dem Sachurteil fehlt es im Anwendungsbereich des standardisierten Messverfahrens.
(Leitsätze des Gerichts)
BayObLG,Beschl. v.6.4.2020–201 ObOWi 291/20
I. Sachverhalt
Das AG hat die Betroffene wegen einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße verurteilt und gegen sie ein Fahrverbot von einem Monat angeordnet. Die Geschwindigkeitsmessung erfolgte mit einer geeichten digitalen Geschwindigkeitsüberwachungsanlage ES3.0. Die Betroffene beanstandet mit der Verfahrensrüge, dass sie keine Einsicht in die digitale Messdatei sowie die Rohmessdaten der verfahrensgegenständlichen Geschwindigkeitsmessung erhalten habe, obwohl gegenüber der Verwaltungsbehörde und dem Gericht wiederholt deren Zugänglichmachung beantragt worden sei, so zuletzt im Termin zur Hauptverhandlung verbunden mit einem Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung, welchen das AG zurückgewiesen hat. Das BayObLG hat die Rechtsbeschwerde als unbegründet verworfen.
II. Entscheidung
Leitsatz 1 ist wie häufig bei Entscheidungen des BayObLG selbsterklärend und wiederholt seine bisherige Haltung (DAR 2020, 145 = VRR 1/2020, 17/StRR 1/2020, 27 [jew.Deutscher]) zur Ablehnung der Entscheidung des VerfGH Saarland. Zu den Leitsätzen 2 und 3 führt das Gericht aus: In der Rechtsprechung werde teils auf den Zeitpunkt des Einsichtsantrags abgestellt und verlangt, dass Gesuche auf Einsichtnahme in die Messdaten bereits gegenüber der Verwaltungsbehörde zu verfolgen sind und nicht erstmalig in der Hauptverhandlung verbunden mit einem Antrag auf Aussetzung derselben gestellt werden dürfen (OLG Karlsruhe NStZ 2019, 620 = DAR 2019, 582 = VRR 8/02019, 15 [Deutscher]). Demgegenüber solle nach anderer Ansicht das Einsichtsrecht auch zu diesem Zeitpunkt noch bestehen, die Hauptverhandlung aber nur ausgesetzt werden müssen, wenn sich der Betroffene schon zuvor um Einsicht bemüht habe (Cierniak/NiehausDAR 2018, 541, 544, DAR 2020, 69, 72).
Es könne aber dahinstehen, bis zu welchem Zeitpunkt ein solches Einsichtsrecht geltend zu machen ist. Ein (fortwirkender) Verstoß gegen das faire Verfahren, welcher unter den Voraussetzungen des § 338 Nr. 8 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG gerügt werden kann und zur Aufhebung des Urteils führt, erscheine jedenfalls im Anwendungsbereich des standardisierten Messverfahrens ausgeschlossen. Die Gegenauffassung sei mit der Rechtsprechung des BGH zu Wesen, Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Rechtsbegriffs des standardisierten Messverfahrens und darüber hinaus zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen ein möglicher Verstoß gegen den fair-trial-Grundsatz zur Aufhebung des Urteils führt, nicht vereinbar. Auf das Erfordernis eines konkret-kausalen Zusammenhangs zwischen (unzulässiger) Verteidigungsbeschränkung und Sachentscheidung beziehe sich vordergründig zwar ausdrücklich auch das OLG Karlsruhe (a.a.O.), gebe dieses Erfordernis aber gleichwohl im Ergebnis preis, wenn es ein (mögliches) Beruhen des Urteils auf der unterbliebenen Einsichtnahme in die Messdaten mit dem pauschalen Hinweis bejaht, dass kein Erfahrungssatz existiere, wonach auch ein standardisiertes Messverfahren stets zuverlässige Ergebnisse liefere. Diese Begründung trage schon deshalb nicht, weil es ausgeschlossen erscheint, dass eine Verurteilung etwa wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes auf einer unterbliebenen Einsichtnahme in die digitale Messdatei beruht oder beruhen könnte, wenn ihr eine Messung durch ein nach Überzeugung des Gerichts alle Kriterien eines standardisierten Messverfahrens unter Berücksichtigung der gebotenen Toleranzabzüge erfüllendes Messgerät zugrunde liegt, ohne dass sich mit Blick auf die bei jedem Messgerät hinlänglich bekannten Fehlerquellen, die das Gericht aufgrund seiner Aufklärungspflicht ausschließen muss, von außen ergebende Hinweise auf etwaige Messfehler, welche der Annahme der Standardisierung entgegenstehen, gezeigt hätten.
Nach der Rechtsprechung des BGH verfolge die amtliche Zulassung von Geräten und Methoden ebenso wie die Reduzierung des gemessenen Wertes um einen – die systemimmanenten Messfehler erfassenden – Toleranzwert gerade den Zweck, Ermittlungsbehörden und Gerichte von der Sachverständigenbegutachtung und Erörterung des Regelfalles freizustellen (BGHSt 39, 291 = NJW 1993, 3081). Zwar bestehe auch nach Ansicht des BGH kein Erfahrungssatz, dass die gebräuchlichen Geschwindigkeitsmessgeräte unter allen Umständen zuverlässige Ergebnisse liefern, und sei eine absolute Genauigkeit, d.h. eine sichere Übereinstimmung mit der tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit, nicht möglich. Allerdings werde den nach den jeweiligen technisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnissen möglichen Fehlerquellen hinreichend durch die Berücksichtigung von Messtoleranzen Rechnung getragen. Eine Überprüfung der Zuverlässigkeit der Messung sei deshalb folgerichtig und zwingend nur erforderlich, wenn konkrete Anhaltspunkte für Messfehler gegeben sind. Ihre materielle Berechtigung fänden diese Grundsätze in der Anerkennung des standardisierten Messverfahrens, bei dem durch Einhaltung der hierfür erforderlichen Prämissen (Bauartzulassung durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt [PTB]; Eichung des Messgeräts im Tatzeitpunkt; Aufbau und Bedienung des Messgeräts durch geschultes Personal unter Beachtung der Gebrauchsanweisung; Ausschluss etwaiger Anhaltspunkte für mögliche Fehlerquellen aufgrund der Beweisaufnahme sowie Vornahme des gebotenen Toleranzabzugs) die Richtigkeit der Messung gewährleistet sei. Insoweit komme der Bauartzulassung durch die PTB die Qualität eines antizipierten Sachverständigengutachtens zu. Vor diesem Hintergrund könne die höchstrichterliche Rechtsprechung nur dahingehend interpretiert werden, dass im Falle eines standardisierten Messverfahrens gem. der genannten Prämissen keine vernünftigen Zweifel mehr an dem Geschwindigkeitsverstoß gegeben sind, mit der Folge, dass auch eine Überprüfung der Messdateien durch einen Sachverständigen zu keinem abweichenden Ergebnis führen wird.
Wegen der aufgezeigten Besonderheiten des standardisierten Messverfahrens komme es deshalb nach einer durchgeführten Beweisaufnahme, in der sich der Tatrichter zweifelsfrei vom Vorliegen eines standardisierten Messverfahrens überzeugt hat, im Ergebnis zum Gleichlauf von Aufklärungspflicht und fair-trial-Grundsatz. Wenn nämlich einerseits der durch ein standardisiertes Messverfahren ermittelte Geschwindigkeitswert eine ausreichende Grundlage für eine Verurteilung des Betroffenen sein soll, soweit die Beweisaufnahme die Einhaltung der Prämissen für ein standardisiertes Verfahren ergeben hat, andererseits aber gleichwohl angenommen würde, das Tatgericht müsse die Hauptverhandlung aussetzen und in diesem Stadium des Verfahrens Einsicht in die digitalen Messdaten gewähren, mit der Folge, dass die tatrichterliche Entscheidung auf der Ablehnung eines entsprechenden Antrags des Betroffenen, der allein das Ziel hat, die Richtigkeit des so ermittelten Messwerts zu erschüttern, beruht oder auch nur beruhen könnte, würde dies einen nicht auflösbaren Wertungswiderspruch darstellen, der die Rechtsfigur des standardisierten Messverfahrens im Ergebnis aufgibt. Ein Rückgriff auf den fair-trial-Grundsatz ist demnach bei dieser rechtlichen Ausgangssituation ausgeschlossen.
III. Bedeutung für die Praxis
Mia san mia, oder: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Das BayObLG hält beharrlich an seinem starren Verständnis des standardisierten Messverfahrens fest, dass für den Betroffenen eine „black box“ bedeutet, gegen die er sich mangels Kenntnis der Messdatei nicht zur Wehr setzen kann. Dazu ist hier schon alles gesagt worden (etwaDeutscherVRR 1/2020, 19). Und dabei setzt das BayObLG dem hier besonders deutlich noch die Krone auf, indem es in diesem Bereich eine rügefähige Beeinträchtigung der Verteidigung bei Verweigerung der Einsicht rundweg zurückweist, dabei gleich den BGH für seine Sicht vereinnahmt und den vernünftigen Ansatz des OLG Karlsruhe a.a.O. kurzerhand als widersprüchlich verwirft. Dabei hat das OLG Karlsruhe in der Sache nichts anderes als der BGH gesagt: Auch standardisierte Messverfahren liefern nicht unter allen Umständen stets zuverlässige Ergebnisse. Ein fehlerhaftes Ergebnis kann aber nicht nur aufgrund der Durchführung der Messung als solcher entstehen (so BayObLG), sondern trotz genereller PTB-Zulassung auch wegen eines Fehlers der Geräteart oder des konkret eingesetzten Geräts. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis des standardisierten Messverfahrens kann dann in Ansehung des fair-trial-Grundsatzes nur bedeuten, dass der Betroffene zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens die Möglichkeit haben muss, die Messdatei zu erlangen und sachverständig prüfen zu lassen, um überhaupt konkrete Einwände erheben zu können. Der Satz, es erscheine ausgeschlossen, „dass eine Verurteilung etwa wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes auf einer unterbliebenen Einsichtnahme in die digitale Messdatei beruht oder beruhen könnte“, ist daher nicht nachvollziehbar. Er bedeutet nichts anderes als: Es gibt keine Fehler des Geräts. Es ist mehr als überfällig, dass der 4. Senat des BGH sich gegen diese Vereinnahmung über eine Vorlage nach § 121 Abs. 2 GVG zur Wehr setzen kann oder das BVerfG dem ein Ende setzt.
RiAGDr. Axel Deutscher, Bochum