Beitrag

Einsichtsrecht in nicht bei der Bußgeldakte befindliche Messunterlagen

1. Aus dem Recht auf ein faires Verfahren kann sich im Zusammenhang mit einer standardisierten Messung im Straßenverkehr ein Anspruch des Betroffenen auf Zugang zu nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Verfolgungsbehörde vorhandenen und zum Zwecke der Ermittlungen entstandenen bestimmten Informationen, hier der sog. „Rohmessdaten“ einer konkreten Einzelmessung, ergeben (Anschluss an BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18).

2. Demgegenüber wird durch die bloße Versagung der Einsichtnahme bzw. die Ablehnung der Überlassung nicht zu den Bußgeldakten gelangter sog. „Rohmessdaten“ das rechtliche Gehör des Betroffenen (Art. 103 Abs. 1 GG) regelmäßig nicht verletzt (Festhaltung u.a. an BayObLG, Beschl. v. 9.12.2019 – 202 ObOWi 1955/19 und KG, Beschl. v. 2.4.2019 – 122 Ss 43/19).

3. Ein Anspruch des Betroffenen und seiner Verteidigung auf Einsichtnahme und Überlassung der (digitalen) Daten der gesamten Messreihe besteht nicht (u.a. Anschluss an OLG Zweibrücken, Beschl. v. 5.5.2020 – 1 OWi 2 SsBs 94/19 = zfs 2020, 413 und 27.10.2020 – 1 OWi 2 Ss Bs 103/20).

(Leitsätze des Gerichts)

BayObLG, Beschl. v. 4.1.2021 – 202 ObOWi 1532/20

I. Sachverhalt

Dem Betroffenen wurde eine Geschwindigkeitsüberschreitung um 40 km/h (innerorts) vorgeworfen. Die Messung erfolgte mit dem Gerät PoliScan Speed. Er wurde zu einer Geldbuße von 320 EUR und einem Fahrverbot von einem Monat verurteilt. Im verwaltungsbehördlichen Verfahren hatte er den Antrag gestellt, ihm die Messdatei samt Dateitoken und Passwort mit den Messbildern der gesamten Messreihe vom Tattag zur Verfügung zu stellen, weil anderenfalls keine sachgerechte Überprüfung der Ordnungsgemäßheit der Messung durch den vom Betroffenen zu beauftragenden Sachverständigen möglich sei. Die Behörde lehnte den Antrag ebenso ab wie später das AG den ihm gegenüber nochmals gestellten Antrag, weil sich die genannten Dokumente nicht bei der Akte befanden. In der Hauptverhandlung stellte die Verteidigung einen „Beweisantrag“ auf Beziehung und Herausgabe „sämtlicher“ Rohmessdaten sowie der digitalen Falldatensätze, der Statistik-Datei im, Case-List u.a. Der Beweisantrag wurde zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren und des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das BayObLG, und zwar der Senat in der Besetzung mit drei Richtern (§ 80a Abs. 3 OWiG), hat der Rechtsbeschwerde stattgegeben und die Sache an das AG zurückverwiesen.

II. Entscheidung

1. Das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren sei verletzt, soweit der Verteidigung trotz ihrer Anträge die digitale Messdatei (einschließlich der Rohmessdaten) der verfahrensgegenständlichen Messung nicht zur Verfügung gestellt worden ist. An dieser Kehrtwende in der Rspr. des BayObLG (vgl. VRR 5/2020, 20) dürfte nach der zutreffenden und eindeutigen Entscheidung des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 kein Weg mehr vorbeigeführt haben.

2. Sodann lehnt das BayObLG jedoch ein Recht auf Einsichtnahme und Überlassung der gesamten Messreihe vom Tattag ab (III. 3. des Beschl.). Die Rechtsbeschwerde sei unzulässig, weil ein sachlicher Zusammenhang mit dem Tatvorwurf nicht dargetan sei. Aus der Betrachtung der gesamten Messreihe könnten keine für die Beurteilung der Verlässlichkeit der den Betroffenen betreffenden Messung relevanten Erkenntnisse hergeleitet werden (vgl. OLG Zweibrücken, Beschl. v. 5.5.2020 – 1 OWi 2 SsBs 94/19, zfs 2020, 413 u.a.). Das habe die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) in einer Stellungnahme „überzeugend dargelegt“.

3. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liege neben der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nicht vor. Der Schutzbereich des Art. 103 Abs. 1 GG sei nicht berührt, wenn es um die Zugänglichmachung von Informationen gehe, die dem Gericht nicht vorliegen und die es sich selbst erst verschaffen müsste.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Das BVerfG hat in seinem Kammerbeschluss vom 12.11.2020 (2 BvR 1616/18, VRR 1/2021, 4 [in dieser Ausgabe] ) unmissverständlich im Sinne der schon zuvor herrschenden Auffassung (vgl. im Einzelnen Burhoff/Niehaus in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Stichwort „Akteneinsicht, Umfang, Messunterlagen, Bedienungsanleitung u.a.“ m.w.N.) entschieden, dass der Betroffene ein Recht auf Waffengleichheit mit den Verfolgungsbehörden hat und deshalb das Recht auf möglichst frühzeitigen und umfassenden (!) Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen könnte. Diese für die Praxis bedeutsame Klarstellung in der bekannten, schon seit nahezu einem Jahrzehnt währenden Kontroverse um das Einsichtsrecht des Betroffenen vollzieht das BayObLG lediglich hinsichtlich der Messdaten der den Verurteilten betreffenden Messung nach (entgegen seinem Beschl. VRR 5/2020, 20).

2. Sodann folgen jedoch Ausführungen des BayObLG, die dem Beschluss des BVerfG vom 12.11.2020 erkennbar widersprechen dürften und das dem Betroffenen zuerkannte Einsichtsrecht zu entwerten drohen, indem sich das BayObLG auf den Standpunkt stellt, das Einsichtsrecht des Betroffenen erstrecke sich nicht auf die Messdaten des gesamten Tattages (somit auch auf Falldatensätze Dritter), sondern sei auf die konkrete Einzelmessung des Betroffenen beschränkt. Das folge daraus, dass aus den Daten der gesamten Messreihe keine für die Beurteilung der den Betroffenen betreffenden Messung relevanten Erkenntnisse herzuleiten seien.

Das BVerfG hat hingegen in seinem Beschl. v. 12.11.2020 ebenso eindeutig wie zutreffend ausgeführt, dass das Gericht im Fall der Anwendung standardisierter Messverfahren zwar nicht verpflichtet ist, von Amts wegen Ermittlungen zur Richtigkeit der Messung anzustellen. Es muss aber dem Betroffenen durch Zurverfügungstellung der Messunterlagen ermöglichen, selbst die Richtigkeit der Messung zu hinterfragen – und zwar ohne dass es darauf ankommt, „ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehende Informationen für erforderlich erachtet“ (a.a.O., Rn 57). Ebendies hat das BVerfG schon in seiner „Spurenakten“-Entscheidung eindeutig formuliert, auf die der Beschl. v. 12.11.2020 zu Recht Bezug nimmt (vgl. auch Cierniak/Niehaus DAR 2018, 541, 542; BVerfGE 63, 45, 67): „Hierdurch werden seine Verteidigungsmöglichkeiten erweitert, da er selbst nach Entlastungsmomenten suchen kann, die zwar fernliegen mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind“. Wie das BVerfG in seinem Beschluss v. 12.11.2020 ausdrücklich ausführt, kann die Verteidigung deshalb „grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen“ (a.a.O., Rn 57). Hingegen obliegt es weder den Gerichten noch sind sie dazu befugt, das Einsichtnahmerecht des Betroffenen mit der Begründung einzuschränken, dass das Gericht (oder gar die PTB) meint, dass der Betroffene der Einsichtnahme in die begehrten Unterlagen und Dateien nicht bedürfe, weil sich daraus – nach Auffassung des Gerichts – nichts Relevantes ergeben werde. Weder mit den zitierten Ausführungen des BVerfG in seinem Beschl. v. 12.11.2020 noch mit den genannten Grundsätzen der Spurenakten-Entscheidung des BVerfG setzt sich das BayObLG – obwohl es die Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung auf den Senat übertragen hat – auch nur ansatzweise auseinander.

Stattdessen beschränkt sich das Gericht auf die Behauptung, es sei ein „sachlicher Zusammenhang mit dem Tatvorwurf“ nicht hinreichend dargetan. Dies dürfte den o.g. vom BVerfG zutreffend formulierten Grundsätzen widersprechen. Denn lediglich zur Vermeidung von „Rechtsmissbrauch“ (a.a.O., Rn 56) hat das BVerfG im Anschluss an die zitierten Grundsätze ausgeführt, dass das Einsichtsrecht nicht zu einer „uferlosen Ausforschung“ berechtige. Die begehrten Informationen müssen deshalb „in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhangmit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen“ (a.a.O., Rn 57). Das ist hinsichtlich der Messdaten des gesamten Tattages indes erkennbar der Fall. Dementsprechend beschränkt das BVerfG das Einsichtsrecht auch ausdrücklich nicht (wie das BayObLG) auf die Messdaten der konkreten Einzelmessung des Betroffenen, was anderenfalls nahe gelegen hätte.

Denn der vom Betroffenen zu beauftragende Sachverständige wird die Daten des gesamten Messtages etwa verwenden können (und dieser Daten gerade bedürfen), um die Richtigkeit der Messung des Betroffenen auf ihre Plausibilität überprüfen zu können oder aber gerade Zweifel daran zu belegen. Eben darum geht es bei der Gewährung des Einsichtsrechts, denn nach den Grundsätzen über das standardisierte Messverfahren muss der Betroffene nicht die Richtigkeit der Messung widerlegen, sondern zur Stellung eines Beweisantrags, dem das Gericht dann nachzugehen hat, konkrete Anhaltspunkte für eine unzutreffende Messung vortragen. Durch die Beschränkung auf die Daten der konkreten Einzelmessung des Betroffenen wird dem Betroffenen diese Möglichkeit durch Vergleich mit den übrigen Messungen des Tattages genommen. Das widerspricht dem oben dargelegten Gewährleistungsgehalt des aus dem Recht auf ein faires Verfahren resultierenden Einsichtsrechts des Betroffenen.

3. Fazit: Das BayObLG hat den bedeutsamen Beschluss des BVerfG vom 12.11.2020 nur zu einem Teil nachvollzogen und will im übrigen offenbar an der bisherigen „anachronistisch wirkenden Blockadehaltung“ (vgl. Cierniak/Niehaus NStZ 2014, 527; Deutscher StRR 7/2018, 23 [„Trauerspiel“] festhalten. Das ist – nachdem das BVerfG mit seinem Beschluss die Grundlage für eine Handhabung in der Praxis geschaffen hat, die sowohl die Belange der Praxis als auch die Rechte des Betroffenen hinreichend berücksichtigt – zu bedauern. Die Verteidigung wird in diesen Fällen weiterhin um das Recht des Betroffenen kämpfen müssen, die Ordnungsgemäßheit der Messung mittels standardisierter Messverfahren eigeninitiativ überprüfen zu können.

RiLG Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…