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Einsichtsrecht in Messunterlagen bei Anwendung standardisierter Messverfahren nach dem Beschluss des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18

I.Die Entscheidung des BVerfG vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18

In einer der meistdiskutierten Fragestellungen der vergangenen Jahre auf dem Gebiet des Ordnungswidrigkeitenrechts – dem Recht des Betroffenen, Einsicht in die Messunterlagen bei Beweisführung mittels „standardisierter Messverfahren“ zu erhalten – dürfte das BVerfG mit seinem Kammerbeschluss v. 12.11.2020 (2 BvR 1616/18) nunmehr im Grundsatz für Klarheit gesorgt haben. Gegenstand des Verfahrens war die Verurteilung wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes zu einem Bußgeld von 160 EUR und zu einem Fahrverbot von einem Monat. Die Verteidigung hatte im Vorfeld Einsicht in „1. in die gesamte Verfahrensakte, 2. eine ggf. vorhandene Videoaufzeichnung, 3. den ggf. vorhandenen Messfilm, 4. ggf. die Rohmessdaten der gegenständlichen Messung in unverschlüsselter Form (…), 5. in die sog. „Lebensakte“ (…), 6. in die Bedienungsanleitung des Herstellers des verwendeten Messgerätes (…), 7. in den Eichschein des verwendeten Messgerätes, 8. in den Ausbildungsnachweis des Messbeamten“ verlangt, diese Informationen aber überwiegend nicht erhalten. In der Hauptverhandlung wies das AG einen Aussetzungsantrag der Verteidigung ab und verurteilte den Betroffenen. Dessen Rechtsbeschwerde verwarf das OLG Bamberg mit der Begründung, die Nichtgewährung der Einsicht in die nicht bei der Akte befindlichen Unterlagen begründe keinen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens oder des rechtlichen Gehörs, da es allein um eine Frage der Aufklärungspflicht gehe, die an § 244 Abs. 2 StPO zu messen sei. Die entgegenstehende Auffassung des VerfGH des Saarlandes sei „unhaltbar“.

1. Einsichtsrecht aus dem Recht auf ein faires Verfahren

Es war schon vor der Entscheidung des BVerfG weitgehend anerkannt, dass entgegen der Auffassung des OLG Bamberg u.a. der Betroffene einen Anspruch auf Einsicht in die Messunterlagen (namentlich die o.g. Unterlagen und Daten) hat, der sich aus dem Akteneinsichtsrecht (§ 46 OWiG i.V.m. § 147 StPO) ergibt, wenn sich die Unterlagen bei der Akte befinden, und aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK), soweit dies nicht der Fall ist (umfassende Rechtsprechungsnachweise bei Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 5. Aufl., 2018, Rn 229 ff.; vgl. VerfGH Saarland, VRR 6/2018, 15; KG, Beschl. v. 27.4.2018 – 3 Ws (B) 133/18; DAR 2013, 211; OLG Jena NJW 2016, 1457; OLG Naumburg DAR 2016, 215; OLG Brandenburg StraFo 2017, 31; Cierniak zfs 2012, 664, 669; Burhoff VRR 2011, 250; ders., VRR 2012, 273; VRR 2012, 353; ders., VRR 2012, 434; Cierniak/Niehaus DAR 2014, 2, 4 ff.; dies. NStZ 2014, 527).

Denn erst durch das Recht auf Information über diejenigen Umstände, die den Verfolgungsbehörden bekannt sind, entsteht eine „Parität des Wissens“, durch die der Betroffene überhaupt in seine Stellung als Prozesssubjekt einrücken kann (Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, „Akteneinsicht, Umfang, Messunterlagen, Bedienungsanleitung u.a. “, Rn 219 ff.; Cierniak/Niehaus DAR 2018, 541 m.w.N.). Ohne einen solchen Gleichstand des Wissens („Waffengleichheit“) ist eine Wahrnehmung der Aufgaben der Verteidigung nicht möglich. Diese wird ohne die Informationen nicht hinreichend beurteilen können, ob Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen oder gar die Anstellung eigener Ermittlungen (z.B. die Beauftragung eines Sachverständigen) ratsam ist. Deshalb folgt aus Art. 6 Abs. 1 EMRK die Verpflichtung der Verfolgungsbehörden, „das gesamte in ihren Händen befindliche für und gegen den Angeklagten sprechende Beweismaterial der Verteidigung offen zu legen“. Nur unter diesen Voraussetzungen stellt ein Verfahren, in dem die Grundsätze über die Verwendung standardisierter Messverfahren zur Anwendung kommen, auch ein faires Verfahren i.S.d. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 EMRK dar. Die Verwendung standardisierter Messverfahren steht und fällt daher mit der Gewährung von Informationsparität (Cierniak zfs 2012, 664, 672; Cierniak/Niehaus DAR 2018, 541, 544).

2. Gegenauffassung des OLG Bamberg sowie des BayObLG und Kritik

Soweit insbesondere das OLG Bamberg (VRR 7/2018, 14; VRR 11/2017, 14) und zuletzt auch das BayObLG (VRR 5/2020, 20 = DAR 2020, 467) einen gegenteiligen Standpunkt eingenommen haben (vgl. dazu Cierniak/Niehaus NStZ 2014, 527: „anachronistisch wirkende Blockadehaltung“), wurde insbesondere verkannt, dass zwischen der Amtsaufklärungspflicht des Gerichts einerseits (§ 77 Abs. 1 S. 1 OWiG, § 244 Abs. 2 StPO) und dem Anspruch des Betroffenen auf Einsicht in die Messunterlagen, damit dieser eigeninitiativ die Grundlagen der Beweisführung überprüfen kann, andererseits, zu unterscheiden ist (Burhoff/Niehaus, OWi, a.a.O.; Cierniak/Niehaus DAR 2018, 541, 542 und NStZ 2014, 527). Das Gericht ist im Fall der Anwendung standardisierter Messverfahren nicht verpflichtet, von Amts wegen Ermittlungen zur Richtigkeit der Messung anzustellen oder ohne konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit ein Sachverständigengutachten in Auftrag zu geben. Es muss aber dem Betroffenen durch Zurverfügungstellung der Messunterlagen ermöglichen, selbst die Richtigkeit der Messung zu hinterfragen – und zwar auch dann, wenn das Gericht diese Informationen für unerheblich hält.

3. Entscheidung des BVerfG

Die vorstehenden Grundsätze zum bestehenden Einsichtsrecht des Betroffenen auch in die nicht bei der Akte befindlichen Messunterlagen hat das BVerfG mit seinem Beschl. v. 12.11.2020 unmissverständlich bestätigt und der Rechtsprechung insbesondere des OLG Bamberg, dessen die Rechtsbeschwerde des Betroffenen verwerfenden Beschluss es aufgehoben hat, eine deutliche Absage erteilt. Für die Praxis dürfte daher künftig das Bestehen eines Einsichtsrechts in die (vorhandenen, etwa vom Messgerät gespeicherten) Messunterlagen vorauszusetzen sein.

II.Folgerungen für die Praxis

1. Bestätigung der Grundsätze über die Anwendung standardisierter Messverfahren

Die Anerkennung des Einsichtsrechts des Betroffenen stellt dabei, wie das BVerfG ausführlich darlegt, die Grundsätze über die Anwendung standardisierter Messverfahren nicht in Frage – im Gegenteil: Wie oben gezeigt, ist das Einsichtsrecht des Betroffenen gerade die Voraussetzung für die Anerkennung der Verfahrenserleichterungen zugunsten der Gerichte in diesen Fällen. Das entspricht im Übrigen gerade der Rechtsprechung des BGH, mit der die Grundsätze über das standardisierte Messverfahren erst entwickelt worden sind (vgl. BGHSt 39, 291 = NJW 1993, 3081, 3083: „Sein Anspruch [der des Betroffenen], nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Meßdaten verurteilt zu werden, bleibt auch dann gewahrt, wenn (!) ihm die Möglichkeit eröffnet ist, den Tatrichter im Rahmen seiner Einlassung auf Zweifel aufmerksam zu machen und einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen.“

Die Anerkennung des Einsichtsrechts wird auch der Verteidigung in diesen Fällen nicht ohne weiteres zum Erfolg verhelfen. Ergibt die Auswertung der Messunterlagen (unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen), dass keine Zweifel an der Richtigkeit der Messung vorliegen, werden zum Tatbestand etwa des Geschwindigkeitsverstoßes keine Einwendungen erhoben werden können. Insoweit hat bisher gerade die unberechtigte Verweigerungshaltung mancher Behörden und Gerichte der Verteidigung erst den Rechtsbeschwerdegrund geliefert (§ 338 Nr. 8 StPO: unzulässige Beschränkung der Verteidigung) und dadurch Mehraufwand verursacht. Ob der erhebliche Kostenaufwand für den Betroffenen bzw. dessen Rechtsschutzversicherung sich im Übrigen als „sinnvoll“ darstellt, ist eine Frage, deren Beantwortung nicht den Gerichten obliegt (Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 541, 543). Einschränkungen der Verfahrensrechte des Betroffenen lassen sich aus solchen Erwägungen nicht herleiten.

2. Verfahrenseffiziente Handhabung der Einsicht

Hinsichtlich des Arguments, dass der Aufwand für die Behörden und Gerichte im Zusammenhang mit der Einsichtsgewährung nicht dazu führen darf, dass in den Massenverfahren der Verkehrsordnungswidrigkeiten die Durchführung des Verfahrens über das hinzunehmende Maß erschwert wird, führt das BVerfG ebenfalls völlig zu Recht aus, dass etwaigen praktischen Bedenken durch eine „verfahrenseffiziente Handhabung der Einsicht“ begegnet werden kann (a.a.O. Rn 58). So wird man vom Verteidiger die Übersendung eines tauglichen Leer-Datenträgers (CD, DVD, USB-Stick) verlangen können, und dieser sollte dies von sich aus anbieten (Burhoff/Niehaus, OWi, a.a.O.). Bedienungsanleitungen und andere Unterlagen können etwa als elektronisches Dokument (pdf etc.) zum download bereitgestellt oder per E-Mail übersandt werden (vgl. Cierniak/Niehaus DAR 2014, 2, 5).

3. Einschränkungen des Einsichtsrechts?

Hinsichtlich des Umfangs des Einsichtsrechts versieht das BVerfG seine Ausführungen mit einigen generalklauselartigen Einschränkungen. Das Zugangsrecht zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen bestehe „nicht unbegrenzt“ (a.a.O., Rn 56 f.). Die begehrten Informationen müssten „in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen“.

Mit diesen „salvatorischen“ Einschränkungen dürften allerdings in der Praxis relevante Beschränkungen des Einsichtsrechts nicht verbunden sein. Denn viel bedeutsamer als diese allgemein gehaltenen Einschränkungen sind die sich unmittelbar daran anschließenden Ausführungen, dass die Verteidigung „grundsätzlich auch jeder bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen“ darf und es nicht darauf ankommt, „ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehenden Informationen zur Überzeugung von dem Verstoß für erforderlich erachtet“ (a.a.O., Rn 57); so bereits KG, Beschl. v. 2.4.2019 – 3 Ws (B) 97/19; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 10.3.2020 – IV-2 RBs 30/20; LG Bielefeld, Beschl. v. 16.7.2020 – 10 Qs 220/20.

Die Verteidigung wird daher zur Verwirklichung des Einsichtsrechts nicht etwa der Bußgeldbehörde oder dem Gericht darlegen müssen, inwiefern ein vom Betroffenen zu beauftragender Sachverständiger Erkenntnisse zur Richtigkeit der Messung etwa aus den zur Verfügung zu stellenden Rohmessdaten gewinnen kann und wird. Das bleibt der Verteidigung und dem von ihr ggf. beauftragten Sachverständigen vorbehalten.

Die Verteidigung wird insoweit darauf verweisen, dass Gegenstand des Verfahrens beim BVerfG gerade die genannten Rohmessdaten, der gesamte Messfilm usw. waren (a.a.O., Rn 3) und das BVerfG die Nichtgewährung des Zugangs zu diesen Informationen gerade nicht von seinen Ausführungen zum bestehenden Einsichtsrecht ausgenommen hat. Das BVerfG geht daher erkennbar davon aus, dass hinsichtlich dieser Informationen die von ihm formulierten Grenzen des Einsichtsrechts gerade gewahrt sind.

4. Keine Vorentscheidung für die Frage der Verwertbarkeit von Messergebnissen ohne Speicherung der Rohmessdaten

Die Entscheidung des BVerfG enthält (da ein solcher Fall nicht vorlag) keine Ausführungen zu der weiteren umstrittenen Frage, ob das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren auch dann verletzt wird, wenn die Rohmessdaten von dem zur Anwendung gelangten Messgerät von vornherein nicht gespeichert werden. In diesen Fällen würde daher das Einsichtsrecht des Betroffenen hinsichtlich dieser Daten leerlaufen, denn in etwas nicht Vorhandenes kann Einsicht nicht gewährt werden.

Der VerfGH des Saarlandes hat in seinem Urt. v. 5.7.2019 – Lv 7/17 (VRR 8/2019, 11) einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren in diesen Fällen angenommen, weil der Betroffene ansonsten das Messergebnis „auf Gedeih und Verderb“ hinnehmen müsste, ohne es überprüfen zu können. Das sei rechtsstaatlich nicht hinnehmbar. Die Folge wäre ein Verwertungsverbot hinsichtlich des Messergebnisses. In der Rechtsprechung der OLG ist diese Entscheidung bisher einhellig auf Ablehnung gestoßen (etwa OLG Karlsruhe, Beschl. v. 8.1.2020 – 3 Rb 33 Ss 763/19; OLG Oldenburg, Beschl. v. 9.9.2019 – 2 Ss (Owi) 233/19 (ES 8.0); OLG Stuttgart, Beschl. v. 18.7.2019 – 6 Rb 28 Ss 618/19 (Dort hatte der Betroffene das Fehlen von Rohmessdaten nicht gerügt); OLG Zweibrücken, Beschl. v. 23.7.2019 – 1 OWi 2 Ss Rs 68/19, zfs 2019, 591 (Poliscan Speed); OLG Köln, Beschl. v. 27.9.2019 – III-1 RBs 362/19 (Traffistar). Die vom VerfGH des Saarlandes aufgestellten Anforderungen an ein faires Verfahren seien „überzogen“ (OLG Hamm, Beschl. v. 13.2.2020 – 1 RBs 255/19; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 10.3.2020 – IV-2 RBs 30/20 und v. 27.4.2020 – IV-2 RBs 61/20; OLG Schleswig, Beschl. v. 5.6.2019 – I OLG 123/19; Beschl. v. 20.12.2019 – II OLG 65/19 m. krit. Anm. Niehaus VRR 2/2020, 25; OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.1.2020 – (1 Z) 53 Ss-OWi 13/20 (13/20); BayObLG, Beschl. v. 28.9.2020 – 201 ObOWi 991/20; KG, Beschl. v. 16.9.2020 – 3 Ws (B) 207/20). Auch insoweit wird es absehbar einer Entscheidung des BVerfG bedürfen, nachdem gegenwärtig nicht ersichtlich ist, dass es zu einer Divergenzvorlage zum BGH kommen wird.

In der Sache dürfte vieles für die Rechtsauffassung des VerfGH des Saarlandes sprechen (vgl. Burhoff/Niehaus, a.a.O.) – entgegen den o.g. Entscheidungen der Oberlandesgerichte, die jedoch der Argumentation des VerfGH, abgesehen von der Feststellung, dass andere Oberlandesgerichte dies auch so sehen, inhaltlich zumeist wenig entgegenzusetzen haben (vgl. dazu Niehaus VRR 2/2020, 25 ff.). Wenn der Betroffene im Rechtsstaat nicht verpflichtet ist, das Ergebnis einer Messung hinzunehmen, ohne eigeninitiativ die Richtigkeit der Messung überprüfen zu können (BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18), dann werden die Verfolgungsbehörden dieses Recht nicht unterlaufen dürfen, indem sie sich Messverfahren bedienen, die eine solche Überprüfung dadurch einschränken, dass sie für die Überprüfung erforderliche Daten (nach der maßgeblichen Sichtweise der Verteidigung, s.o.) von vornherein nicht speichern, obwohl dies technisch möglich wäre.

5. Zum Vorgehen der Verteidigung

a) Verweigerte Einsicht in vorhandene Messunterlagen

Wird der Verteidigung die Einsichtnahme in die Messunterlagen verweigert, so muss die Geltendmachung des Rechtsverstoßes von der Verteidigung vorbereitet werden (ausführlich Burhoff/Niehaus, a.a.O.; vgl. auch das Vorgehen der Verteidigung in dem vom BVerfG entschiedenen Fall, a.a.O., Rn 2–13).

  • Der Verteidiger muss zunächst im Ermittlungsverfahren (bei der Verwaltungsbehörde und/oder beim Amtsgericht) die Zurverfügungstellung der Messunterlagen beantragt haben – ggf. wiederholt und unter Fristsetzung, sofern er auf seinen Antrag innerhalb angemessener Frist keine Antwort erhalten hat (vgl. KG, Beschl. v. 12.11.2020 – 3 Ws (B) 275/20).
  • Zur Formulierung eines solchen Antrags kann beispielhaft auf die Wiedergabe des Antrags der Verteidigung im Fall des BVerfG (a.a.O., Rn 3) hingewiesen werden (vgl. auch oben zu I.).
  • Wurde der Antrag abgelehnt oder hat der Verteidiger innerhalb einer angemessenen oder von ihm gesetzten Frist keine Antwort erhalten, muss er gegen die Verweigerung der Einsichtnahme in die Messunterlagen durch die Behörde zur Erhaltung der späteren Rechtsbeschwerde den Antrag auf gerichtliche Entscheidung stellen (§ 62 OWiG), vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27.4.2020 – IV-RBs 61/20.
  • Zu Beginn der Hauptverhandlung muss der Verteidiger sodann einen Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung wegen nicht (ausreichend) gewährter Akteneinsicht stellen. Wird dieser vom AG abgelehnt, muss diese Maßnahme nach § 238 Abs. 2 StPO beanstandet werden (auch beim Einzelrichter wie im Ordnungswidrigkeitenverfahren), um den „Beschluss des Gerichts“ i.S.d. § 338 Nr. 8 StPO zu erlangen (vgl. Burhoff VRR 2011, 250, 254; Cierniak/Niehaus DAR 2014, 2, 7; dies. NStZ 2014, 527, 528 und DAR 2018, 541, 543).
  • Mit der Rechtsbeschwerde ist dann die Verweigerung/Beschränkung der Akteneinsicht mit der Verfahrensrüge geltend zu machen (§ 338 Nr. 8 StPO: unzulässige Beschränkung der Verteidigung, vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.7.2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19, NStZ 2019, 620).

b) Keine Speicherung etwa von Rohmessdaten durch das verwendete Gerät

Will die Verteidigung rügen, dass die Ergebnisse einer standardisierten Geschwindigkeitsmessung verbotenerweise verwertet worden sind – entsprechend der Rechtsprechung des VerfGH des Saarlandes (Urt. v. 5.7.2019 – Lv 7/17) –, weil das verwendete Gerät die Rohmessdaten nicht speichert und das bestehende Einsichtsrecht des Betroffenen insoweit teilweise leerläuft, muss sie gegen die Verwertung rechtzeitig Widerspruch erheben („Widerspruchslösung“, vgl. KG, Beschl. v. 16.9.2020 – 3 Ws (B) 207/20; OLG Stuttgart, Beschl. v. 18.7.2019 – 6 Rb 28 Ss 618/19), um die Rüge der Unverwertbarkeit in der Rechtsbeschwerdeinstanz zulässig vorbringen zu können. In der Begründung der Rechtsbeschwerde ist die Erhebung des Widerspruchs in einer den Anforderungen des § 79 Abs. 3 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügenden Form vorzutragen.

c) Zulassungsfälle, § 80 Abs. 1, Abs. 2 OWiG

Wird gegen den Betroffenen keine Geldbuße verhängt, die 250 EUR übersteigt, so schränkt § 80 OWiG die Möglichkeit der Rechtsbeschwerde in erheblichem Umfang ein. Noch weiter eingeschränkt ist die Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 2 OWiG, wenn gegen den Betroffenen keine Geldbuße von mehr als 100 EUR festgesetzt worden ist und kein Fahrverbot verhängt wurde.

Nach der Rechtsprechung des VerfGH Rheinland-Pfalz (Urt. v. 15.1.2020 – VGH B 19/19) und des VerfGH Baden-Württemberg (Urt. v. 14.12.2020 – 1 VB 64/17) liegt insoweit der Zulassungsgrund des § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG vor (Fortbildung des Rechts sowie Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung), wenn das OLG vom Nichtbestehen eines Einsichtsrechts ausgehen will. Lässt es die Rechtsbeschwerde nicht zu und legt es die Sache nicht im Wege der Divergenzvorlage dem BGH vor (§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, § 121 Abs. 2 GVG), so verletzt dies die Ansprüche des Betroffenen auf effektiven Rechtsschutz und auf den gesetzlichen Richter.

Im Übrigen kann der Betroffene in diesen Fällen nur die Versagung des rechtlichen Gehörs rügen (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG).

Da aber nach wohl h.M. in den vorstehend behandelten Fällen der Verweigerung der Einsicht in Messunterlagen nicht der Schutzbereich des Anspruchs auf rechtliches Gehör berührt ist, sondern ausschließlich das Recht auf ein faires Verfahren (vgl. Cierniak/Niehaus DAR 2020, 69, 73 f. m.w.N.), wäre dem Betroffenen, dem im behördlichen und im amtsgerichtlichen Verfahren die Einsicht in die Messunterlagen verweigert wird, in den Zulassungsfällen die Möglichkeit einer Rechtsbeschwerde verwehrt, soweit nicht § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG eingreift. Das BVerfG hat in seinem Beschl. v. 12.11.2020 die Frage, ob neben dem Anspruch auf ein faires Verfahren auch das Recht auf rechtliches Gehör verletzt ist, dahinstehen lassen (a.a.O., Rn 19, 69).

Eine Zulassung der Rechtsbeschwerde könnte dann nur erfolgen, wenn man im Rahmen der Auslegung des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG den Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren der Versagung des rechtlichen Gehörs gleichstellt (vgl. Cierniak/Niehaus DAR 2020, 69, 74 m.w.N.). Das wird jedoch in der Rechtsprechung der OLG bisher abgelehnt (KG, Beschl. v. 2.4.2019 – 3 Ws (B) 97/19, „eindeutiger Wortlaut“ des § 80 Abs. 1 Nr. 2, Beschl. v. 22.9.2020 – 3 Ws (B) 182/20; offen gelassen von OLG Karlsruhe, Beschl. v. 3.4.2019 – 2 Rb 8 Ss 194/19).

Es ergäbe sich daher die Rechtsfolge, dass der Betroffene, dem die Einsicht in vorhandene Messunterlagen rechtswidrig verweigert wird, in den Zulassungsfällen ggf. keine Rechtsbeschwerde einlegen kann, sondern nach dem amtsgerichtlichen Urteil Verfassungsbeschwerde einlegen müsste, um seine Rechte zu wahren. Das widerspricht der ratio des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG, der gerade dazu dienen soll, die ansonsten gegebene Erforderlichkeit einer Verfassungsbeschwerde zu vermeiden. Aus der Entscheidung des BVerfG ergeben sich daher auch weitere Argumente für eine Gleichstellung des Rechts auf ein faires Verfahren mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör im Rahmen des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG, wie dies auch der 58. Verkehrsgerichtstag (2020) empfohlen hat (Arbeitskreis IV, Empfehlung Nr. 6, S. 2). Mit Blick auf die Entscheidung des BVerfG und die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde dürfte es aber nahe liegen, dass die Behörden und Gerichte künftig auch in den Zulassungsfällen des § 80 OWiG dem Einsichtsrecht des Betroffenen genügen werden, so dass sich dann insoweit die Frage der Rechtsbeschwerdemöglichkeit nicht mehr stellt , vgl. jetzt auch schon BayObLG, Beschl. v. 4.1.2021 – 202 ObOWi 1532/20.

RiLG Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

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