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Zurechnung des Todes und der Körperverletzung von Berufsrettern

Dem Täter eines fahrlässig herbeigeführten Brand- oder Explosionsgeschehens können der durch Rettungsmaßnahmen verursachte Tod oder die Körperverletzung von Berufsrettern zugerechnet werden (im Anschluss an BGHSt 39, 322).

(Leitsatz des Gerichts)

BGH, Beschl. v. 5.5.2021 – 4 StR 19/20

I. Sachverhalt

Das LG hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung, fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässigen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion verurteilt. Der Angeklagte hatte als Arbeiter eines Subunternehmens auf dem Werksgelände der BASF SE in Ludwigshafen Dehnungsbögen einer zu erneuernden Rohrleitung abzubauen. Dazu musste er das Metallrohr der für die Dauer der Arbeiten stillgelegten Leitung mit einem Trennschleifer zerlegen. Zwei Mitarbeiter gaben wie gewöhnlich die Arbeiten frei und kennzeichneten dabei die Rohrleitung mit Markierungen. Danach war der Angeklagte selbst dafür verantwortlich, die zu bearbeitende Leitung als solche anhand der Markierungen zu identifizieren. Gleichwohl verwechselte der Angeklagte die betreffende Leitung versehentlich mit einer benachbarten gasführenden Rohrleitung und setzte dort den Trennschleifer an. Das durch den Schnitt austretende Gas entzündete sich an den Funken des Trennschleifers. In der Folge kam es zu zwei heftigen Explosionen, deren zweite eine Feuerwalze auslöste. Durch Hitze und Druckwellen kamen vier Feuerwehrleute der Werksfeuerwehr ums Leben, die sich inzwischen der Brandstelle genähert hatten. Vier weitere Feuerwehrleute und zwei Werksmitarbeiter, die sich zum Einweisen der Feuerwehr ebenfalls pflichtgemäß zur Brandstelle begeben hatten, wurden schwer verletzt. Die Feuerwehrleute und die beiden Werksmitarbeiter hatten den für Gefahrstoffeinsätze vorgeschriebenen Sicherheitsabstand von mindestens fünfzig Metern zur Brandstelle eingehalten. Jedoch war ihnen zum Zeitpunkt des Annäherns die äußere Erhitzung der Fernleitung und die daraus resultierende hohe Explosionsgefahr nicht bekannt. Der BGH hat die Revision des Angeklagten verworfen.

II. Entscheidung

Die Verurteilung des Angeklagten wegen tateinheitlicher fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung gemäß §§ 222, 229 sei rechtsfehlerfrei. Der Senat legt zunächst eingehend dar, dass das Verhalten des Angeklagten pflichtwidrig war, den Erfolg kausal herbeigeführt hat und dies für den Angeklagten objektiv und subjektiv vorhersehbar war. Auch sei ihm der Erfolg zurechenbar, denn bei pflichtgemäßem Handeln wären der Unfall und damit die Folgen mit Sicherheit verhindert worden (Pflichtwidrigkeitszusammenhang). Auch der Schutzzweckzusammenhang sei gegeben.

Ferner entfalle die Zurechnung der Tötungs- und Verletzungserfolge nicht nach den Grundsätzen der sog. bewussten Selbstgefährdung. Hiernach sei im Bereich der Körperverletzungs- und Tötungsdelikte ein Verletzungserfolg, insbesondere auch der Tod eines Menschen, einem Dritten, der dafür eine Ursache gesetzt hat, möglicherweise dann nicht zuzurechnen, wenn der Erfolg die Folge einer bewussten, eigenverantwortlich gewollten und verwirklichten Selbstgefährdung ist und sich die Mitwirkung des Dritten in einer bloßen Veranlassung oder Förderung des Selbstgefährdungsaktes erschöpft hat (BGHSt 39, 322 = NJW 1994, 205). Jedoch sei nach der Rechtsprechung des BGH der Grundsatz der Straffreiheit wegen bewusster Selbstgefährdung nicht schematisch anzuwenden, sondern unter anderem in solchen Fällen einzuschränken, in denen sich das Opfer durch eine vom Täter geschaffene Gefahrenlage veranlasst sieht, in das Geschehen rettend einzugreifen, und dadurch selbst geschädigt wird. Dies gelte, wenn der Täter durch seine deliktische Handlung die naheliegende Möglichkeit einer bewussten Selbstgefährdung dadurch schafft, dass er ohne Mitwirkung und ohne Einverständnis des Opfers eine erhebliche Gefahr für ein Rechtsgut des Opfers oder ihm nahestehender Personen begründet und damit für dieses ein einsichtiges Motiv für gefährliche Rettungsmaßnahmen schafft (BGHSt a.a.O.). Dieser für die Konstellation eines freiwillig eingreifenden Dritten entwickelte Rechtsgrundsatz sei auf die Zurechnung der Schäden solcher Personen übertragbar, die rechtlich aufgrund von Berufspflichten zum Eingreifen in Gefahrenlagen verpflichtet sind und sich in Erfüllung dieser Rechtspflicht selbst gefährden. Deren Tod oder Verletzung sei grundsätzlich demjenigen zuzurechnen, der die Gefahrenlage geschaffen hat (OLG Stuttgart NStZ 2009, 331 m. Anm. Puppe). Die maßgeblichen Erwägungen, die die Zurechnung bei Rettungsmaßnahmen durch nahestehende Personen begründen, träfen auf den pflichtigen Retter erst recht zu. Denn an die Stelle eines einsichtigen Motivs des freiwilligen Retters trete hier seine Rechtspflicht zum Eingreifen, die den psychischen Druck zu handeln erhöht und damit die Eigenverantwortlichkeit der Entscheidung des Retters durch die normative Vorgabe einschränkt. Bei berufsmäßigen Rettern komme noch hinzu, dass sie aufgrund ihrer höheren Fachkompetenz und des damit einhergehenden geringeren Verletzungsrisikos verpflichtet sind, höhere Risiken einzugehen, so dass der Täter auch mit gefährlichen Rettungsmaßnahmen rechnen muss. Ebenso wie dem Täter beim Gelingen der Rettungshandlung des pflichtigen Retters die Erfolgsabwendung zugutekommt, habe er im Fall des Misserfolgs dafür einzustehen. Nach diesen Maßstäben seien als pflichtige Retter die betroffenen Feuerwehrleute und die mit deren Einweisen betrauten Werksmitarbeiter, die sich jeweils aufgrund ihrer beruflichen Pflichtenstellung in den Gefahrenbereich des vom Angeklagten ausgelösten Brand- und Explosionsgeschehens begeben hatten, vom Schutzbereich der §§ 222, 229 StGB erfasst.

Ob abweichend davon eine Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs dann anzunehmen ist, wenn eine rechtliche Verpflichtung zur konkret vorgenommenen Rettungshandlung aufgrund ihrer Gefährlichkeit nicht bestand oder die Rettungshandlung außerdem von vornherein sinnlos oder mit offensichtlich unverhältnismäßigen Wagnissen verbunden war (BGHSt a.a.O.), könne der Senat auch für den Fall des Berufsretters offenlassen. Das liege hier nicht vor. Maßgeblich sei die Ex-ante-Sicht der betroffenen Rettungskräfte, die hier den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand zur Brandstelle einhielten und die hohe Explosionsgefahr nicht kannten. Dabei müssten sich die einzelnen Rettungskräfte weder das Wissen noch die Sorgfaltspflichtverletzungen anderer am konkreten Einsatz oder an dessen allgemeiner organisatorischer Vorbereitung beteiligter Personen zurechnen lassen (a.A. OLG Stuttgart a.a.O.). Denn soweit den betroffenen Rettungskräften die volle Kenntnis des Risikos fehlt, könne eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung gerade nicht angenommen werden.

Ob der BASF SE eine „Mitverantwortung“ durch Organisationsmängel anzulasten ist, braucht der Senat ebenfalls nicht zu entscheiden. Etwaige Organisationsmängel im Rahmen der Gefahrverhütung und der Brandbekämpfung ließen den späteren Zusammenhang zwischen der Sorgfaltspflichtverletzung des Angeklagten und dem tatbestandlichen Erfolg unberührt. Selbst wenn hierin ein Organisationsmangel zu sehen wäre, würde dies keinen Geschehensablauf begründen, der so außerhalb jeder Lebenswahrscheinlichkeit liegt, dass die objektive Vorhersehbarkeit des hier eingetretenen Erfolges in Frage gestellt würde. Auch der Pflichtwidrigkeits- und der Schutzzweckzusammenhang blieben durch solche Organisationsmängel unberührt. Soweit zur Reichweite des Schutzzwecks der Tatbestände der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung bei Berufsrettern vertreten wird, Rettungsinstitutionen hätten die eigene Organisation selbst zu verantworten, sodass Außenstehende für Schäden, die auf Organisationsmängeln beruhten, nicht verantwortlich seien (Roxin/Greco, Strafrecht AT, Bd. I, 5. Aufl., S. 521, 523), vermöge der Senat dem nicht zu folgen. Diese Auffassung widerspreche dem anerkannten Grundsatz, dass sich keiner von mehreren sorgfaltswidrig handelnden Verursachern zu seiner Entlastung auf die Sorgfaltspflichtverletzung des anderen berufen kann (fahrlässige Mitverursachung; BGHSt 47, 224, 228 = NJW 2002, 1887 [Wuppertaler Schwebebahn]; OLG Bamberg NStZ-RR 2008, 10). Ein Mitverschulden kann prozessual (§ 153 f. StPO) oder bei der Strafzumessung berücksichtigt werden.

III. Bedeutung für die Praxis

Lesenswert ist der für BGHSt vorgesehene Beschluss des 4. Senats schon allein wegen des lehrbuchmäßigen und der aktuellen Auffassung entsprechenden Aufbaus des fahrlässigen Erfolgsdelikts. In der Sache überzeugt die Argumentation zur Zurechnung der Folgen bei Berufsrettern, die an die Ausführungen in BGHSt 39, 322 = NJW 1994, 205 (dort ein privater Retter bei einem Hausbrand) anknüpft (zu Retterschäden Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, Vor § 13 Rn 36c). Damit wird hier im Strafrecht ähnlich argumentiert wie im Zivilrecht bei den sog. Verfolgerfällen, bei denen etwa Polizeibeamte bei der Verfolgung eines Verdächtigen zu Schaden kommen und unter ähnlichen Voraussetzungen vom Verdächtigen Schadensersatz verlangen können (BGHZ 192, 261 = NJW 2012, 1951 m.w.N.; BeckOK-BGB/Flume, 59. Ed. 1.8.2021, BGB § 249 Rn 317). Verteidiger sollten daher in solchen Fällen nicht den Grundsatz angehen, sondern überprüfen, ob ein Ausnahmefall vorliegt, der gleichwohl die Zurechnung unterbricht. Das kann der Fall sein, wenn eine rechtliche Pflicht zur vorgenommenen Rettungshandlung aufgrund ihrer Gefährlichkeit nicht bestand, diese ex ante ungeeignet oder sinnlos bzw. mit offensichtlich unverhältnismäßigen Wagnissen verbunden oder ihrerseits rechtswidrig war (zur fahrlässigen Tötung beim Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln aktuell BGH, Urt. v. 13.10.2021 – 2 StR 418/19, Urteilsgründe noch nicht veröffentlicht).

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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