Die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers hat auch noch nach Beendigung des Verfahrens zu erfolgen, wenn der Beiordnungsantrag bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung zum damaligen Zeitpunkt vorlagen und eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag vor Verfahrensbeendigung unterblieben ist, weil die Beschlussfassung aufgrund justizinterner Vorgänge wesentlich verzögert wurde.
(Leitsatz des Verfassers)
LG Stuttgart, Beschl. v. 21.9.2021 – 9 Qs 62/21
I. Sachverhalt
Das gegen den Angeklagten anhängige Strafverfahren wegen Betruges endete mit rechtskräftigem Urteil vom 16.6.2021. Zuvor hatte der Angeklagte gegen einen am 4.5.2021 erlassenen Strafbefehl mit Schriftsatz vom 20.5.2021 Einspruch eingelegt und zugleich die Beiordnung eines Pflichtverteidigers beantragt. Zur Begründung hatte er ausgeführt, gegen ihn werde ein noch nicht abgeschlossenes Berufungsverfahren vor dem LG H geführt; in der dortigen Sache sei er erstinstanzlich zur Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden. Darüber hinaus drohe der Widerruf der im Urteil des AG S vom 20.7.2020 bewilligten Strafaussetzung zur Bewährung, sodass er im Falle der Verurteilung weitere acht Monate Freiheitsstrafe zu verbüßen hätte.
Nach Eingang des Beiordnungsantrags fragte das AG S bei der Staatsanwaltschaft S an, ob nach § 153 Abs. 2 StPO oder, im Hinblick auf das in H geführte Verfahren, nach § 154 Abs. 2 StPO vorgegangen werden könne. Die Staatsanwaltschaft teilte daraufhin unter Hinweis auf die zahlreichen Vorstrafen des Angeklagten mit, dass einer Einstellung nicht zugestimmt bzw. eine solche nicht beantragt werde. Zudem trat die Staatsanwaltschaft dem Beiordnungsantrag entgegen.
Mit Beschluss vom 1.6.2021 lehnte das AG die Verteidigerbestellung ab. Es komme lediglich eine Geldstrafe in Betracht, sodass ein Bewährungswiderruf nicht drohe. Eine Gesamtfreiheitsstrafe von über einem Jahr sei „anhand des aktuellen Bundeszentralregisterauszugs“ nicht zu erwarten.
Gegen diesen Beschluss legte der Angeklagte über seinen Verteidiger am 11.6.2021 sofortige Beschwerde ein. Das Rechtsmittel hatte Erfolg.
II. Entscheidung
Das LG bejaht die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO, diese hätten zum Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegen. Die Mitwirkung eines Verteidigers sei wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge geboten gewesen. Nach allgemeiner Ansicht in der Rechtsprechung sei wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn der Beschuldigte/Angeklagte im Falle einer Verurteilung mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr zu rechnen habe. Diese Grenze sei auch dann zu beachten, wenn ihr Erreichen oder Überschreiten erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt (LG Halle, Beschl. v. 29.6.2021 – 10a Qs 61/21; LG Hannover, Beschl. v. 16.6.2021 – 63 Qs 23/21; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 140 Rn 23a m.w.N). Diese Voraussetzungen hat das LG bejaht. Dass aus Sicht des Amtsgerichts lediglich eine Geldstrafe zu erwarten gewesen sei, führe zu keiner anderen Bewertung, zumal angesichts der erheblichen strafrechtlichen Vorbelastung auch unter Berücksichtigung der strengen Anforderungen des § 47 Abs. 1 StGB eine kurze Freiheitsstrafe jedenfalls nicht ferngelegen habe, habe sich der Angeklagte von den zahlreichen früheren Verurteilungen doch wenig beeindruckt gezeigt und sei immer wieder straffällig geworden. Hinzu komme, dass der Angeklagte mit dem Widerruf der im Urteil des Amtsgerichts S vom 22.7.2020 bewilligten Strafaussetzung zur Bewährung zu rechnen gehabt habe, sodass sich das ihm drohende Gesamtstrafübel um weitere acht Monate erhöhte.
Nach Auffassung des LG stand der zwischenzeitlich erfolgte rechtskräftige Abschluss des Verfahrens einer auf den Zeitpunkt der Antragstellung rückwirkenden Beiordnung eines Pflichtverteidigers vorliegend nicht entgegen. Zwar sei die nachträgliche Verteidigerbestellung grundsätzlich unzulässig. Dies könne jedoch dann nicht gelten, wenn die in § 140 StPO normierten Beiordnungsvoraussetzungen zum Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen und die Entscheidung über den Antrag aus vom Angeklagten nicht zu vertretenden und von ihm nicht beeinflussbaren Gründen wesentlich verzögert wurde oder unterblieben ist (OLG Bamberg, Beschl. v. 29.4.2021 – 1 Ws 260/21, StRR 8/2021, 19; OLG Nürnberg, Beschl. v. 6.11.2021 – Ws 962/20, StRR 1/2021, 21 = StraFo 2021, 71). Ein genereller Ausschluss der nachträglichen Beiordnung sei spätestens seit der Reform des Rechts der Pflichtverteidigung durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 ausgeschlossen; dies wäre – so das LG – mit der der Reform zugrunde liegenden Richtlinie 2016/1919/EU nicht vereinbar. Die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers diene nämlich nicht ausschließlich dessen Gebühreninteresse, sondern auch den Interessen eines Angeklagten an einer ordnungsgemäßen Verteidigung und damit einhergehend der Sicherung eines fairen Verfahrens. Darüber hinaus habe der Gesetzgeber mit der Einführung des Unverzüglichkeitsgebots in § 141 Abs. 1 StPO klar zum Ausdruck gebracht, dass es seine Absicht war, bei Vorliegen der in § 140 StPO normierten Beiordnungsvoraussetzungen jedem Beschuldigten ab der Eröffnung des Tatvorwurfs unabhängig von seinen finanziellen Verhältnissen die Möglichkeit der Einholung kompetenten Rats zwecks bestmöglicher Wahrnehmung seiner Interessen zur Verfügung zu stellen. Der Beiordnungszeitpunkt sollte, was sich überdies auch aus den Änderungen in § 140 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 7 StPO ergebe, vorverlagert werden. Dieser gesetzgeberischen Absicht liefe es zuwider, ließe man ein Zuwarten mit der Verbescheidung von Beiordnungsanträgen bzw. Rechtsmitteln gegen ablehnende Entscheidungen zu.
III. Bedeutung für die Praxis
Eine der vielen richtigen Entscheidungen der Instanzgerichte der letzten Zeit, die die rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers als zulässig ansehen. Von den OLG haben sich dieser zutreffenden Ansicht bisher nur die vom LG ebenfalls zitierten OLG Bamberg und OLG Nürnberg angeschlossen. Die anderen OLG, die nach dem Inkrafttreten der Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung zu der Frage bisher Stellung genommen haben, haben an der alten Rechtsprechung festgehalten, was aus den vom LG zutreffend dargelegten Gründen nicht nachvollziehbar ist., zumal die OLG sich zum Teil auch auf Rechtsprechung zum früheren Recht bezogen haben, die auf das neue Recht aber nicht mehr anwendbar ist. Der Verteidiger muss sich ggf. auf die Rechtsprechung der beiden OLG und der LG/AG beziehen. Er darf bei ablehnenden Entscheidungen nicht übersehen, dass nach der Neuregelung nun gem. § 142 Abs. 7 StPO ggf. sofortige Beschwerde einzulegen ist, muss also die Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO beachten (zu allem auch Hillenbrand, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 3304 ff.).
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg