Die Tat im verfahrensrechtlichen Sinne (§ 264 Abs. 1 StPO) bestimmt sich nach dem von der zugelassenen Anklage umschriebenen geschichtlichen Vorgang, innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Liegen verschiedene Lebenssachverhalte und mithin mehrere selbstständige prozessuale Taten vor, so sind diese nur dann voll umfänglich Gegenstand der Urteilsfindung, wenn sich nach dem aus der Anklageschrift erkennbaren Willen der Staatsanwaltschaft ergibt, dass sie sämtlich einer Aburteilung zugeführt werden sollen.
(Leitsatz des Verfassers)
BGH, Beschl. v. 19.11.2020 – 2 StR 358/20
I. Sachverhalt
Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen Betrugs und Beihilfe zum versuchten gewerbs- und bandenmäßigen Betrug verurteilt. Die u.a. hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten führte zu einer Teileinstellung des Verfahrens und im Übrigen zur Aufhebung und Zurückverweisung.
II. Entscheidung
Der BGH hat das Verfahren gemäß §§ 206a Abs. 1, 354 Abs. 1 analog StPO eingestellt, soweit das LG den Angeklagten wegen Betrugs verurteilt hat. Insofern bestehe ein Verfahrenshindernis, weil die Tat nicht Gegenstand der Anklage (gewesen) sei und eine Nachtragsanklage (§ 266 Abs. 2 StPO) nicht erhoben worden sei.
Die Urteilsfindung habe die Tat im verfahrensrechtlichen Sinne zum Gegenstand (§ 264 Abs. 1 StPO). Diese bestimme sich nach dem von der zugelassenen Anklage umschriebenen geschichtlichen Vorgang, innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Sie erstrecke sich auf das gesamte Verhalten des Täters, das nach natürlicher Auffassung ein mit diesem geschichtlichen Vorgang einheitliches Geschehen bilde (BGH NStZ 2012, 168, 169 m.w.N.; Beschl. v. 9.9.2020 und 23.9.2020 – 2 StR 261/20 und 2 StR 606/19, StRR 12/2020, 4 [Ls.]). Wenn nach dieser Maßgabe verschiedene Lebenssachverhalte und mithin mehrere selbstständige prozessuale Taten vorlägen, so seien diese nur dann voll umfänglich Gegenstand der Urteilsfindung, wenn sich nach dem aus der Anklageschrift erkennbaren Willen der Staatsanwaltschaft ergebe, dass sie sämtlich einer Aburteilung zugeführt werden sollen (BGHSt 58, 99 m.w.N.).
Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage habe dem Angeklagten hier zur Last gelegt, am 5.11.2019 gemeinschaftlich handelnd in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, versucht zu haben, das Vermögen eines anderen dadurch zu beschädigen, dass er durch Vorspiegelung falscher oder Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregte oder unterhielt, wobei er als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Straftaten nach § 263 StGB verbunden habe, gewerbsmäßig handelte. Der Tatvorwurf werde im konkreten Anklagesatz dahingehend konkretisiert, dass der Angeklagte sich einer Gruppierung angeschlossen habe, um banden- und gewerbsmäßig Betrugsstraftaten aus dem Bereich des sogenannten Lovescams zu begehen. In diesem Zusammenhang habe der gesondert Verfolgte G am 14.7.2019 Kontakt per E-Mail zu der Geschädigten K aufgenommen, ihr alsbald die große Liebe versprochen und so schließlich zu ihr eine Vertrauensbeziehung aufgebaut, in deren Folge er von ihr 75.000 USD für dringend benötigte Reparaturen von Arbeitsgeräten erbeten habe. Die persönliche Geldübergabe habe am 5.11.2019 an einen durch G beauftragten Agenten im F Hauptbahnhof erfolgen sollen. Tatsächlich sei der Angeklagte aufgetaucht, habe die Geschädigte angesprochen, ob diese das Geld dabeihabe, und habe sodann eine – angeblich mit Bargeld gefüllte – Tragetasche gegen Unterschrift auf einem Übergabeprotokoll, welches die Geschädigte dabeigehabt habe, an sich genommen.
Der Vorwurf, einen vollendeten Betrug zu Lasten eines Taxifahrers begangen zu haben, der den Angeklagten am Tattag nach Vorspiegelung seiner Zahlungsabsicht von N zum Hauptbahnhof in F gefahren habe, finde hingegen – so der BGH – im Anklagesatz keine Erwähnung. Im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen werde als Teil der Einlassung des Angeklagten geschildert, er habe das Taxi aus N, mit dem er angereist sei, auf Wunsch der K, die dieses auch habe bezahlen wollen, genommen. Zudem sei als Beweismittel „T A (Taxifahrer N nach F)“ benannt.
Danach stellt nach Auffassung des BGH die mit der Täuschung über die Zahlungsfähigkeit veranlasste Anfahrt des Angeklagten mit dem Taxi von F nach N mit dem versuchten Betrug zum Nachteil der Geschädigten K weder eine einheitliche prozessuale Tat dar noch habe sich der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft auf den Betrug zum Nachteil des Taxifahrers erstreckt.
Die Anfahrt zum Hauptbahnhof in F verbinde mit dem eigentlichen Tatgeschehen zu Lasten der K kein einheitlicher Lebenssachverhalt; es bestehe keine prozessuale Tatidentität i.S.d. § 264 Abs. 1 StPO. Von prozessualer Tatidentität könne ohne Weiteres ausgegangen werden, wenn mehrere Taten materiell-rechtlich zueinander im Verhältnis der Tateinheit nach § 52 Abs. 1 StGB stehen. Mehrere sachlich-rechtlich selbstständige Handlungen i.S.v. § 53 Abs. 1 StGB bilden nur dann eine einheitliche prozessuale Tat i.S.v. § 264 Abs. 1 StPO, wenn die einzelnen Handlungen nicht nur äußerlich ineinander übergehen, sondern wegen der ihnen zugrunde liegenden Vorkommnisse unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung auch innerlich derart miteinander verknüpft sind, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der einen Handlung nicht ohne die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig gewürdigt werden kann und ihre getrennte Würdigung und Aburteilung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs empfunden werde (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschl. v. 9.9.2020 – 2 StR 261/20 m.w.N.). Zu Recht sei das LG davon ausgegangen, dass der vollendete Betrug zum Nachteil des Taxifahrers mit dem Vorwurf der Beihilfe zum versuchten gewerbs- und bandenmäßigen Betrug in Tatmehrheit stehe. Die rechtlich selbstständigen Handlungen stellen aber auch keinen einheitlichen Lebenssachverhalt dar, der die Annahme einer prozessualen Tat rechtfertigen würde. Es handele sich grundsätzlich um zwei unterschiedliche Lebensvorgänge, die zwar äußerliche Überschneidungen aufweisen, aber unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung nicht derart innerlich miteinander verknüpft seien, dass der Schuld- und Unrechtsgehalt nur einheitlich erfasst werden könnte. Der versuchte gewerbs- und bandenmäßige Betrug habe zunächst ohne Beteiligung des Angeklagten seinen Ausgangspunkt in Täuschungshandlungen des Bandenmitglieds O gegenüber der Geschädigten K im September 2019, an denen sich der Angeklagte (nach den Feststellungen erst) ab 4.11.2019 beteiligt habe. Sein Tatbeitrag habe im Wesentlichen in der Entgegennahme des Geldes in F am 5.11.2019 bestehen sollen, das die Bande vom Tatopfer zu erlangen hoffte. Die Anfahrt des Angeklagten nach F, die dieser zunächst in M mit dem Flixbus startete und ab N unter Nutzung eines Taxis bei Täuschung eines Taxifahrers über seine Zahlungsfähigkeit fortsetzte, sei entgegen der Ansicht des LG hiermit nicht „auf das Engste verwoben“, stelle vielmehr einen von der Betrugstat zum Nachteil der Geschädigten K unabhängigen Sachverhalt dar, dessen Unrechts- und Schuldgehalt ohne Weiteres getrennt gewürdigt werden könne (vgl. BGH, Beschl. v. 23.9.2020 – 2 StR 606/19 zur An- und Abfahrt zum Tatort als selbstständigem Lebenssachverhalt neben der eigentlichen Tat). Dass der Angeklagte während der Fahrt mit der Geschädigten K telefonierte und zudem beabsichtigte, aus dem Erlös in F den Taxifahrer zu bezahlen, verbinde beide Geschehnisse nicht zu einem einheitlichen Lebensvorgang, dessen Aufspaltung als unnatürlich anzusehen ist.
Zudem lasse sich – so der BGH – ein einheitliches Verfolgungsinteresse der unterschiedlichen Lebenssachverhalte den Verfahrensakten nicht entnehmen. Der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft habe sich allein auf das Geschehen zum Nachteil der Geschädigten K gerichtet. Die Täuschungshandlungen gegenüber dem Taxifahrer seien weder im Anklagesatz noch im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen erwähnt. Soweit der Taxifahrer in der Anklageschrift als Zeuge benannt sei, begründet weder dies noch der Umstand, dass im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen die Einlassung des Angeklagten wiedergegeben werde, die Geschädigte K habe das Taxi bezahlen wollen, einen Willen der Staatsanwaltschaft zur Verfolgung des Betrugs zum Nachteil des Taxifahrers. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass bei der Amtsanwaltschaft ein selbstständiges Ermittlungsverfahren wegen der Tat zum Nachteil des Taxifahrers zunächst eingeleitet, von der weiteren Verfolgung dieser Tat aber mit Blick auf das von der Staatsanwaltschaft bei dem LG in Gang gebrachte Verfahren nach § 154 Abs. 1 StPO abgesehen worden sei.
III. Bedeutung für die Praxis
1. Die Entscheidung zeigt sehr schön auf, worauf man als Verteidiger achten muss, wenn der Angeklagte wegen einer Tat verurteilt worden ist, die ggf. nicht unmittelbar von der Anklage erfasst ist, nämlich: Handelt es sich um einen einheitlichen Lebenssachverhalt und/oder worauf bezieht sich der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft? Beides hat der BGH hier m.E. überzeugend verneint. Die Entscheidung reiht sich dann nahtlos in die Entscheidungen ein, in denen der BGH in der letzten Zeit zu der Problematik Stellung genommen hat (vgl. dazu z.B. BGH StRR 12/2020, 4 [Ls.]).
2. Hier lässt sich nicht konkret feststellen, welche Auswirkungen die Aufhebung/Einstellung wegen des vollendeten Betruges zum Nachteil des Taxisfahrers gehabt hat, da der BGH das Urteil (im Strafausspruch) auch aus anderen Gründen aufgehoben hat. Jedenfalls hat die Einstellung aber grundsätzlich Auswirkungen auf die Strafhöhe, die sich dann im Zweifel reduziert. Es sei denn, der BGH kann – was ja leider häufig der Fall ist – „ausschließen“, dass die Verurteilung wegen der zusätzlichen Tat Auswirkungen auf die Strafhöhe hatte bzw. das Entfallen der Verurteilung zu einer Reduzierung der Strafe führen wird.
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg