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Zugriff auf beim Provider zwischen- oder endgespeicherte („ruhende“) E-Mails

§ 100a Abs. 1 S. 1 StPO erlaubt den Zugriff auf beim Provider zwischen- oder endgespeicherte („ruhende“) E-Mails. (Leitsatz des Gerichts)

BGH, Beschl. v. 14.10.2020 – 5 StR 229/19

I. Sachverhalt

Das LG hat die Angeklagten wegen Marktmanipulationen verurteilt. Dabei wurden bei einem Provider gespeicherte E-Mails verwertet, die bereits vor der Anordnung der Überwachung des betreffenden E-Mails-Accounts nach § 100a Abs. 1 StPO versandt worden waren. Die Revisionen blieben erfolglos.

II. Entscheidung

§ 100a Abs. 1 S. 1 StPO stelle eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für den verdeckten Zugriff auf beim Provider gespeicherte („ruhende“) E-Mails dar. Auch bei E-Mails, die nach Kenntnisnahme beim Provider zwischen- oder endgespeichert werden, handele es sich um Telekommunikation im Sinne von § 100a Abs. 1 S. 1 StPO (BVerfG NJW 2016, 3508 Rn 32). Die spezifische Gefährdungslage und der Zweck der Freiheitsverbürgung von Art. 10 Abs. 1 GG bestünden auch dann weiter, wenn die E-Mails nach Kenntnisnahme durch den Empfänger beim Provider gespeichert bleiben. Die Telekommunikationsüberwachung nach § 100a Abs. 1 S. 1 StPO erfasse auch beim Provider zwischen- oder endgespeicherte („ruhende“) E-Mails. Bei einem verdeckten Zugriff auf beim Provider gespeicherte E-Mails handele es sich um Überwachung und Aufzeichnung von Telekommunikation i.S.d. § 100a Abs. 1 S. 1 StPO. Überwachung und Aufzeichnung von Telekommunikation seien – regelmäßig ohne Wissen des Betroffenen durchgeführte – Eingriffe der öffentlichen Gewalt in den Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 GG, um zur Aufklärung bestimmter schwerwiegender Straftaten oder Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten insbesondere Telekommunikationsinhalte zu erfassen. Die Erfassung von E-Mails, die beim Provider und damit nicht in einer ausschließlich vom betroffenen Kommunikationsteilnehmer beherrschten Sphäre abgelegt sind, stelle einen solchen Eingriff dar. Die Telekommunikationsüberwachung nach § 100a Abs. 1 S. 1 StPO stelle mithin eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für den Zugriff auf beim Provider gespeicherte E-Mails dar (Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 100a Rn 6b). Soweit hiergegen eingewandt wird, § 100a StPO „passe“ nicht, weil es der auf eine Kooperation mit den Providern ausgerichteten Befugnisnorm an den für den Zugriff auf bei diesen „ruhende“ E-Mails typischen Durchsuchungs- und Beschlagnahmeelementen mangele (Hauck, in: LR-StPO, § 100a Rn 77), stelle dies die Anwendung des § 100a Abs. 1 S. 1 StPO nicht in Frage. Zum einen werde der Zugriff auf gespeicherte E-Mails durch die Strafverfolgungsbehörden regelmäßig – wie hier – im Wege einer durch den Provider ermöglichten Ausleitung der Nachrichten und damit in Kooperation mit diesem vollzogen werden (vgl. § 100a Abs. 4 S. 1 StPO). Zum anderen bedürfe es für den Zugriff auf gespeicherte E-Mails im Rahmen der Überwachung eines bestimmten E-Mail-Accounts gerade keiner Durchsuchung beim Provider. Dem Zugriff nach § 100a Abs. 1 S. 1 StPO stehe nicht entgegen, dass beim Provider gespeicherte E-Mails mit der offenen Maßnahme des § 94 StPO beschlagnahmt werden können (näher BVerfGE 124, 43, 58 ff. = NJW 2009, 2431).

Der Eingriff nach § 100a Abs. 1 S. 1 StPO sei nicht auf E-Mails beschränkt, die ab dem Zeitpunkt der Anordnung der Maßnahme versandt oder empfangen wurden. Dies folge schon daraus, dass beim Provider endgespeicherte – von Art. 10 Abs. 1 GG geschützte – E-Mails grundsätzlich ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt ihrer Speicherung nach § 94 StPO beschlagnahmt werden dürfen (vgl. BVerfG, a.a.O., 60, 67). Angesichts der im Vergleich zur Beschlagnahme deutlich strengeren Anforderungen müsse dieser Zugriff erst recht mit einer Telekommunikationsüberwachung nach § 100a Abs. 1 S. 1 StPO zulässig sein. Dies ergebe sich auch im Umkehrschluss aus § 100a Abs. 5 S. 1 Nr. 1 lit. b StPO, wonach eine solche zeitliche Einschränkung nur für die sogenannte Quellen-TKÜ (§ 100a Abs. 1 S. 2 und 3 StPO) gilt. Diese Unterscheidung finde ihre materielle Rechtfertigung darin, dass bei der Quellen-TKÜ – anders als bei der herkömmlichen Telekommunikationsüberwachung – informationstechnische Systeme des Betroffenen infiltriert werden, womit die Gefahr einer Ermittlung von Persönlichkeitsprofilen einhergeht (BVerfGE 120, 274, 308 f. = NJW 2008, 822). Aufgrund dieser Nähe zu einer Online-Durchsuchung habe der Gesetzgeber für die Quellen-TKÜ besondere Zugriffsanforderungen aufgestellt und ein Verbot für rückwirkende Zugriffe festgelegt; für die herkömmliche Telekommunikationsüberwachung nach § 100a Abs. 1 S. 1 StPO habe er hingegen keine entsprechenden Regelungen getroffen. Das Ergebnis stehe schließlich auch im Einklang mit der Rechtsprechung des BGH zum Zugriff auf Nachrichten, die (abrufbereit) auf einer Mailbox gespeichert sind. Auch insofern habe der BGH entschieden, dass es sich bei dem Zugriff auf die Mailbox um eine Überwachung der Telekommunikation handelt (BGH NJW 2003, 2034, 2035; NJW 1997, 1934, 1935).

III. Bedeutung für die Praxis

Die vorliegende Leitsatzentscheidung des 5. Senats bestätigt die wohl herrschende Ansicht zu § 100a Abs. 1 S. 1 StPO als ausreichende Ermächtigungsgrundlage für den verdeckten Zugriff auf beim Provider gespeicherte („ruhende“) E-Mails, und zwar unabhängig vom Zeitpunkt der entsprechenden Anordnung der Maßnahme (näher Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 100a Rn 6b und 6c; s.a. Burhoff, Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. 2019, Rn 3966 ff.; beide m.w.N.). Das bildet eine Richtschnur für die zukünftige Handhabung in der Praxis.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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