Anklageschrift: Mindestanforderungen bei Tatserie
Eine Anklageschrift muss nach § 200 Abs. 1 S. 1 StPO die zur Last gelegte Tat sowie Zeit und Ort ihrer Begehung so genau bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs feststeht. Ist bei einer Vielzahl von Straftaten im Rahmen einer Tatserie eine Individualisierung nach Tatzeit und exaktem Geschehensablauf nicht möglich, werden die Taten als Verfahrensgegenstand in diesen Fällen durch die Festlegung des zeitlichen Rahmens der Tatserie, die Nennung der Höchstzahl der nach dem Anklagevorwurf innerhalb dieses Rahmens begangenen Taten, die Person des Tatopfers und die wesentlichen Grundzüge des Tatgeschehens bestimmt.
BayObLG, Beschl. v. 24.6.2021 – 202 StRR 67/21
Klageerzwingungsverfahren: Unterzeichnung eines Klageerzwingungsantrags durch Rechtsprofessor
Die Unterzeichnung eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung nach § 172 Abs. 2 S. 1 StPO durch einen Strafverteidiger und Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule, der nicht gleichzeitig Rechtsanwalt ist, erfüllt nicht das Formerfordernis nach § 172 Abs. 3 S. 2 StPO.
OLG Bamberg, Beschl. v. 8.6.2021 – 1 Ws 290/21
Schuldfähigkeitsgutachten: Einschaltung einer Hilfsperson
Bei der Erstellung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens zur Frage der medizinischen Voraussetzungen der Schuldfähigkeit und der Gefährlichkeit darf die Exploration des Angeklagten keiner Hilfsperson überlassen werden, auch wenn dem Sachverständigen die Heranziehung von Hilfspersonen ausdrücklich gestattet wurde. Die Ergebnisse der Exploration kann der gerichtliche Sachverständige nur dann eigenverantwortlich bewerten, wenn er sie selbst durchgeführt oder zumindest insgesamt daran teilgenommen hat.
LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 22.6.2021 – 5 Ks 102 Js 2876/20
Durchsuchung: Anwesenheit des Verteidigers
Ein Recht auf Anwesenheit bei der Durchsicht im Sinne des § 110 StPO ist gesetzlich nicht normiert. Mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann es im Einzelfall aber zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit geboten sein, den oder die Inhaber des jeweiligen Datenbestands in die Prüfung der Verfahrenserheblichkeit sichergestellter Daten einzubeziehen.
LG Kiel, Beschl. v. 18.6.2021 – 3 Qs 14/21
Durchsuchung: Konkretisierung des Beweismittels
Soweit zum Zeitpunkt der Antragstellung eine konkrete Bezeichnung und damit Individualisierung eines als Beweismittel gesuchten Datenträgers nach seiner Art nicht möglich ist – etwa, weil überhaupt nicht bekannt ist, auf welchem Datenträger sich die gesuchten verfahrensgegenständlichen Daten befinden –, ist dieser nach seinem Inhalt entsprechend zu konkretisieren
AG Offenbach, Beschl. v. 25.6.2021 – 20 Gs – 1300 Js 81663/21
Trunkenheitsfahrt: Strafklageverbrauch
Eine Tat im prozessualen Sinne liegt bei vorangegangener Trunkenheitsfahrt vor, wenn ein betrunkener Kraftfahrer im Auto sitzend von der Polizei angetroffen wird und noch vor Ort im Zuge von Maßnahmen zur Feststellung der Alkoholkonzentration alsbald die Polizei tätlich angreift.
OLG Stuttgart, Beschl. v. 1.7.2021 – 1 Rv 13 Ss 421/21
Berufungsbeschränkung: Ermächtigung
Auch für die nachträgliche Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch bedarf es einer ausdrücklichen Ermächtigung des Verteidigers nach § 302 Abs. 2 StPO.
BayObLG, Beschl. v. 16.6.2021 – 206 StRR 226/21
Verfahrensgebühr im Rechtsmittelverfahren: Erstattung aus der Staatskasse
Für eine Tätigkeit des Verteidigers im Rechtsmittelverfahren besteht bei alleinigem Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft eine rechtliche Notwendigkeit so lange nicht, wie diese ihr Rechtsmittel (hier: die Revision) nicht begründet hat. Zwar hat ein Angeklagter durchaus ein anzuerkennendes Interesse, eine anwaltliche Einschätzung der Erfolgsaussichten des von der Staatsanwaltschaft eingelegten Rechtsmittels zu erhalten. Vor Zustellung des Urteils und Begründung des Rechtsmittels beschränkt sich dieses Interesse aber auf ein subjektives Beratungsbedürfnis, während hingegen objektiv eine Beratung weder erforderlich noch sinnvoll ist.
OLG Hamm, Beschl. v. 13.4.2021 – 4 Ws 22/21
Einziehung: JGG-Verfahren
Die Entscheidung über die Einziehung des Wertes von Taterträgen (§ 73c S. 1 StGB) steht auch bei Anwendung von Jugendstrafrecht nicht im Ermessen des Tatgerichts.
BGH, Beschl. v. 20.1.2021 ‒ GSSt 2/20
Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte: Gewaltbegriff
Die Annahme von Gewalt i.S.d. § 113 Abs. 1 StGB setzt ebenso wie ein tätlicher Angriff i.S.d § 114 Abs. 1 StGB voraus, dass sich die Tathandlung gegen den Körper des Amtsträgers richtet. Im Falle der Verurteilung wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte leidet das tatrichterliche Urteil unter einem Darstellungsmangel, wenn sich aus der Schilderung des Geschehens die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung i.S.d. § 113 Abs. 3 StGB nicht ergibt.
BayObLG, Beschl. v. 1.6.2021 – 202 StRR 54/21
Wegnahme bei Ladendiebstahl: unzureichende Feststellungen
Durch die bloße Feststellung, der Angeklagte habe in einem Ladengeschäft Gegenstände „entwendet“, ohne im tatrichterlichen Urteil den Tathergang näher zu beschreiben, wird eine (vollendete) Wegnahme im Sinne des § 242 Abs. 1 StGB nicht belegt.
BayObLG, Beschl. v. 7.4.2021 – 202 StRR 33/21
Geldwäsche: Tathandlung
Der Tatbestand des § 261 Abs. 1 StGB a.F. ist nur dann erfüllt, wenn die Tathandlung nicht lediglich die Vorbereitung einer späteren, noch gesondert herbeizuführenden Gefährdung darstellt.
LG Frankfurt a.M., Beschl. v. 1.7.2021 – 5/03 Qs 7/21
Strafpunkteregister für Verkehrsverstöße: Einsichtsrecht
Ausschließlich Betroffene dürfen Einsicht in ihre Einträge im Strafpunkteregister nehmen. Eine Einsicht durch jedermann verstößt gegen die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) der Europäischen Union.
EuGH, Urt. v. 22.6.2021 – C-439/19
E-Scooter: Fahrverbot
Der Art des geführten Kraftfahrzeugs, wie z.B. eines E-Scooters, kommt für die abstrakte Gefahr, die von einer Trunkenheitsfahrt für die Sicherheit des Straßenverkehrs ausgeht, keine derart bestimmende Bedeutung zu, dass dieser Umstand allein schon die Indizwirkung des Regelbeispiels nach §§ 25 Abs. 1 S. 2, 24a StVG entfallen lässt.
OLG Zweibrücken, Beschl. v. 29.6.2021 – 1 OWi 2 SsBs 40/21
Rechtsschutzversicherung: Leistungsausschluss
Ob die Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach Ziffer 5.5 S. 1 ARB-MPM 2009 vorliegen, insbesondere der Versicherungsnehmer oder Versicherte vorsätzlich eine Straftat begangen hat, ist im Deckungsprozess zu klären. Dabei besteht weder eine Bindung an die Ergebnisse eines gegen den Versicherungsnehmer oder Versicherten geführten Ermittlungsverfahrens oder des Ausgangsrechtsstreits noch ist der Rechtsschutzversicherer bis zu deren Abschluss vorläufig leistungspflichtig. Der Versicherer ist für die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses nach Ziffer 5.5 S. 1 ARB-MPM 2009 darlegungs- und beweisbelastet.
BGH, Urt. v. 20.5.2021 – IV ZR 324/19
Rahmengebühr: Bemessung in Infektionsschutzsache
Die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit ist unterdurchschnittlich, wenn im Ordnungswidrigkeitsverfahren inhaltlich lediglich zu klären war, ob der gemeinsame Aufenthalt von drei Personen in einem privaten Pkw einen Aufenthalt im öffentlichen Raum darstellt. Zur rechtswirksamen Abtretung der Kostenerstattungsforderung des Freigesprochenen an den Verteidiger.
LG Braunschweig, Beschl. v. 8.6.2021 – 2b Qs 160/21
Vernehmungsterminsgebühr: Videovernehmung
Die Vernehmungsterminsgebühr Nr. 4102 Nr. 1 VV RVG entsteht auch dann, wenn sich der Rechtsanwalt bei dem Vernehmungstermin in einem Nebenraum, in dem eine Videoübertragung der Vernehmung gezeigt wurde, zumindest zeitweise – zum Ende der Vernehmung hin – anwesend war.
LG Osnabrück, Beschl. v. 17.6.2021 – 2 Qs 34/21