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Rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers

1. Lehnt das Kollegialgericht anstelle des Kammervorsitzenden eine Pflichtverteidigerbestellung ab, ist die Entscheidung verfahrensfehlerhaft und bereits deshalb aufzuheben.

2. Auch nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens ist einem Angeklagten rückwirkend ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Beiordnungsvoraussetzungen vorlagen und der Antrag auf Bestellung rechtzeitig gestellt, aber nicht verbeschieden wurde.

3. Der rechtskräftige Abschluss des Verfahrens steht der Zulässigkeit der sofortigen Beschwerde gegen die Ablehnung der Verteidigerbestellung nicht entgegen. (Leitsätze des Verfassers)

OLG Bamberg, Beschl. v. 29.4.2021 – 1 Ws 260/21

I. Sachverhalt

Der Angeklagte war vom Jugendschöffengericht erstinstanzlich vom Vorwurf des Handeltreibens mit BtM in nicht geringer Menge freigesprochen worden. Hiergegen legte die StA Berufung ein. Nach Aktenvorlage an das Berufungsgericht und Mandatsniederlegung durch die bisherige Wahlverteidigerin beantragte der neue Verteidiger für den Angeklagten seine Bestellung zum Pflichtverteidiger. Kurz darauf nahm die StA ihr Rechtsmittel zurück. Mehrere Monate später lehnte das LG in der Besetzung mit drei Richtern den Beiordnungsantrag ab.

Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde des Angeklagten hatte Erfolg.

II. Entscheidung

1. Der Senat stellt zunächst klar, dass es dem Rechtsmittel nicht an der notwendigen Beschwer fehle. Diese sei nicht dadurch entfallen, dass das Verfahren gegen den Angeklagten schon vor Entscheidung über den Beiordnungsantrag rechtskräftig abgeschlossen wurde und damit die Notwendigkeit seiner Verteidigung entfallen ist. Der Angeklagte habe alles aus seiner Situation Mögliche für die umgehende Bestellung eines Pflichtverteidigers getan. Durch das Unterbleiben einer Entscheidung sei er beeinträchtigt, habe aber zunächst keine Möglichkeit gehabt, die Herbeiführung einer Entscheidung zu erzwingen. Ihm sei faktisch die Möglichkeit der Herbeiführung einer Entscheidung im gerichtlichen Beschwerdeverfahren verwehrt.

2. Die sofortige Beschwerde sei in der Sache schon deshalb erfolgreich, weil die Jugendkammer unter Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften als Kollegialgericht entschieden habe, obwohl nicht sie, sondern der Kammervorsitzende für den Erlass der angefochtenen Entscheidung funktionell zuständig war (§ 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO).

3. Das OLG erklärt die rückwirkende Beiordnung unter Aufgabe seiner bisherigen gegenteiligen Rechtsprechung für zulässig. Die Gegenauffassung sei seit der Reform der §§ 141, 142 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BGBl I, S. 2128) nicht mehr tragfähig.

Die rückwirkende Verteidigerbestellung diene nicht mehr ausschließlich dazu, dem Rechtsanwalt für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen, sondern mittelbar auch dem Interesse eines Angeklagten an einer ordnungsgemäßen Verteidigung. Die der Reform zugrunde liegende Prozesskostenhilferichtlinie solle nicht nur die tatsächliche Verteidigung, sondern auch die Bezahlung des Rechtsbeistandes sichern. Es liege nämlich die Befürchtung nicht fern, dass einzelne Verteidiger trotz Vorliegens der Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung und rechtzeitiger Antragstellung bis zu ihrer Bestellung nicht im gleichen Maße für ihren Mandanten tätig werden, wie dies bei einem Wahlverteidiger mit einem solventen Mandanten der Fall wäre, wenn sie befürchten müssten, letztlich keine Vergütung zu erhalten. Die Möglichkeit der rückwirkenden Beiordnung stelle sich somit als Instrument dar, um dem oder auch nur dem Verdacht eines solchen Verhaltens entgegenzuwirken.

Die effektive Absicherung der Verfahrensbeteiligten würde zudem unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigerbestellung nur deswegen versagt werden könnte, weil die Entscheidung hierüber zu einem Zeitpunkt getroffen wurde, an dem die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers obsolet geworden war, und zwar unabhängig davon, ob die Entscheidung verzögert getroffen wurde oder nicht. Der Gesetzgeber habe durch die Schaffung des Unverzüglichkeitsgebots in § 141 Abs. 1 S. 1 StPO deutlich gemacht, dass es seine Absicht war, jedem Beschuldigten ab der Eröffnung des Tatvorwurfs unabhängig von seinen finanziellen Verhältnissen die Möglichkeit der Einholung kompetenten, d.h. anwaltlichen Rats zwecks bestmöglicher Wahrnehmung der Verteidigungsinteressen zur Verfügung zu stellen.

Weiter weist der Senat darauf hin, dass es einem Angeklagten, der beim Vorliegen der formalen Voraussetzungen für dessen Bewilligung seinen Beiordnungsantrag rechtzeitig gestellt hat, ebenso wie dem von ihm beauftragten Rechtsanwalt finanziell nicht zum Nachteil gereichen solle, dass aus von ihm nicht zu vertretenden und einzig im Verantwortungsbereich der Justiz liegenden Umständen mit einer Entscheidung hierüber bis zum Abschluss der Instanz zugewartet worden war.

III. Bedeutung für die Praxis

Die Entscheidung ist richtig. In wohltuender Abweichung von manch anderen OLG/LG, die unter Außerachtlassung der Reform des Rechts der Pflichtverteidigung 2019 und der ihr zugrunde liegenden europäischen Bestimmungen stur an ihrer bisherigen Position festhalten, setzt sich der Senat umfassend mit der Gesetzesreform, den ihr zugrunde liegenden europäischen Vorgaben sowie mit den Beweggründen des Gesetzgebers auseinander und kommt zu dem zutreffenden Ergebnis, dass die Auffassung, wonach eine rückwirkende Beiordnung unzulässig sei, nicht mehr haltbar ist. Konsequenterweise wird dann auch die bisherige gegenteilige Rechtsprechung aufgegeben.

Die nachträgliche Beiordnung dient eben, wie das OLG zu Recht hervorhebt, nicht nur der Schaffung eines Kostenerstattungsanspruchs für den Verteidiger gegenüber der Staatskasse, sondern soll sicherstellen, dass ein Angeklagter beim Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen den Beistand eines Verteidigers erhält. Es geht also um die Wahrung eines fairen und rechtsstaatlichen Verfahrens. Hierzu passt dann auch die zutreffende Erwägung, dass es einem Beschuldigten nicht zum Nachteil gereichen darf, wenn sein rechtzeitig gestellter Beiordnungsantrag entgegen der insbesondere im Unverzüglichkeitsgebot zum Ausdruck kommenden Intention des Gesetzgebers nicht zeitnah verbeschieden, sondern liegengelassen wird. Andernfalls würde einem Angeklagten überdies die Möglichkeit genommen, die Auffassung des Instanzgerichts im Rechtsmittelverfahren überprüfen zu lassen, obwohl der Gesetzgeber durch die Einführung der sofortigen Beschwerde in § 142 Abs. 7 StPO gerade eine zeitnahe Entscheidung des Beschwerdegerichts herbeiführen wollte.

Entschieden ist der Streit um die rückwirkende Beiordnung damit indes nicht. Zwar dürfte die Auffassung, wonach eine nachträgliche Verteidigerbestellung zulässig ist, in der Rechtsprechung der LG und AG inzwischen herrschend sein, jedoch wird die Gegenauffassung von mehreren OLG, aber auch LG weiterhin vertreten. Dass nunmehr aber nach dem OLG Nürnberg (Beschl. v. 6.11.2020 – Ws 962-963/20, StRR 1/2021, 21 m. Anm. Burhoff) mit dem OLG Bamberg das zweite bayerische Obergericht die rückwirkende Beiordnung befürwortet, gibt Anlass zu der Hoffnung, dass sich diese Ansicht letztlich allen Widrigkeiten zum Trotz durchsetzen wird. Andernfalls wird letztlich der Gesetzgeber gefordert sein, will er das rechtswidrige Liegenlassen von Beiordnungsanträgen nachdrücklich unterbinden.

RiLG Thomas Hillenbrand, Stuttgart

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