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Aufenthaltsverbot wegen Corona – Bußgeldbewehrung verfassungswidrig?

1. Die in §§ 32 S. 1, 28 Abs. 1 IfSG normierte Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen, auf der die tatbestandliche Ausgestaltung der Bußgeldbestimmung in § 9 Nr. 1, § 3 Abs. 1 CoronaVO Baden-Württemberg beruht, ist mit verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht vereinbar.

2. Die der Verurteilung des Betroffenen zugrunde liegenden Bußgeldvorschriften in § 9 Nr. 1, § 3 Abs. 1 CoronaVO Baden-Württemberg sind mit verfassungsrechtlichen Vorgaben unvereinbar; sie erweisen sich als Sanktionsvorschriften ohne jede Härtefallregelung als unverhältnismäßig und sind damit ungültig. (Leitsätze des Verfassers)

OLG Stuttgart, Beschl. v. 14.5.2021 – 1 Rb 24 Ss 95/21

I. Sachverhalt

Das AG hat den Betroffenen wegen „eines Verstoßes gegen ein Aufenthaltsverbot, das wegen der Corona-Pandemie den Aufenthalt mit mehr als zwei Personen, die nicht dem eigenen Hausstand angehören, verbot“, zu einer Geldbuße verurteilt. Der Betroffene hielt sich an einem See in Stuttgart in einer Fünfergruppe auf. Die Gruppe ging „mehrere hundert Meter“ spazieren. Die Gruppenmitglieder hielten „dabei den Abstand von einem Meter untereinander“ nicht ein. Die fünf Personen gehörten drei verschiedenen Haushalten an. Auf die zugelassene Rechtsbeschwerde des Betroffenen wurde das Urteil aufgehoben und der Betroffen freigesprochen.

II. Entscheidung

Die in § 32 S. 1, § 28 Abs. 1 IfSG enthaltene Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen sei – mit Blick auf den hier vorliegenden Verstoß gegen die Bußgeldvorschrift in § 9 Nr. 1, § 3 Abs. 1 CoronaVO BW – mit dem Grundgesetz unvereinbar (zur a.A. aufgrund entsprechender landesrechtlicher Verordnungen OLG Oldenburg, Beschl. v. 11.1.2021 – 2 Ss (OWi) 3/21, juris; OLG Hamm, Beschl. v. 28.1.2021 – III – 4 RBs 446/20, 4 RBs 446/20, juris; ferner OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.3.2021 – 2 Rb 34 Ss 2/21, juris, OLG Stuttgart, Beschl. v. 21.4. 2021 – 4 Rb 24 Ss 7/21, juris). Die Ermächtigungsnorm werde den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen aus Art. 103 Abs. 2 GG nicht gerecht. Dem Wortlaut der §§ 28, 32 IfSG seien bußgeldbewehrte Verbote des Aufenthalts im öffentlichen Raum bzw. der Unterschreitung von Mindestabständen zwischen Personen nicht zu entnehmen (ThürVerfGH, Urt. vom 1.3.2021 – 18/20, juris Rn 604). § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG zwinge die zuständige Behörde „notwendige Schutzmaßnahmen“ zu treffen, „soweit und solange“ dies zum Zwecke des Infektionsschutzes „erforderlich“ ist. Damit handele es sich auf der Rechtsfolgenseite um eine offene Generalermächtigung gegenüber jedermann, die lediglich durch Begriffe („notwendig“, „soweit und solange“ sowie „erforderlich“) flankiert wird, die dem von Verfassungs wegen zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsprinzip von vornherein immanent sind. Eine Konkretisierung – mit Blick auf den vorliegenden Verstoß gegen das Aufenthaltsverbot – ergebe sich gleichfalls nicht aus § 28 Abs. 1 S. 1 letzter Hs. IfSG. Der gesetzlichen Formulierung sei lediglich zu entnehmen, dass Personen verpflichtet werden können, bestimmte Orte nicht zu verlassen, und dass Personen das Betreten von Orten untersagt werden kann. Dieser Wortlaut deute auf ein Verbot des Betretens oder Verlassens einer von der übrigen Umgebung abgrenzbaren (lokalen) Örtlichkeit (bspw. bestimmte „Infektionsherde“) hin. Ein sanktionsfähiges Aufenthaltsverbot oder sanktionsfähige Aufenthaltsbeschränkungen im gesamten öffentlichen Raum für jedermann und für einen unbestimmten Zeitraum sei dem Gesetzestext – auch bei sehr großzügiger Lesart – nicht zu entnehmen. Eine nähere Konkretisierung ergebe sich auch nicht mit Blick auf den Normtext in § 28 Abs. 1 S. 2 und Berücksichtigung weiterer Vorschriften des IfSG einschließlich des Normzusammenhangs (wird ausgeführt). Mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 103 Abs. 2 GG zeige sich, dass der Gesetzgeber in § 32 S. 1 IfSG und § 28 Abs. 1 IfSG eine Generalermächtigung geschaffen hat. Dieses formelle Gesetz zeichne sich insbesondere dadurch aus, dass der Gesetzgeber auf eine Umschreibung bzw. Konkretisierung sanktionsfähigen Verhaltens verzichtet. Vielmehr erfolge die Definierung des bußgeldbewehrten Verhaltens und damit die Schaffung der objektiven Tatbestandsmäßigkeit ausschließlich durch die Exekutive im Wege der Rechtsverordnung. Dies ist mit dem Bestimmtheitserfordernis aus Art. 103 Abs. 2 GG nicht zu vereinbaren. Die Ermächtigungsnorm in § 32 S. 1, § 28 Abs. 1 IfSG genügt darüber hinaus nicht den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG (wird ausgeführt).

Diesem Defizit an hinreichender Bestimmtheit der Generalermächtigung in §§ 32 S. 1, 28 Abs. 1 IfSG und die damit einhergehende Einschränkung grundrechtlichen Schutzes könnten die gefahrenabwehrrechtlichen Besonderheiten, die sich aufgrund von Erkrankungen an SARS-CoV 2 (Covid-19) und damit einhergehenden, weitestgehend (noch) unbekannten Gegebenheiten ergeben haben, hier nicht (mehr) entgegengehalten werden. Übergangsweise könne sich eine Generalklausel als Rechtsgrundlage für gravierende Grundrechtseingriffe als tragfähig erweisen, um in unvorhersehbaren Gefahrenlagen effektive Handlungsmöglichkeiten zur Gefahrenabwehr zu eröffnen (OVG Münster COVuR 2020, 423, 427). Bei der Bemessung des Übergangszeitraums seien – mit Blick auf verfassungsrechtliche Vorgaben – strenge Anforderungen zu stellen. Hier komme ein Rückgriff auf die ermächtigende Generalklausel in § 32 S. 1, § 28 Abs. 1 IfSG nicht (mehr) in Betracht. Bereits im März 2020 hätten dem Gesetzgeber sämtliche Erkenntnisse zu relevanten Schutzmaßnahmen – soweit es sich um einen Aufenthalt von Personen im öffentlichen Raum unter Einhaltung eines Mindestabstands handelt – zur Verfügung gestanden und es habe insoweit ohne Weiteres die Möglichkeit zur Konkretisierung der gesetzlichen Anforderungen und zur spezifischen Ausgestaltung grundrechtssensibler Eingriffe bestanden (wird ausgeführt). Damit liege eine lediglich übergangsweise Nutzung der Generalklausel in §§ 32 S. 1, 28 Abs. 1 IfSG als Ermächtigungsgrundlage für gravierende Grundrechtseingriffe ersichtlich nicht mehr vor. Die Notwendigkeit schnellen und sich immer wieder anpassenden staatlichen Handelns auf eine dynamische Gefährdungslage setze verfassungsrechtliche Vorgaben nicht außer Kraft.

Das in §§ 9 Nr. 1, 3 Abs. 1 CoronaVO BW bußgeldbewehrte Verbot des Aufenthalts im öffentlichen Raum setze in seiner tatbestandlichen Anwendung das Bestehen einer tatsächlichen Gefahr nicht voraus. Damit knüpfe das Verbot an einen bloßen Gefahrenverdacht an; eine Situation, in der ein Besorgnispotential besteht, zu dem jedoch (konkret) nähere Erkenntnisse (noch) nicht vorliegen. Gleichwohl könnten im Einzelfall auf der Basis eines bloßen Gefahrenverdachts auch endgültige (belastende) Gefahrenabwehrmaßnahmen angeordnet und durchgesetzt werden. Entscheidende Voraussetzung für präventiv staatliches Eingreifen sei hier lediglich der Aufenthalt von Personen im öffentlichen Raum; mithin ein sehr niederschwelliger Verdacht. Die Ordnungsbehörden würden zu dem Zeitpunkt, in dem ein Aufenthaltsverbot im öffentlichen Raum durchzusetzen ist, regelmäßig vor Ort nicht in der Lage sein abzuschätzen, ob von den betroffenen Personen tatsächlich ein Infektionsrisiko ausgeht oder ob alle Beteiligten gesund und damit „ungefährlich“ sind. Für den hier zu entscheidenden Fall im Recht der Ordnungswidrigkeiten würden mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit jedoch Modifikationen gelten. Denn die Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten diene als Teil repressiven Handelns nicht mehr unmittelbar der Abwehr einer Gefahr oder eines Gefahrenverdachts. Diesem Gesichtspunkt trage § 9 Nr. 1 CoronaVO BW keine Rechnung. Denn die Vorschrift sanktioniere sämtliche Verstöße gegen das Verbot des Aufenthalts im öffentlichen Raum unabhängig davon, ob tatsächlich eine Gefahrensituation bestanden hat oder nicht. Damit erweise sich die ausnahmslose Bußgeldbewehrung in § 9 Nr. 1 CoronaVO BW – die keinerlei Härtefallregelung vorsieht – in ihrer hier vorliegenden Ausgestaltung als unverhältnismäßig. Die der Verurteilung des Betroffenen zugrunde liegenden Bußgeldvorschriften seien mithin ungültig.

Der Senat sei an der Vorlage der bundesgesetzlichen Vorschriften in §§ 32 S. 1, 28 Abs. 1 IfSG im Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG gehindert, da es an der erforderlichen Entscheidungserheblichkeit fehlt. Selbst im Falle der Gültigkeit der vorzulegenden Bundesgesetze käme der Senat (auch) aufgrund weiterer Rechtsfehler des Urteils in vorliegender Rechtsbeschwerdesache zu keinem anderen Ergebnis. Der Senat sei an einer Divergenzvorlage (§ 121 Abs. 2 GVG) der landesrechtlichen Verordnungsvorschriften mit Blick auf die Rechtsprechung anderer OLG außerhalb BW gehindert. In Bezug auf Entscheidungen des OLG Karlsruhe (Beschl. v. 30.3.2021 – 2 Rb 34 Ss 1/21 und 2 Rb 34 Ss 2/21, juris) fehle es vorliegend an der von § 121 Abs. 2 GVG vorausgesetzten (Entscheidungs-)Erheblichkeit. Hinsichtlich der abweichenden Meinung des Senats des OLG Stuttgart im Beschluss vom 21.4.2021 – 4 Rb 24 Ss 7/21, juris, liege eine Innendivergenz vor, aufgrund derer eine Vorlage gleichfalls ausgeschlossen sei.

III. Bedeutung für die Praxis

Das OLG folgt dem Ansatz des ThürVerfGH, der zwischenzeitlich die einschlägigen Fragen dem BVerfG vorgelegt hat (Beschl. v. 19.5.2021 – 110/20, juris) und stellt sich gegen die einhellige Bewertung durch andere OLG (wie o. zitiert) für die jeweiligen Landes-Verordnungen (Rechtsprechungsübersicht zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie im Straf- und Bußgeldrecht bei Deutscher, StRR 6/2021, 5). Es darf bezweifelt werden, dass sich dieser Ansatz durchsetzen wird. Trotz entsprechender Bekenntnisse hat das OLG die Ernsthaftigkeit der Folgen der Corona-Pandemie wohl doch unterschätzt, die mit ihren schnellen und heftigen Wellen dynamisches staatliches Handeln zum Gesundheitsschutz erfordert, zumal das Aufenthaltsverbot anders als ein Ausgangsverbot kein gewichtiger Grundrechtseingriff ist. Auch die Äußerungen zur Bußgeldandrohung sind wenig überzeugend. So sind viele Bußgeldandrohungen als abstrakte Gefährdungsdelikte ausgestaltet, die das Vorliegen einer Gefahr nicht voraussetzen, sondern gerade deren Verhinderung dienen sollen. Angesichts der weitreichenden grundsätzlichen Bedeutung der Entscheidung auch über BW hinaus ist es bedauerlich, dass das OLG meint, Vorlagen an das BVerfG oder den BGH seien hier ausgeschlossen. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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