Beitrag

C. Der Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Justiz

I. Einleitung

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Am 17.1.2020 veranstaltete der EDV-Gerichtstag einen zweiten Workshop über die Möglichkeiten des Einsatzes von künstlicher Intelligenz (KI) im Bereich der Justiz. In dem vorliegenden Text sollen die Ergebnisse der Veranstaltung vorgestellt werden:

II. Rechtsinformatische Analyse von Dokumenten mit SINC RIAD

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Herr Dr. Matthias Grabmair , Herr Klaas Schmidt und Herr Till Elborg von der SINC GmbH, berichteten über die rechtsinformatische Analyse von Dokumenten mit SINC RIAD .

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Die Analyse mit RIAD ist ein Service, der in den bisherigen Prozess des Eingangs von Dokumenten und deren Zuordnung zur elektronischen Akte eingebettet werden kann. Die RIAD Analyse erfolgt vor dem Export zur Fachanwendung. Die Lösung kann an alle E-Akten-Systeme angedockt werden, soweit ein Webservice integriert werden kann. Es erfolgt eine Multimedia-Analyse, d.h. sowohl der Dokumententext als auch das Bild des Dokuments werden ausgewertet.

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RIAD ermöglicht die Identifikation von „named entities“, wie Personen, Orten, Geldbeträgen, E-Mail-Adressen, Internet-URLs, Datums- und Zeitangaben, juristischen Verweisen auf Literatur- und Rechtsprechung, Aktenzeichen und Normverweise.

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Des Weiteren können Schlagwörter identifiziert und Inhaltsverzeichnisse erstellt werden. Die Dokumente können klassifiziert, verglichen, gleiche oder ähnliche Textbausteine kenntlich gemacht und Dokumentenvorlagen identifiziert werden. Unter Nutzung der identifizierten Datums- und Zeitangaben kann ein Zeitstrahl generiert werden. Eine Verknüpfung der juristischen Verweise mit juristischen Datenbanken ist möglich.

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Ein weiteres Beispiel für eine KI-Anwendung in der Justiz ist der RIAD Normfänger . Er ist in der Lage, Normen zu erkennen und zu verknüpfen. Bei einer derartigen Anforderung kommen regelbasierte Verfahren an ihre Grenzen. Zwar ist das Grundmuster, nach dem Paragrafen aufgebaut sind, simpel (z.B. § 823 BGB). Es müssen aber auch zahlreiche Sonderfälle erkannt werden. Die Lösung ist der Einsatz von Segmenterkennung mit neuronalen Netzen. Die Anforderung ist die Erkennung und Strukturierung von Normspannen.

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Regelbasierte Anwendungen sind insbesondere nicht in der Lage, das Kontextende zu erkennen. Teil der Normen sind unbekannte Namen, Akronyme und Zusatzinformationen. Die Lösung ist das Training eines robusten „Sequence Labeling“ Maschine-Learning-Modells. Es handelt sich um ein Long-Short-Term-Memory Neuronales Netz (LSTM). Dies ist eine verbreitete Architektur im Natural Language Processing, die die Klassifikation von Text als innerhalb/außerhalb der Normspanne liegend ermöglicht. Es wird eine Kombination aus regelbasiertem und statistischem Verfahren eingesetzt.

Mittlerweile ist u.a. eine Integration in die juristische Textanalyse erfolgt.

III. AI Vidence am Beispiel des kanarischen Gerichtshofs

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Herr Timo Nink, Herr Michael Jacobs und Frau Caroline Weimann von der Accenture GmbH stellten die KI-Anwendung AI Vidence vor, die aktuell schon am kanarischen Gerichtshof eingesetzt wird.

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Im Auftrag der Regierung der kanarischen Inseln arbeitet Accenture an einem Transformationsprogramm der kanarischen Justiz. Accenture hat die Anwendung AI Vidence (auf den Kanaren unter dem Namen Al Atlante bekannt) entwickelt, welche durch die Anwendung künstlicher Intelligenz neue Unterstützungsfunktionen und Arbeitsabläufe für Richter und Staatsanwälte ermöglicht.

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Auf den Kanaren werden Gerichtsverhandlungen auf Video aufgenommen. Al Atlante erstellt Transkription von Audio- und Videodateien, unterscheidet Beteiligte, übersetzt in die Amtssprache Spaniens (kastilisch), kategorisiert Dokumente, identifiziert Fundstellen, Daten sowie Personen und ermöglicht die Darstellung von Dokumenten nach Kategorien, nach dem Verfasser und aufgrund des Eingangsdatums. Des Weiteren ermöglicht Al Atlante die Automatisierung einfacher Prozesse. Zudem kann eine 360º Analyse von Schlüsselbegriffen über Aktenbestandteile hinweg erfolgen. Diese weist beispielsweise auf Unstimmigkeiten hin, wenn keine Entscheidung über einen Teil der Forderung erfolgt ist. Zukünftig soll eine Anonymisierungsfunktion geplant werden, die zu schwärzende Stellen vorschlägt. Die Vorschläge sollen durch einen menschlichen Anwender geprüft werden.

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Die Ideen und Anwendungsfälle wurden in mehreren Workshops gemeinsam mit den Fachabteilungen der Justiz entwickelt. Das Ziel war eine Entlastung der Organisation. Es wurde hinterfragt, welche Prozesse besonders zeitaufwändig oder kostenintensiv sind. Ein interdisziplinäres Team mit einem Verständnis für Fachlichkeit, Anwendungsentwicklung und digitale Geschäftsprozesse setzte anschließend die Ideen in die Applikation AI Atlante um.

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Accenture ermöglicht zudem bei der Bearbeitung von Massenverfahren in Katalonien und Barcelona die automatische Identifikation von Formfehlern. Da das Verfahrensrecht, die Klageabweisung im Falle von Formfehlern vorsieht, wird die Sachbearbeitung hierdurch stark beschleunigt.

IV. PROSAR-Aida (InputModules Justiz)

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Sodann referierten Herr Steffen Unger , Paradatec, und Herr Thomas Ellegast , Unisys Deutschland, über den Einsatz des auf PROSAR-Aida beruhenden Basisdienstes Dokumentenerkennung, einer Anwendung des InputModules Justiz.

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Die InputModules Justiz beinhaltet eine Dokumentenklassifikation, eine Dokumenten-Trennung, eine Beteiligtenerkennung anhand des Rubrums, eine Bearbeitung von Kostennoten und eine Schwärzung/Anonymisierung von Entscheidungen.

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Es schloss sich eine Live-Demo PROSAR-Aida, durch Herrn Axel Lang , Paradatec, und Herrn Klaas Schmidt , SINC, an.

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Hinweis:Über die Ergebnisse eines Proof of Concepts zu der grundsätzlichen Eignung des Basisdienstes Dokumentenerkennung für einen Einsatz bei der Justiz Rheinland-Pfalz wird in einer künftigen Ausgabe berichtet.

V. KI zur Unterstützung der Aktendurchdringung und Verfahrensbearbeitung

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Herr Enno Schulte und Herr Peter Meißner von der virtual7 GmbH trugen zu der Frage vor, wie KI zur Unterstützung der Aktendurchdringung und Verfahrensbearbeitung eingesetzt werden kann.

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KI kann zur Dokumentenanalyse eingesetzt werden. Dies ermöglicht eine maschinelle Übersetzung, die Gewinnung und Extraktion von Informationen, eine Sentiment Analyse und die Identifikation von Textelementen.

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Ein Einsatzfall von Dokumentenanalyse in der Justiz sei beispielsweise die Automatisierung von Massenverfahren. Des Weiteren könnten konkrete Informationen mit Hilfe von KI extrahiert werden. Es sei möglich bestimmte Klauseln, z.B. der Tenor eines Zahlungsurteils, zu identifizieren.

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Die Dokumentsemantik könne analysiert werden. Dies ermögliche, die Zusammenfassung von Texten. Es sei ein Vergleich von Dokumenten möglich, der die Identifikation von identischen Inhalten und eine Gruppierung von Dokumenten mit ähnlichen Inhalten oder ähnlichen Textpassagen erlaube.

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Es könnten Abhängigkeiten identifiziert werden. Es sei möglich, die Software so zu trainieren, dass eine Replik, die deutlich später erfolgt, gefunden werde. Es könne dann die Seite, auf der die Replik steht, angezeigt werden.

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Zudem könnten Inkonsistenzen kenntlich gemacht werden. Eine entsprechend trainierte Anwendung könne erkennen, wenn in einem Text eine Behauptung aufgestellt und diese zu einem späteren Zeitpunkt widerlegt werde.

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KI kann auch zur Unterstützung bei der Recherchearbeit eingesetzt werden, z.B. könnten zusätzliche Informationen aus Bildern von Google Street View gewonnen werden, die Wetterinformationen an einem bestimmen Ort zu einer bestimmten Zeit oder Informationen über Verspätungen abgerufen werden. Diese Möglichkeiten werden bereits durch Legal Tech-Unternehmen genutzt.

VI. Analyse großer Datenmengen mit KI am Fallbeispiel der Kantonspolizei Zürich

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Im Anschluss berichtete Herr Christian Schieb , Unisys Österreich, über die Analyse großer Datenmengen mit KI am Fallbeispiel der Kantonspolizei Zürich. Kognitive Systeme ermöglichen eine präzise Datenanalyse durch hocheffizientes Sammeln, Vergleichen und Abgleichen von Informationen für eine effektive Analyse.

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Die bei der Kantonspolizei Zürich eingesetzte Lösung beruht auf IBM Watson Discovery . Unisys Analytics ist eine Plattform mit einer 360°-Perspektive, die nach dem Motto „Finden statt Suchen“ Informationen und Korrelationen aus großen Datenmengen analysieren kann.

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Es handelt sich um einen Chatbot zur Kundenkommunikation, der Fakten aufzeigen kann, um Antworten auf Fragen zu bekommen. Die Plattform kann Bilder und Videos mit Hilfe von künstlicher Intelligenz erkennen und klassifizieren. Sie ist zur Umwandlung von natürlicher Sprache in Text und umgekehrt in der Lage. Sie ermöglicht die Übersetzung von Texten in eine andere Sprache und erkennt insgesamt 17 Sprachen. Sie ist zur Empathieanalyse fähig, indem sie Tonlagen analysiert und hierdurch Emotionen versteht und Persönlichkeitseinblicke gibt.

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Des Weiteren kann eine Erkennung bekannter Entitäten, z.B. von Personen, Orten, Organisationen und eine Erstellung von benutzerspezifischen Wörterverzeichnissen, z.B. von Straßen, Marken und Fachbegriffen, erfolgen. Zudem können weitere benutzerdefinierte Funktionen eingebaut werden. Beispielsweise können Bedrohungsszenarien über eine Kombination aus Listen mit Drohbegriffen und Aggressionsmerkmalen kombiniert mit Pronomen (Personen, Sprachlogik) identifiziert werden.

VII. JustizMEMORIA

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Zum Abschluss stellten Herr Holger Bogs , IBM Deutschland GmbH, und Herr Jakob Efe , KPMG, den Einsatz von KI in der Justizarbeit mit JustizMEMORIA vor. Bei dieser Anwendung wird IBM Watson zur semantischen Spracherkennung eingesetzt. Die Anwendung sei auf viele Rechtsgebiete skalierbar.

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Es erfolgte eine Live-Demo JustizMemoria , bei der die Bearbeitung eines Verfahrens in Mietsachen demonstriert wurde:

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Innerhalb der Anwendung müssen ein neues Verfahren erstellt und die relevanten Dokumente hochgeladen werden. JustizMemoria ermöglicht eine Gegenüberstellung der Anträge, des Parteivortrags, eine Prüfung der relevanten Passagen aus den Anhängen und eine Erstellung der rechtlichen Würdigung. Es werden Entitäten und Relationen gesucht, Textblöcke identifiziert und klassifiziert, Betriebskostenarten klassifiziert und Klage bzw. Klageerwiderung zuordnet. Dann wird eine Gesamtansicht zur Bestätigung angezeigt.

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JustizMemoria unterstützt bei der Recherche. Es werden Unterlagen für die mündliche Verhandlung erzeugt. Die Relationsarbeit wird automatisiert. Nachdem der Richter die Entscheidung (Stattgabe, Teilstattgabe oder Abweisung) ausgewählt hat, wird eine Rohfassung des Urteils durch Vorschlag entsprechender Textbausteine generiert. Beispielsweise wird der Tatbestand automatisiert vorformuliert. Im Anschluss erfolgt eine manuelle Ergänzung durch den Richter.

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HinweisDieser Beitrag wird fortgesetzt. Im nächsten Teil soll über den „Workshop zu den Themen Künstliche Intelligenz (KI) in der Justiz und Legal Tech“ berichtet werden, der am 12.3.2020 in Berlin stattfand.

Hinweis : Isabelle Désirée Biallaß ist Referentin im Ministerium der Justiz Nordrhein-Westfalen. Der Beitrag gibt ausschließlich ihre persönliche Auffassung wieder.

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