Es kann eine grobe Pflichtverletzung des Arbeitgebers nach § 23 Abs. 3 BetrVG darstellen, wenn er Kündigungen ohne vorherige Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 BetrVG ausspricht.
[Amtliche/Redaktionelle Leitsätze]
I. Der Fall
Antrag nach § 23 Abs. 3 S. 1 BetrVG
Die Beteiligten streiten über einen Unterlassungsantrag des Betriebsrats gegenüber dem Arbeitgeber wegen nicht erfolgter Anhörung des Betriebsrats nach § 23 Abs. 3 S. 1 BetrVG sowie über die Androhung eines Ordnungsgeldes.
Kündigungen ohne Anhörung des Betriebsrats
Der verklagte Arbeitgeber hat Ende Februar 2019 gegenüber dem Arbeitnehmer A eine Kündigung ausgesprochen, ohne zuvor den Betriebsrat angehört zu haben. Ende September 2020 sprach der Arbeitgeber sechs weitere (krankheitsbedingte) Kündigungen aus, erneut ohne den Betriebsrat zuvor beteiligt zu haben.
Rüge des Betriebsrats
Der Betriebsrat beanstandete die unterbliebene Beteiligung nach § 102 Abs. 1 BetrVG gegenüber dem Arbeitgeber (sowie verschiedene Verstöße gegen § 99 Abs. 1 BetrVG) über seine (nunmehrigen) Verfahrensbevollmächtigten mit Schreiben vom 16.4.2019.
Erklärung des Arbeitgebers
Daraufhin teilte der Arbeitgeber unter dem 24.4.2019 mit, im Fall des Arbeitnehmers A sei eine Anhörung des Betriebsrats deshalb unterblieben, weil die Kündigung in Abstimmung mit dem Rechtsbeistand und auf dessen Wunsch ausgesprochen worden sei, um aus der Aufhebungsvereinbarung eine Abwicklungsvereinbarung zu machen. Die unterbliebene Beteiligung zu den krankheitsbedingten Kündigungen entschuldigte der Arbeitgeber mit einem Versehen des zuständigen Sachbearbeiters der Personalabteilung und versicherte dem Betriebsrat, dass dieser – außer in den Fällen, in denen die Kündigung auf Wunsch des Arbeitnehmers ausgesprochen werde – künftig zu jeder Kündigung angehört werde.
Einleitung eines Beschlussverfahrens
Der Betriebsrat hielt dies nicht für ausreichend und hat mit seinem am 27.11.2020 beim Arbeitsgericht eingegangenen Antrag geltend gemacht, dem Arbeitgeber aufzugeben, es unter Androhung eines Ordnungsgeldes zu unterlassen, Kündigungen auszusprechen, ohne zuvor den Betriebsrat nach § 102 BetrVG zu beteiligen.
Verfahrensgang
Während das Arbeitsgericht die Anträge des Betriebsrats zurückgewiesen hat (ArbG Frankfurt/Main, Beschl. v. 9.11.2021 – 24 BV 534/20), sah das Landesarbeitsgericht die Beschwerde des Betriebsrats als begründet an (LAG Hessen, Beschl. v. 8.8.2022 – 16 TaBV 191/21).
II. Die Entscheidung
Beschwerde begründet
Das Landesarbeitsgericht erachtete die Vorgehensweise des Arbeitgebers, Kündigungen auszusprechen, ohne den Betriebsrat zuvor zu beteiligen, als grob pflichtwidrig und gab der Beschwerde statt.
grobe Pflichtverletzung
Nach § 23 Abs. 3 BetrVG – so lautet es in den Entscheidungsgründen – könne der Betriebsrat dem Arbeitgeber bei einem groben Verstoß gegen seine Verpflichtungen aus dem Betriebsverfassungsgesetz durch das Arbeitsgericht aufgeben lassen, eine Handlung zu unterlassen. Nach § 102 Abs. 1 BetrVG ist der Betriebsrat vor jeder Kündigung zu hören. Der Arbeitgeber hat ihm die Gründe für die Kündigung mitzuteilen. Eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung ist unwirksam und begründe einen Verstoß gegen § 23 Abs. 1 BetrVG. Ein grober Verstoß des Arbeitgebers im Sinne von § 23 Abs. 3 BetrVG sei bei einer solchen objektiv erheblichen und offensichtlich schwerwiegenden Pflichtverletzung zu bejahen (BAG, Urt. v. 7.2.2012 – 1 ABR 77/10), ohne dass es auf ein Verschulden des Arbeitgebers ankomme.
Anhörung auch bei Vorfeldabsprachen
Dies gilt nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts auch bei einer vor Ausspruch der Kündigung mit dem betroffenen Arbeitnehmer bereits erfolgten Einigung. Auch wenn dessen Rechtsbeistand im Rahmen von Aufhebungsverhandlungen darum gebeten habe, eine Kündigung auszusprechen, um aus einer Aufhebungs- eine Abwicklungsvereinbarung zu machen, sei vor dem Ausspruch dieser „gewünschten“ Kündigung eine Betriebsratsanhörung erforderlich (BAG, Urt. v. 28.6.2005 – 1 ABR 25/04). Dies habe der Betriebsrat daher zurecht moniert.
keine Exkulpation
Der Arbeitgeber könne sich auch nicht dadurch entlasten, dass zum fraglichen Zeitpunkt die Personalabteilung von vielen Vorgesetztenwechseln geprägt gewesen sei und noch keine „eingeschwungene Praxis“ beim Ausspruch von Kündigungen bestanden habe. Vielmehr hätte der Personalsachbearbeiter dann im Rahmen der von ihm vorzunehmenden Einzelfallbearbeitung ohne weiteres erkennen können (müssen), dass der Betriebsrat vor Ausspruch der Kündigungen anzuhören ist.
Wiederholungsgefahr
Die festgestellte grobe Pflichtverletzung indiziere die Wiederholungsgefahr. Faktische oder rechtliche Gründe, die eine Wiederholung des betriebsverfassungswidrigen Verhaltens ausschließen, lägen nicht vor. Im Gegenteil: Es könne jederzeit wieder vorkommen, dass der Personalsachbearbeiter vor dem Ausspruch von Kündigungen die Anhörung des Betriebsrats vergisst. Die Zusicherung, künftig betriebsverfassungswidriges Verhalten zu unterlassen, schließe die Wiederholungsgefahr nicht aus.
Androhung von Ordnungsgeld
Schlussendlich hat das Landesarbeitsgericht infolgedessen auch den Antrag des Betriebsrats, der Arbeitgeber für jeden Fall der Zuwiderhandlung ein Ordnungsgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, anzudrohen, für begründet angesehen, allerdings zurecht auf die Höchstgrenze des § 23 Abs. 3 S. 5 BetrVG (10.000 EUR) hingewiesen (BAG, Beschl. v. 24.4.2007 – 1 ABR 47/06).
III. Der Praxistipp
Anhörung des BR vor jeder Kündigung
Der Betriebsrat ist in mitbestimmten Betrieben vor jeder Kündigung anzuhören. Dies gilt nicht nur bei Probezeitkündigungen, wobei mangels uneingeschränkter Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes vor Ablauf der Wartezeit von sechs Monaten dann die Angabe, dass kein Interesse an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses besteht, genügt (BAG, Urt. v. 12.9.2013 – 6 AZR 121/12). Der Betriebsrat ist aber auch zu beteiligen, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich bereits im Vorfeld des Ausspruchs der Kündigung geeinigt haben und die Kündigung nur „pro forma“ erfolgt, um durch einen im Kündigungsschutzverfahren im schriftlichen Verfahren zu schließenden Vergleich Arbeitslosengeldansprüche des Arbeitnehmers abzusichern.
zur Vermeidung von Risiken
Auch wenn die Versuchung groß ist, im Falle einer bereits erfolgten Einigung mit dem Arbeitnehmer den Betriebsrat nicht zu beteiligen, birgt dies erhebliche Risiken. Zum einen kann der Arbeitnehmer die unterbliebene Beteiligung zu jedem späteren Zeitpunkt in einem Kündigungsschutzverfahren monieren, wenn er binnen drei Wochen Kündigungsschutzklage erhoben hat. Zum anderen kann der Betriebsrat – wie im vorliegenden Verfahren – den Verstoß gegen das zwingende Mitbestimmungsrecht rügen, eine grobe Pflichtverletzung geltend machen und ein Ordnungsgeld erwirken.
pragmatische Lösung
Ist das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat „ein gutes“, wird der Betriebsrat nach entsprechender informeller Unterrichtung über die Hintergründe neben der formellen und ordnungsgemäßen Anhörung im Regelfall die Stellungnahmefrist des § 102 Abs. 2 BetrVG fruchtlos verstreichen lassen, so dass die Kündigung mitbestimmungskonform erfolgen kann.
Dr. Gunther Mävers, Maître en Droit, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln, maevers@michelspmks.de