Die Bindungswirkung an die strafrechtliche Verurteilung in § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG greift auch dann ein, wenn das Strafgericht nach einer Straftat im Verkehr unter Alkoholeinfluss das Bestehen der Kraftfahreignung eingehend begründet und deshalb lediglich ein Fahrverbot nach § 44 StGB verhängt hat. (Leitsatz des Verfassers)
I. Sachverhalt
Fahrverbot angeordnet
Die Verwaltungsbehörde hat dem Betroffenen mit für sofort vollziehbar erklärter Verfügung die Fahrerlaubnis unter Verweis auf § 3 Abs. 1 StVG, §§ 11 Abs. 8 und 46 FeV entzogen und ihn unter Androhung der Ersatzvornahme aufgefordert, seinen Führerschein abzugeben. Der Betroffene ist im Jahr 2009 mit Urteil des AG wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr (2,31 ‰) verurteilt worden. Nach Wiedererteilung der Fahrerlaubnis wurde er am 17.11.2021 wegen fahrlässiger Tötung unter Alkoholeinfluss (0,59 ‰) im öffentlichen Straßenverkehr am 8.10.2019 vom LG als Berufungsinstanz verurteilt und ein Fahrverbot nach § 44 StGB verhängt. Der anschließenden Aufforderung zur MPU ist er nicht nachgekommen. Das VG hat den Einspruch des Betroffenen zurückgewiesen. Auf seine Beschwerde hat das OVG die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs wiederhergestellt.
II. Entscheidung
Grundlagen
Im Ausgangspunkt zutreffend habe das VG festgehalten, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis wegen unterbliebener Vorlage eines angeordneten Gutachtens (§ 3 Abs. 1 StVG i.V.m. §§ 46 Abs. 1 Satz 1, 11 Abs. 8 Satz 1 FeV) voraussetzt, dass die Gutachtenanordnung ihrerseits rechtlich nicht zu beanstanden ist, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist. Hier bestünden indes erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit. Das LG habe die Kraftfahreignung des Antragstellers in dem wegen der Tat vom 8.10.2019 geführten Strafverfahren geprüft und bejaht. Die Bindungswirkung dieser strafgerichtlichen Beurteilung (§ 3 Abs. 4 Satz 1 StVG) schließe es aus, dass die Fahrerlaubnisbehörde den Vorfall vom 8.10.2019 als Anlass für die Anordnung einer MPU nach § 13 Satz 1 Nr. 2 lit. b) FeV nimmt. Mit § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG solle die sowohl dem Strafgericht (§ 69 StGB) als auch der Verwaltungsbehörde (§ 3 Abs. 1 StVG) eingeräumte Befugnis, bei fehlender Kraftfahreignung die Fahrerlaubnis zu entziehen, so aufeinander abgestimmt werden, dass Doppelprüfungen unterbleiben und die Gefahr widersprechender Entscheidungen ausgeschaltet wird. Der Vorrang der strafrichterlichen vor der behördlichen Entscheidung finde seine Rechtfertigung darin, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis durch das Strafgericht als Maßregel der Besserung und Sicherung keine Nebenstrafe, sondern eine in die Zukunft gerichtete, aufgrund der Sachlage zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung zu treffende Entscheidung über die Gefährlichkeit des Kraftfahrers für den öffentlichen Straßenverkehr ist. Allerdings sei die Verwaltungsbehörde an die strafrichterliche Eignungsbeurteilung nur dann gebunden, wenn diese auf ausdrücklich in den schriftlichen Urteilsgründen getroffenen Feststellungen beruht und wenn die Behörde von demselben und nicht von einem anderen, umfassenderen Sachverhalt als das Strafgericht auszugehen hat. Deshalb entfalle die Bindungswirkung, wenn das Strafurteil überhaupt keine Ausführungen zur Kraftfahreignung enthält oder wenn jedenfalls in den schriftlichen Urteilsgründen unklar bleibt, ob das Strafgericht die Fahreignung eigenständig beurteilt hat.
Im konkreten Fall
Nach diesem Maßstab entfalte das landgerichtliche Berufungsurteil vom 17.11.2021 Bindungswirkung zugunsten der Kraftfahreignung des Antragstellers. Zwar sei die Tatsache, dass ein Strafgericht anstelle einer in Betracht kommenden Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) ein Fahrverbot (§ 44 StGB) verhängt, regelmäßig nicht schon für sich genommen Ausdruck einer stillschweigenden Prüfung (und Bejahung) der Fahreignung, so dass nicht bereits deswegen eine Bindungswirkung entsteht (VGH München, Beschl. v. 7.8.2008 – 11 CS 08.1854, Rn 40; OVG Münster, Beschl. v. 19.3.2015 – 16 B 55/15, Rn 8). Hier sei aber Ziel des Berufungsverfahrens und Schwerpunkt der landgerichtlichen Prüfung gerade die „Abwehr“ der erstinstanzlich verhängten Maßregel der Besserung und Sicherung nach § 69 StGB gewesen. Vor diesem Hintergrund könnte einiges dafürsprechen, dass schon die Entscheidungsformel – Änderung der in erster Instanz ausgesprochenen Fahrerlaubnisentziehung in eine Entscheidung nach § 44 StGB – Ausdruck einer im Sinne des § 3 Abs. 4 StVG hinreichenden Prüfung der Kraftfahreignung des Antragstellers sein könnte, zumal Fahrverbot und Fahrerlaubnisentziehung sich gegenseitig grundsätzlich ausschließen. Diese Frage könne aber auf sich beruhen. Denn aus der niedergelegten Begründung des Berufungsurteils vom 17.11.2021 werde hinreichend klar, dass das LG die Kraftfahreignung des Antragstellers auf Grundlage der im Strafverfahren getroffenen Feststellungen eigenständig geprüft und bejaht hat (wird ausgeführt). Dass der angefochtene Beschluss weitere „Ausführungen zur körperlichen und geistigen Verfassung des Antragstellers“ vermisst, überspanne hier die Anforderungen des § 3 Abs. 4 StVG. Der Hinweis im Urteil auf eine unauffällige Teilnahme des Antragstellers am Straßenverkehr seit der Tat vom 8.10.2019 mache nicht deutlich, dass das Strafgericht gerade keine eigenständige Bewertung der Kraftfahreignung vorgenommen habe. Es sei auch nicht lediglich auf den Zeitablauf als einziges oder doch zumindest schlagendes Argument für das Absehen von einer Entziehung der Fahrerlaubnis abgestellt worden (VGH München, Beschl. v. 15.5.2006 – 11 CS 06.673, Rn 12; BVerwG NZV 1989, 125). Zwar binde eine strafgerichtliche Eignungsbeurteilung die Fahrerlaubnisbehörde nach § 3 Abs. 4 StVG nicht, wenn die strafrechtliche Untersuchung nur einen Teil des Vorgangs abdeckt, der verwaltungsrechtlich zu beurteilen ist. Der Hinweis, das LG habe in Bezug auf die „Alkoholproblematik“ des Antragstellers als Eignungsmangel keine hinreichenden Feststellungen getroffen, gehe hier indes fehl. Bei dieser Sachlage sei der Verwaltungsbehörde gem. § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG aller Voraussicht nach gehindert, auf Grundlage desselben Sachverhalts ein medizinisch-psychologisches Eignungsgutachten anzuordnen.
III. Bedeutung für die Praxis
Ein Klassiker
Die Bestimmung der Reichweite der Bindungswirkung an die strafrechtliche Entscheidung bei der verwaltungsrechtlichen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG ist ein Klassiker (näher Pießkalla NZV 2022, 379; Dauer, in Hentschel/König/Dauer, StVR, 47. Aufl. 2023, § 3 StVG Rn 59, 59a m. Nw.). Die Bindungswirkung im Strafverfahren entfällt, wenn das Strafurteil überhaupt keine Ausführungen zur Kraftfahreignung enthält oder wenn jedenfalls in den schriftlichen Urteilsgründen unklar bleibt, ob das Strafgericht die Fahreignung eigenständig beurteilt hat (VGH München DAR 2020, 707 m. Anm. Koehl). Enthält ein strafgerichtliches Urteil nur Ausführungen zu einem Fahrverbot (§ 44 StGB), nicht aber zur Fahreignung nach § 69 StGB, besteht keine Bindungswirkung gem. § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG für das nachfolgende Verwaltungsverfahren betreffend den Entzug der Fahrerlaubnis (VGH München DAR 2021, 647 m. Bespr. Fromm 652 = NZV 2021, 485 [Metz]). Hier bestand in jener Konstellation die Besonderheit, dass das Strafurteil das Bestehen der Fahreignung eingehend begründet hat und deshalb nur ein Fahrverbot verhängt hat. Das liegt vor allem in Fällen nahe, in den zwar die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB in Betracht kommt, aber wie hier kein Regelfall nach Abs. 2 der Vorschrift einschlägig ist. Dann bedarf das (Nicht)Bestehen der Fahreignung einer eingehenden Begründung, die dann nach der überzeugenden Begründung des OVG auch die Bindungswirkung auslöst. In Fällen wie hier ist ein Vorgehen gegen die Gutachtenordnung durchaus erfolgsversprechend.