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Bemessung des Schmerzensgeldes: Genugtuungsfunktion

(1) Verschulden des Schädigers

Mit Blick auf die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes sind auch die Art und der Grad des Verschuldens des Schädigers bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen.

Das Tatgericht hat vor diesem Hintergrund die Möglichkeit, das Schmerzensgeld im Falle vorsätzlicher Verletzungen, insb. im Falle vorsätzlicher Straftaten, aber auch im Falle grob fahrlässigen Verhaltens des Schädigers höher zu bemessen als im Falle einfach fahrlässigen oder – falls für eine Haftung des Grunde nach überhaupt ausreichend – schuldlosen Verhaltens (Vgl. BGH, Beschl. d. Vereinigten Großen Senate v. 16.9.2016 – VGS 1/16, BGHZ 212, 48 Rn 55; BGH, Beschl. d. Großen Senats für Zivilsachen v. 6.7.1955 – GSZ 1/55, BGHZ 18, 149 (155); OLG Saarbrücken, Urt. v. 26.2.2015 – 4 U 26/14, NJW-RR 2015, 1119 Rn 44 ff.).

Dies gilt auch für Arzthaftungssachen, wobei zu beachten ist, dass der dort vor allem für die Frage der Beweislast in Bezug auf die haftungsbegründende Kausalität relevante Begriff des (objektiv) groben Behandlungsfehlers nicht mit der für die Genugtuungsfunktion relevanten groben Fahrlässigkeit gleichgesetzt werden darf (BGH, Urt. v. 8.2.2022 – VI ZR 409/19, NJW 2022, 1443 Rn 13 ff.).

Erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang schließlich ein Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 29.8.2005 (OLG Frankfurt, Urt. v. 29.8.2005 – 12 U 190/04, zfs 2005, 597), dem sich entnehmen lässt, dass der dortige Senat das bei alleinigem Abstellen auf die Ausgleichsfunktion angemessene Schmerzensgeld (nahezu) verdoppelt hat, weil der Unfall von einem erheblich alkoholisierten Geisterfahrer grob fahrlässig herbeigeführt worden war. Im Falle einfachen Verschuldens oder bloßer Gefährdungshaftung tritt der Genugtuungsgedanke in den Hintergrund.

Da auch einer strafrechtlichen Verurteilung eine Genugtuungsfunktion zukommt, stellt sich die Frage, ob eine solche Verurteilung des Schädigers schmerzensgeldmindernd zu berücksichtigen ist. Der BGH hat dies verneint (BGH, Urt. v. 16.1.1996 – VI ZR 109/95, VersR 1996, 382 f.).

 

(2) Anlass des Unfalls oder der Verletzungshandlung

Auch auf den Anlass des Unfalls oder der Verletzung kann es unter Umständen ankommen. So können Handlungen nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BGH, Beschl. d. Großen Senats für Zivilsachen v. 6.7.1955 – GSZ 1/55, BGHZ 18, 149 (158 f.)) auch bei gleichem Verschuldensgrad ein ganz unterschiedliches Gepräge haben, je nachdem, ob sie etwa bei der Befriedigung eines Vergnügens oder im Zusammenhang mit Berufsausübung, Nothilfeleistung oder einer sonstigen notwendigen Betätigung erfolgen.

Dies gilt ganz besonders, wenn es zur unerlaubten Handlung im Rahmen einer Tätigkeit kommt, die der Schädiger aus Entgegenkommen gegenüber dem Verletzten ausübt, etwa bei einer Gefälligkeitsfahrt (Vgl. auch OLG Koblenz, Urt. v. 10.3.1997 – 12 U 576/96, lfd. Nummer 1260 der Schmerzensgeldtabelle; a.M. OLG Hamm, Urt. v. 3.3.1998 – 27 U 185/97, NJW-RR 1998, 1179 (1180 f.) mit wenig überzeugender Begründung; für den konkreten Fall (keine Bedeutung der Gefälligkeitsfahrt bei alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit des Schädigers) überzeugender: OLG Saarbrücken, Urt. v. 9.3.1973 – 3 U 2/72, VersR 1975, 430 (431)).

 

(3) Wirtschaftliche Verhältnisse des Geschädigten und des Schädigers und Bestehen einer Versicherung

Dass bei der Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles im Rahmen des § 253 Abs. 2 BGB auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten und das Bestehen einer Haftpflichtversicherung eine Rolle spielen können, ist für die Rechtsprechung mit den Beschlüssen des Großen Senats für Zivilsachen des BGH vom 6.7.1955 (GSZ 1/55, BGHZ 18, 149) und der Vereinigten Großen Senate des BGH vom 16.9.2016 (VGS 1/16, BGHZ 212, 48) geklärt.

In der Regel steht allerdings die infolge der Schädigung erlittene Lebenshemmung im Vordergrund. Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen von Schädiger und Geschädigtem sowie Ausführungen zu deren Einfluss auf die Bemessung der billigen Entschädigung sind daher – auch im Strafurteil, wenn es um einen Adhäsionsantrag geht – nur dann geboten, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse dem Einzelfall ein besonderes Gepräge geben und deshalb bei der Entscheidung ausnahmsweise von Bedeutung sind (BGH, Beschl. d. Vereinigten Großen Senate v. 16.9.2016 – VGS 1/16, BGHZ 212, 48 Rn 72).

 

(4) Zögerliches Regulierungsverhalten

In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass sich ein zögerliches Regulierungsverhalten des Schädigers bzw. seines Haftpflichtversicherers schmerzensgelderhöhend auswirken kann (BGH, Urt. v. 2.12.1966 – VI ZR 88/66, VersR 1967, 256, juris Rn 21; OLG Zweibrücken, Urt. v. 23.6.2021 – 1 U 20/20, juris Rn 36; OLG München, Urt. v. 2.6.2021 – 10 U 7288/20, juris Rn 38 ff.; OLG Hamm, Urt. v. 5.3.2021, juris Rn 23; OLG Karlsruhe, Urt. v. 16.7.2019 – 14 U 60/16, juris Rn 57; OLG Hamm, Urt. v. 15.2.2019 – 11 U 136/16, juris Rn 71 ff. Soweit der BGH die Frage in einer späteren Entscheidung (Urt. v. 12.7.2005 – VI ZR 83/04, VersR 2005, 1559, juris Rn 41, nicht abgedr. in BGHZ 163, 351) offengelassen hat, bezog sich dies auf einen schon dem Grunde nach und im Tatsächlichen streitigen Anspruch).

Der „Verzögerungszuschlag“ setzt allerdings voraus, dass sich der leistungsfähige Schuldner einem erkennbar begründeten Anspruch ohne schutzwürdiges Interesse widersetzt. Die Erhöhung des Schmerzensgeldes hat dabei – mag die instanzgerichtliche Praxis mitunter auch einen anderen Eindruck vermitteln – keinen Sanktionscharakter. Sie ist nur dann gerechtfertigt, wenn die verzögerte Zahlung das von § 253 BGB geschützte Interesse des Gläubigers beeinträchtigt. Davon ist etwa dann auszugehen, wenn der Geschädigte unter der langen Dauer der Schadensregulierung leidet oder er den Schadensersatz dazu verwenden könnte, die Auswirkungen seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu lindern (OLG Saarbrücken, Urt. v. 27.7.2010 – 4 U 585/09, NJW 2011, 933 (936); LG Hamburg, Urt. v. 7.9.2018 – 302 O 206/16, juris Rn 19.). Erforderlich ist ein entsprechender Prozessvortrag des Anspruchstellers, der – falls wirksam bestritten – von ihm zu beweisen ist.

Ausdrücklich benannt wurden Erhöhungsbeträge für die Verzögerung der Schadensregulierung etwa in Entscheidungen des OLG Hamm (OLG Hamm, Urt. v. 15.2.2019 – 11 U 136/16, juris; v. 13.2.1997 – 27 U 133/96, lfd. Nr. 2960 der Schmerzensgeldtabelle), des OLG Frankfurt (OLG Frankfurt, Urt. v. 22.9.1993 – 9 U 75/92, DAR 1994, 21), des OLG Naumburg (OLG Naumburg, Urt. v. 21.8.2017 – 1 U 58/17, DAR 2018, 631 (634)), des OLG München (OLG München, Urt. v. 24.7.2015 – 10 3313/13, SP 2016, 9) und des LG Frankfurt/Oder (LG Frankfurt/O., Urt. v. 19.10.2004 – 12 O 404/02, SP 2005, 376).

Auch wenn dies methodisch angesichts der stets vorzunehmenden Gesamtwürdigung nicht in jeder Hinsicht zu überzeugen vermag, sollen die Ergebnisse nicht vorenthalten werden: Die Schmerzensgelder wurden wegen des zögerlichen Regulierungsverhaltens des jeweils beklagten Versicherers um € 30 000 (von € 400 000 auf € 430 000, OLG Hamm vom 15.2.2019), um DM 30 000 (von DM 370 000 auf DM 400 000, OLG Frankfurt), um DM 25 000 (von DM 225 000 auf DM 250 000, OLG Hamm vom 13.2.1997), um € 10 000 (von € 250 000 auf € 260 000, LG Frankfurt/Oder) und um € 2000 (von € 80 000 auf € 82 000, OLG Naumburg, bzw. von € 110 000 auf € 112 000, OLG München) erhöht.

 

Ein Auszug aus dem Buch Hacks / Wellner / Klein / Kohake (Hrsg.) SchmerzensgeldBeträge 2025 (Buch mit Online-Zugang) SchmerzensgeldBeträge 2025 (Buch mit Online-Zugang), 43. Auflage, 2024, AI S. 21-22.

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