Beitrag

Leistungsfreiheit bei Falschangaben in der Schadensanzeige und Alkoholfahrt

1. Ab einer BAK von 1,1 ‰ ist von dem zwingenden Erfahrungssatz auszugehen, dass ein Kraftfahrer nicht mehr in der Lage ist, sein Fahrzeug sicher im Straßenverkehr zu führen. Bei einer wie hier gegebenen BAK darunter von 0,93 ‰ müssen Ausfallerscheinungen oder Fahrfehler zusätzlich festgestellt werden, die typischer Weise auf einen Alkoholgenuss zurückzuführen sind.

2. Das späte Erkennen einer gut markierten und nicht zu übersehenden Kurve und die Fehleinschätzung vom Kurvenverlauf sprechen für eine alkoholbedingte Fehleinschätzung, bei der im Wege des Anscheinsbeweises vermutet wird, dass sie sich unfallursächlich ausgewirkt hat.

3. Hat eine Mutter in ihrer Eigenschaft als rechtliche Betreuerin der VN Fragen in der Schadensanzeige zum Alkoholkonsum und einer Blutprobe verneint, obwohl sie keine Kenntnis vom Unfallablauf hatte und sich auch nicht weiter erkundigt hat, so ist die Aufklärungsobliegenheit vorsätzlich verletzt.

4. Sie handelt dabei auch arglistig, wenn sie, wie hier, einem anderen vorspiegelt, eine bestimmte Kenntnis von Vorgängen und Umständen zu haben, in Wirklichkeit aber diese Kenntnis nicht hat. (Leitsätze des Verfassers)

OLG Saarbrücken, Urt. v. 6.7.20225 U 92/21

I. Sachverhalt

Alkoholfahrt mit 0,93 Promille

Die Klägerin kam bei einer Nachfahrt in einer Linkskurve von der Fahrbahn mit ihrem Kfz ab und erlitt erhebliche Verletzungen mit entsprechenden Dauerfolgen, wegen derer sie die beklagte Versicherung als Unfallversicherung in Anspruch genommen hat. Im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen wurde eine Blutprobe entnommen, die eine BAK von 1,13 ‰ ergeben hat – wobei nach den Feststellungen des Senats zum Unfallzeitpunkt von einer BAK von 0,93 ‰ auszugehen ist.

Falsche Angaben der Mutter zum Alkoholkonsum

Bei der Inanspruchnahme der Unfallversicherung füllte die Mutter als rechtliche Betreuerin der Klägerin eine Schadensanzeige aus, bei der sie die Frage, ob die verletzte Person in den letzten 24 Stunden vor dem Unfall Alkohol zu sich genommen hatte, ebenso wie die Frage, ob eine Blutprobe entnommen worden wäre, verneinte. Die beklagte Versicherung berief sich auf einen Risikoausschluss nach Ziffer 5.1.1 AUB 2008 und eine Leistungsfreiheit wegen einer arglistigen Obliegenheitsverletzung, die der Klägerin zugerechnet werden würde.

II. Entscheidung

Anscheinsbeweis für Ursächlichkeit der Fahruntüchtigkeit

Diese Leistungsfreiheit wurde vom OLG Saarbrücken anders als in der Vorinstanz unter beiden Gesichtspunkten bejaht. Nach Ziffer 5.1.1 AUB 2008 besteht für Unfälle der versicherten Person durch Geistes- oder Bewusstseinsstörungen, soweit diese auf Trunkenheit beruhen, kein Versicherungsschutz und diese Voraussetzung wurde im Rahmen einer sogenannten relativen Fahruntüchtigkeit bejaht. Im Gegensatz zu einer absoluten Fahruntüchtigkeit war aus Sicht des Senats hier zusätzlich zu prüfen, ob entsprechende Ausfallerscheinungen oder Fahrfehler vorliegen, die typischerweise auf einen Alkoholgenuss zurückzuführen sind. Dabei war zu berücksichtigen, dass es sich um eine gut erkennbare und nicht zu übersehende Kurve gehandelt hat, die von der Klägerin zu spät erkannt worden ist, sodass sie mit ihrem Fahrzeug von der Fahrbahn abgekommen ist – dies wertete der Senat als typischen alkoholbedingten Fahrfehler, bei dem im Wege des Anscheinsbeweises auch vermutet werden kann, dass er sich ursächlich ausgewirkt hat. Dieser Unfallhergang wäre vernünftigerweise nur durch die erhebliche Alkoholisierung zu erklären, die zugleich eine alkoholbedingte Bewusstseinsstörung im Sinne der AUB darstellt.

Vorsatz bei Angaben ins Blaue hinein

Zusätzlich bestand auch eine Leistungsfreiheit der beklagten Versicherung wegen einer arglistigen Obliegenheitsverletzung als falsche Auskunft im Rahmen der eingereichten Schadensanzeige. Zwar würde grundsätzlich aufgrund des objektiven Tatbestandes der Verletzung einer Aufklärungspflicht die vom Versicherer zu beweisende Kenntnis des VN oder einer vertretungsberechtigten Person von der anzugebenden Tatsache voraussetzen, wobei im vorliegenden Fall auf den Kenntnisstand der Mutter als Wissenerklärungsvertreter nach § 166 Abs. 1 BGB analog abzustellen wäre. Dabei war jedoch zu beachten, dass die Mutter selbst nicht über ausreichendes Wissen zu den erfragten Umständen verfügte und deshalb gehalten gewesen wäre, sich vor der Beantwortung der Fragen durch Erkundigungen die entsprechende Kenntnis zu verschaffen. Die durchgeführte Beweisaufnahme hatte allerdings ergeben, dass die Mutter diese Angaben in fehlender Kenntnis ins Blaue hinein getätigt hat, ohne sich über die weiteren Umstände des Unfallablaufes und eine mögliche Alkoholisierung oder die Entnahme einer Blutprobe zu erkundigen. Da der Mutter auch bewusst gewesen war, dass sie hinsichtlich dieser Umstände über gar keine Kenntnis verfügen würde, hätte sie die ihr gestellten Fragen schlicht ins Blaue hinein verneint, obwohl sie richtiger Weise hätte erklären müssen, dass sie diese mit Sicherheit nicht beantworten kann und daher nahm sie Falschangaben aus Sicht des Senats billigend in Kauf.

Arglist, da ansonsten Verzögerungen befürchtet

Diese vorsätzliche Falschangabe wäre auch arglistig im Sinne des § 28 Abs. 3 Satz 1 VVG erfolgt, da die Mutter es ebenfalls billigend in Kauf genommen hätte, die Regulierungsentscheidung des Versicherers zugunsten ihrer Tochter mit dieser potentiell falschen Auskunft im erheblichen Umfang zu beeinflussen bzw. zu beschleunigen, ohne dass weitere Verzögerung durch Recherchen eintreten. Dass sie gleichwohl ohne jegliche Kenntnis die Fragen verneinte, lässt sich aus Sicht des Senats nur damit erklären, dass sie eine weitere zeitnahe Regulierung der Angelegenheit durch die Beklagte nicht gefährden wollte und andere plausible Erklärungen als diejenige, dass Schwierigkeiten von vornherein vermieden werden sollten, waren auch nicht ersichtlich. Folgerichtig hat der Senat auch insoweit eine Leistungsfreiheit wegen einer arglistigen Obliegenheitsverletzung bejaht.

III. Bedeutung für die Praxis

Anscheinsbeweis nur für Ursächlichkeit, nicht aber für Fahruntüchtigkeit selber

Die vom Senat dargelegten Grundsätze finden sich in denselben Maßstäben auch im Bereich der Kraftfahrt- und Kaskoversicherung, wenn es um eine Obliegenheitsverletzung vor Eintritt des Versicherungsfalls in Form einer relativen Fahruntüchtigkeit geht, die sich unfallursächlich ausgewirkt haben muss bzw. der Einwand einer grob fahrlässigen Herbeiführung nach § 81 VVG durch den Kaskoversicherer erfolgt. Insoweit ist auch zu beachten, dass es keinen Anscheinsbeweis für einen alkoholbedingten Fahrfehler gibt, bei einem aber einmal festgestellten alkoholbedingten Fahrfehler sehr wohl der Anscheinsbeweis für eine Ursächlichkeit entspricht, den dann die Versicherungsnehmerin auch im Bereich der Unfallversicherung zu erschüttern hat (vgl. schon BGH, Urt. v. 30.10.1985 – IVa ZR 10/84).

Mutter als Wissenserklärungsvertreterin

Im Übrigen befasst sich die Entscheidung des OLG Saarbrücken auch mit einer für die Praxis wichtigen Fallgruppe der Angaben ins Blaue hinein beim Ausfüllen eines Schadensanzeigeformulars durch einen Vertreter, dessen Erklärung allerdings dem Versicherungsnehmer zugerechnet werden: Ist dieser mangels seiner eigenen konkreten Erkenntnisse gehalten, sich vor Beantwortung der Fragen durch Erkundigung die entsprechende Kenntnis zu verschaffen (grundlegend dazu BGHZ 122, 250) und wird auf diese Erkundigung bewusst verzichtet, kann sehr schnell ein bedingter Vorsatz und damit eine vorsätzliche Falschauskunft zu bejahen sein. Wenn dies auch noch in dem Bewusstsein erfolgt, dadurch die Regulierungsentscheidung des Versicherers zu beeinflussen und weitere Nachfragen zu verhindern, um zeitnah eine Regulierung zu erreichen, ist zugleich der Tatbestand der arglistigen Obliegenheitsverletzung erreicht, der sowohl im Bereich der Unfallversicherung als auch der Kraftfahrtversicherung zu einer Leistungsfreiheit führen kann (grundlegend bereits BGH, Beschl. v. 4.5.2009 – IV ZR 62/07).

RA Dr. Michael Nugel, FA für VerkehrsR und VersR, Essen

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…