Auch wenn gegenwärtig Fragen zum verweigerten Einsichtsrecht in Messunterlagen im Zentrum der bußgeldrechtlichen Diskussion im Verkehrsrecht stehen, bleibt doch das Fahrverbot als einschneidende Maßnahme für die tägliche Praxis von entscheidender Bedeutung. Hier werden aktuelle Entscheidungen und Entwicklungen vorgestellt.
Hinweis
Rechtsgrundlagen und Systematik des bußgeldrechtlichen Fahrverbots werden näher erörtert bei Deutscher, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl. 2021, Rn 1508 ff., 1732. Zur Entwicklung des straßenverkehrsrechtlichen Fahrverbots im Jahr 2020 Deutscher, NZV 2021, 115. Das Fahrverbot in Bußgeldsachen als Verkehrserziehungsmaßnahme behandelt Krenberger, NZV 2021, 26.
I.StVO-Novelle 2020
Durch die 54. VO zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 20.4.2020 (BGBl I, S. 814) wurden zum 28.4.2020 zahlreiche Vorschriften der StVO und andere verkehrsrechtliche Normen geändert oder neu eingefügt. Dabei hat der Verordnungsgeber die Rechtsfolgen bei Geschwindigkeitsüberschreitung erheblich verschärft durch die Absenkung der Grenzwerte für die Anordnung eines Regelfahrverbots (näher Deutscher, VRR 5/2020, 5; Heltzel, DAR 2020, 242; Ternig, NZV 2020, 329). Wegen eines Verstoßes gegen das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG ist die Novelle aber verfassungswidrig (näher auch zu Ungereimtheiten bei den Auswirkungen im Bereich des Fahrverbots Deutscher, VRR 7/2020, 4). Streitig ist, ob nur die von dem Zitierfehler erfassten Bereiche nichtig sind (Teilnichtigkeit, Will, NZV 2020, 601) oder die Verordnung vollumfänglich nichtig ist (Deutscher, VRR 7/2020, 4, 5). Jedenfalls wird sie in der Praxis bis zu einer Neuregelung nicht angewandt (zu den Folgen Fromm, DAR 2020, 527; Krumm, DAR 2020, 476; zu den praktischen Folgen der Nichtigkeit Simon, DAR 2021, 54). Es gilt weiterhin der Rechtszustand vor der StVO-Novelle 2020 (OLG Zweibrücken zfs 2021, 53; a.A. Hecken, NZV 2021, 84 zur Benutzung von Handys am Steuer). Die (Teil-)Nichtigkeit der StVO-Novelle 2020 hat keine Auswirkung auf die Gültigkeit der BKatV bei Verstößen, die von der Novelle nicht geändert worden sind (z.B. Abstandverstöße; BayObLG DAR 2021, 41 = zfs 2020, 712 = VRR 12/2020, 14 [Deutscher] = NZV 2020, 651 [Will]). Weitergehende Ansätze, auch die VO zum Neuerlass der StVO vom 6.3.2013 (BGBl I 2013, 367) enthalte einen Zitierfehler mit der Folge, dass die StVO sich wegen der ebenfalls auf einem Zitierfehler beruhenden Nichtigkeit der „Schilderwald-Novelle“ aus dem Jahr 2009 auf dem Stand vom 31.8.2009 befinde (hierzu abl. Deutscher, VRR 10/2020, 4), haben das OLG Oldenburg (DAR 2020, 700 = VRR 11/2020, 16 = StRR 11/2020, 31 [jew. Burhoff] = NZV 2020, 653 [Will]) und das KG (DAR 2020, 696) zutreffend zurückgewiesen (ebenso OLG Hamm NJW 2021, 99 = DAR 2021, 107 = zfs 2021, 53 = NZV 2021, 161 [Will]). Am 16.4.2021 haben sich das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur und die Länder nunmehr auf eine Reform der BKatV verständigt. Die bestehenden Voraussetzungen zur Anordnung etwaiger Fahrverbote sollen hiernach auf Grundlage des geltenden Rechts bestehen bleiben (www.verkehrsministerkonferenz.de/VMK/DE/termine/sitzungen/21-04-15-16-vmk-telefonschaltkonferenz/21-04-15-16beschluss.pdf?__blob=publicationFile&v=2, S. 4). Die Absenkung der Grenzwerte wäre damit vom Tisch. Eine Umsetzung dieser Vereinbarung durch den Verordnungsgeber ist bislang nicht erfolgt.
Hinweis:
Die Änderung des § 24 StVG als Grundlage für die Ahndung von Verkehrsordnungswidrigkeiten zum 28.7.2021 durch das 4. StVGÄndG vom 12.7.2021 (BGBl I 3091; hierzu Albrecht/Kehr/von Loeper, DAR 2021, 438) hat insoweit zu keiner Neuregelung geführt.
II.Tatbestand der Fahrverbote
1. Erfolgsunrecht beim Rotlichtverstoß
Bei Rotlichtverstößen sehen die Nrn. 132.1 bis 132.3.2. BKat die Anordnung eines Regelfahrverbots vor. Das KG hat wiederholt entgegen der herrschenden Rechtsprechung die Ansicht vertreten, es liege ein atypischer Rotlichtverstoß ohne Indizwirkung vor, wenn es bei einem Verstoß nach Nr. 132.3 BKat (länger als eine Sekunde) an einer abstrakten Gefährlichkeit für andere Verkehrsteilnehmer fehlt (ähnl. OLG Düsseldorf DAR 2020, 489). Hiervon ist das KG nunmehr zutreffend ausdrücklich abgerückt (DAR 2020, 394 = zfs 2020, 347 = VRR 11/2020, 19 = StRR 3/2021, 19 [jew. Deutscher] = NZV 2020, 536 [Balschun]). Bei dem Begriff der „abstrakten Gefahr“ handele es sich um einen Terminus der Rechtsetzung, nicht um einen solchen der Rechtsanwendung. Versuche, den Anwendungsbereich der Nr. 132.3 BKat mit dem Erfordernis einer konkret bestimmbaren „abstrakten Gefährlichkeit“ zu reduzieren, seien systematisch unzulässig, weil sie in die Kompetenz des Gesetzgebers, abstrakte Gefährdungsdelikte zu kodifizieren, eingreifen. Es verbiete sich, allein unter dem Gesichtspunkt, ein Rotlichtverstoß sei nicht „abstrakt gefährlich“, vom indizierten Fahrverbot abzusehen. Fährt der Betroffene bei Rotlicht an einem vor einer Baustellenampel anhaltenden Fahrzeug vorbei, stellt dies ein grob verkehrswidriges Verhalten dar, welches in der Gesamtschau die Annahme des Regelbeispiels rechtfertigen kann (OLG Zweibrücken zfs 2018, 290 = VRR 11/2018, 21 [Deutscher]).
2. Beharrlichkeit bei Benutzung elektronischer Geräte
Bei verbotener Benutzung eines elektronischen Geräts nach § 23 Abs. 1a StVO sehen Nrn. 246.2 und 246. 3 BKat ein Regelfahrverbot von einem Monat vor, wenn es dabei zu einer Gefährdung oder Sachbeschädigung gekommen ist. Treten diese Folgen nicht ein, bleibt bei solchen Verstößen die Möglichkeit, ein Fahrverbot wegen Beharrlichkeit außerhalb eines Regelfalls nach § 25 Abs. 1 StVG anzuordnen. Dies war bereits in der Rechtsprechung anerkannt (OLG Hamm NZV 2016, 348; OLG Bamberg DAR 2013, 213 = VRR 2013, 153 [Deutscher]). Das BayObLG ist nun weitergegangen: Ein Verstoß gegen § 23 Abs. 1a StVO stehe bei gleichzeitig massiver Steigerung des Gefährdungspotenzials für Leib und Leben Dritter wertungsmäßig in einer Reihe mit anderen typischen Massenverstößen wie Geschwindigkeitsüberschreitungen und Unterschreitungen des Mindestabstands. Die regelmäßig vorsätzliche Verwirklichung des Bußgeldtatbestands solle daher bei entsprechender Vorahndungslage auch dann, wenn die Voraussetzungen eines Regelfahrverbots nach Nrn. 246.2 und 246.3 BKat nicht gegeben sind, die Anordnung eines Fahrverbots wegen eines beharrlichen Pflichtenverstoßes außerhalb eines Regelfalls der Beharrlichkeit, § 4 Abs. 2 S. 2 BKatV, nahelegen; nicht erforderlich sei, dass der Betroffene bereits wegen eines Verstoßes nach § 23 Abs. 1a StVO vorgeahndet ist (DAR 2019, 630 = zfs 2019, 588 m. Anm. Krenberger = VRR 9/2019, 22 [DeutscherWillDanner = VRR 5/2021, 24 [Deutscher]). Auch sei ohne Belang, ob der Verstoß gegen § 23 Abs. 1a StVO als relevante Vorahndung oder aber als Anlasstat selbst die Frage nach der Notwendigkeit einer Fahrverbotsanordnung aufwirft (BayObLG VRR 1/2021, 17 [Deutscher]). Diese Konstruktion läuft auf die Anerkennung eines „ungeschriebenen“ Regelbeispiels außerhalb eines Regelfalls in der BKatV hinaus (krit. Deutscher jew. a.a.O.)
Hinweis
Eine noch nicht rechtskräftige Ahndung wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit kann im Rahmen der Beurteilung, ob eine nicht durch den Regelfall des § 4 Abs. 2 S. 2 BKatV indizierte Beharrlichkeit vorliegt, auch dann berücksichtigt werden, wenn dem Betroffenen das Unrecht der früheren Tat auf andere Weise bewusst geworden war. Dies ist dann anzunehmen, wenn der Betroffene von deren Verfolgung durch die polizeiliche Anhaltung unmittelbar nach der Messung, dem nachweislichen Erhalt eines Anhörungsbogens oder die Zustellung eines Bußgeldbescheides bereits Kenntnis erlangt hatte (BayOblG VRR 2/2021, 20 [Deutscher]).
3. Augenblicksversagen
Auf der Grundlage von BGHSt 43, 241 = NZV 1997, 525 fehlt es im Fall des schlichten Übersehens des die zulässige Geschwindigkeit anordnenden Verkehrszeichens am subjektiven Moment der groben Pflichtwidrigkeit (näher Burhoff/Deutscher, Rn 1546 ff.). Macht der Betroffene geltend, aufgrund einer Fahrt mit einem ihm fremden Fahrzeug eine Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit verkannt zu haben, scheidet eine Ausnahme von einem an sich verwirkten Regelfahrverbot aufgrund eines Augenblicksversagens regelmäßig aus (BayObLG VRR 6/2020, 16 [Deutscher)]. Diese Grundsätze gelten auch bei Rotlichtverstößen. In diesem Bereich haben die Obergerichte in den letzten Jahren die Anforderungen für die Annahme eines Augenblicksversagens deutlich verschärft. Ein völliges Übersehen der Lichtzeichenanlage schließt ein Augenblicksversagen regelmäßig aus. Von einem Kfz-Führer, der in den durch Wechsellichtzeichen geschützten Bereich einer belebten innerstädtischen Kreuzung mit mehreren Fahrspuren einfährt, ist eine gesteigerte Aufmerksamkeit zu verlangen. Eine komplexe und gefährliche Kreuzung erfordert von jedem Fahrzeugführer erkennbar hohe Aufmerksamkeit (KG StraFo 2019, 468 = VRS 136, 302). Bei den Frühstarter-Fällen beruht der Verstoß darauf, dass der Betroffene das für eine Nachbarspur geltende Grünlicht irrtümlich als für ihn maßgeblich annimmt und trotz tatsächlich weiter für ihn geltendem Rotlicht losfährt. Das OLG Karlsruhe (DAR 2019, 215 = VRR 5/2019, 20 [Deutscher]) hat unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung striktere Anforderungen gestellt: Ein qualifizierter Rotlichtverstoß indiziere grundsätzlich auch dann ein (Regel-)Fahrverbot, wenn dieser aufgrund irrtümlicher Zuordnung des für eine andere Fahrbahn erfolgten Grünlichts begangen wird. Fälle eines unmittelbaren erneuten Anhaltens nach dem Überfahren der Haltelinie seien hiervon nicht betroffen, ebenso wenig Fälle des „Mitzieheffekts“. Der Mitzieheffekt ist dadurch gekennzeichnet, dass der Betroffene zunächst vor dem für ihn geltenden Rotlicht anhält, dann aber bei trotz Rotlicht anfährt, weil andere Fahrzeugführer vor oder neben ihm losfahren. Ein Mitzieheffekt kann den Fahrlässigkeitsvorwurf beim Rotlichtverstoß allenfalls dann verringern, wenn der Betroffene zunächst rechtstreu an der Lichtzeichenanlage anhält, dann aber, z. B. veranlasst durch das Anfahren anderer Verkehrsteilnehmer, unter Nichtbeachtung des Rotlichts losfährt („Sog-Wirkung“; KG NStZ 2019, 291 = DAR 2019, 394 = zfs 2019, 64). Das gilt allerdings nicht, wenn sich der Betroffene infolge einer Konzentration auf eine im Radio laufende Fußballbundesligaberichterstattung mitziehen lässt. Gleiches gilt, wenn der Betroffene nach seinen Angaben „von dem Arsch der Radfahrerin abgelenkt“ (!) war (KG StraFo 2019, 468 = VRS 136, 302).
Hinweis
Das plötzliche Aufleuchten einer Kontrollleuchte im Fahrzeug allein rechtfertigt nicht den Wegfall des wegen eines qualifizierten Rotlichtverstoßes verwirkten Fahrverbots wegen sog. „Augenblicksversagens“, wenn konkrete Feststellungen dazu fehlen, welche Warnleuchten aufleuchteten, ob und ggf. welche sonstigen Auffälligkeiten am Fahrzeug des Betroffenen plötzlich auftraten, in welcher zeitlichen Phase der Annäherung an die Ampelanlage dies erfolgte und wie sich das sonstige Verkehrsgeschehen darstellte (BayObLG DAR 2021, 159 m. Anm. Krenberger).
4. Trunkenheits- und Drogenfahrten mit einem E-Scooter
Seit Einführung der eKfV zum 15.6.2019 ist streitig, ob es sich bei E-Scootern um Kfz im strafrechtlichen Sinne handelt und ob bei einer Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scooter die Regelvermutung für die Entziehung der Fahrerlaubnis in § 69 Abs. 2 Satz 2 StGB eingreift. Für die in § 24a StVG bußgeldbewehrte Trunkenheits- und Drogenfahrt hat das OLG Zweibrücken (VRR 8/2021, 24 [Deutscher], in dieser Ausgabe) nunmehr entschieden, dass der Art des geführten Kraftfahrzeugs (hier E-Scooter) für die abstrakte Gefahr, die von einer Trunkenheitsfahrt für die Sicherheit des Straßenverkehrs ausgeht, keine derart bestimmende Bedeutung zukommt, dass dieser Umstand allein schon die Indizwirkung des Regelbeispiels nach §§ 25 Abs. 1 S. 2, 24a StVG entfallen lässt.
III.Erforderlichkeit des Fahrverbots
1. Verkehrstherapeutische Nachschulung
Von einem indizierten Fahrverbot ist abzusehen, wenn es zur erzieherischen Einwirkung auf den Betroffenen nicht erforderlich ist. Angesichts der Regel-Ausnahme-Konstruktion bei Regelfahrverboten kann das nur im Ausnahmefall angenommen werden. Entgegen der strengen Haltung der Obergerichte nehmen die Tatgerichte vielfach bei Teilnahme an einer verkehrstherapeutischen Nachschulung einen Wegfall der Erforderlichkeit an, wie dies auch der Arbeitskreis IV des Verkehrsgerichtstags 2020 empfohlen hat (NZV 2020, 143).
2. Verfahrensfremdes Fahrverbot
Die Annahme, dass die Vollstreckung eines verfahrensfremden Fahrverbotes zwischen Tat und Urteil eine so weitgehende erzieherische Wirkung entfalten könnte, dass ein weiteres Fahrverbot entbehrlich wird, liegt nach BayObLG (VRR 8/2021, 20, in dieser Ausgabe [Deutscher]) bei einem Wiederholungstäter regelmäßig fern. Dem stehe nicht entgegen, dass im Falle gemeinsamer Verhandlung und Aburteilung der zugrunde liegenden Verkehrsordnungswidrigkeiten nur ein Fahrverbot zu verhängen gewesen wäre; aus der Neuregelung des § 25 Abs. 2b StVG ergebe sich vielmehr, dass mehrere Fahrverbote generell nacheinander vollstreckt werden, sich also nach dem Willen des Gesetzgebers in ihrer erzieherischen Wirkung nicht gegenseitig „vertreten“ sollen.
3. Zeitablauf zwischen Tat und Ahndung
Die Erforderlichkeit des Fahrverbots kann bei einem langen Zeitablauf zwischen Tat und Ahndung entfallen, wobei sich in der Rechtsprechung ein Richtwert von zwei Jahren herausgebildet hat. Das gilt allerdings nicht, wenn der erhebliche Zeitablauf vom Betroffenen zu vertreten ist, was bei der Ausschöpfung von Rechtsmitteln und prozessualen Rechten nicht der Fall ist. Eine Verschleppung liegt vor, wenn der Termin zur Hauptverhandlung auf Wunsch des Betroffenen oder seines Verteidigers verschoben wird und der Betroffene mehrfach ohne vorherige Entschuldigung zu Verhandlungsterminen nicht erscheint (OLG Brandenburg, Beschl. v. 16.6.2021 – 1 OLG 53 Ss-OWi 221/21).
4. Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung
Das OLG Hamm (DAR 2021, 398 = NStZ-RR 2021, 153 = zfs 2021, 228) hat die h.A. bekräftigt, wonach die Grundsätze der vom BGH (BGHSt [GrS] 52, 124 = NJW 2008, 860) entwickelten Vollstreckungslösung bei einer festgestellten rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung entsprechend im Bußgeldverfahren anwendbar sind. Eine nach Erlass des erstinstanzlichen Bußgeldurteils eingetretene rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung (hier: rund neun Monate) könne vom Rechtsbeschwerdegericht im Rahmen einer Entscheidung nach § 79 Abs. 6 OWiG dahingehend kompensiert werden, dass ein Teil des verhängten Fahrverbots (hier: eine Woche) als vollstreckt gilt (krit zu dieser Konstruktion Burhoff/Deutscher, Rn 1507).
IV.Angemessenheit des Fahrverbots
1. Existenzgefährdung
Bei unzumutbaren, weil unangemessenen Folgen ist von einem indizierten Fahrverbot abzusehen. Dabei bleiben allerdings die typischen und alle Betroffenen gleich treffenden Folgen des Fahrverbots als selbst verschuldet und für die überschaubare Dauer des Fahrverbots hinnehmbar außer Betracht, wie z. B. bloße Unannehmlichkeiten bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Einem Hoteldirektor ist es für die Dauer eines anstehenden Fahrverbotes zumutbar, sich selbst ein Zimmer in dem von ihm geführten Hotel zu nehmen (AG Dortmund NZV 2019, 106 (Kerkmann) = Blutalkohol 55, 446). Einschlägig sind hier in allererster Linie berufliche Auswirkungen des Fahrverbots, wenn es zu einer Existenzgefährdung führen würde, insbesondere zum Verlust des Arbeitsplatzes (näher Burhoff/Deutscher, Rn 1414 ff.). Bei einem als wahr unterstellten Arbeitsplatzverlust durch Kündigung lässt sich das Vorliegen eines Härtefalls nicht ausschließen, weil der Betroffene bei der gegebenen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungslage „unproblematisch eine vergleichbare Tätigkeit finden“ werde, wenn dies nicht durch tatrichterliche, die Besonderheiten des Einzelfalls in den Blick nehmende Feststellungen belegt wird (OLG Bamberg NStZ 2019, 290 = zfs 2019, 50 = NZV 2018, 586 [Rinio] = VRR 12/2018, 17 [Deutscher]). Die Androhung einer offensichtlich rechtswidrigen Kündigung durch den Arbeitgeber soll kein Absehen vom Fahrverbot rechtfertigen (KG DAR 2019, 391 m. Anm. Krenberger). Berufliche Schwierigkeiten durch ein Fahrverbot im Rahmen eines Nebenjobs, durch den ein stellvertretender Filialleiter eines Getränkemarktes monatlich 300 bis 400 EUR verdient, sind nicht ausreichend, um von einem Regelfahrverbot absehen zu können (AG Dortmund NZV 2019, 316 [Deutscher] = Blutalkohol 56, 208). Vom Regelfahrverbot ist nicht abzusehen bei einem Empfänger von ALG I, der seinen Führerschein für von ihm nicht konkretisierte und nicht glaubhaft gemachte Kontakt- und Informationsgespräche zur Herbeiführung einer geplanten zukünftigen Selbstständigkeit führt. Anders kann es jedoch sein, wenn dem Betroffenen ein Arbeitsplatz fest zugesagt ist, der bei einem Fahrverbot wieder entfallen würde, wobei ihm nicht entgegengehalten werden darf, er hätte dies durch Hinnahme des Bußgeldbescheids und die hierdurch mögliche Verbüßung des Fahrverbots noch vor Antritt der Tätigkeit verhindern können (OLG Bamberg DAR 2018, 91 = NZV 2018, 91 [Krenberger] = StraFo 2018, 84 = VRR 3/2018, 17 [Deutscher]).
2. Insbesondere: Fahrverbot und Corona-Pandemie
Die mehrfachen Lockdowns zur Bekämpfung der Corona-Pandemie haben trotz der staatlichen Subventionen viele Selbstständige und Freiberufler wirtschaftlich hart getroffen. Gleichwohl haben die Gerichte bislang eher verhalten zur Berücksichtigung dieses Umstands beim möglichen Absehen vom Fahrverbot reagiert (s.a. Fromm, DAR 2021, 53; Rechtsprechungsübersicht zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie im Straf- und Bußgeldrecht bei Deutscher, StRR 6/2021, 5). Das KG (NZV 2021, 160 [Krenberger] = Blutalkohol 58, 43) sieht es nicht als rechtsfehlerhaft an, auf das Regelfahrverbot zu erkennen, wenn der Betroffene geltend macht, es belaste ihn zurzeit konjunkturbedingt wegen der Pandemie härter. Eine wirtschaftliche Existenzgefährdung durch ein Fahrverbot sei fraglich, wenn der Betroffene selbst angibt, dass er wegen der Covid-19-Pandemie zwei Monate lang nicht habe arbeiten können und seine wirtschaftliche Existenz trotzdem nicht gefährdet war, zumal wenn er diese Zeit nicht sozialadäquat dazu genutzt hat, das Fahrverbot wahrzunehmen (so AG Mainz, Urt. v. 9.7.2020 – 405 OWi 3200 Js 34083/19).
Hinweis
Zur Auswirkung der Corona-Pandemie auf die Planung des Antritts eines Fahrverbots Greiner, NZV 2021, 253.
3. Sonstige Folgen
Allein die mit nächtlicher Rufbereitschaft an Wochenenden und im Urlaub verbundene leitende ärztliche Funktion in der zentralen Notaufnahme eines Klinikums mit Schwerpunktversorgung rechtfertigt ein Absehen von einem bußgeldrechtlichen Regelfahrverbot als im „überwiegenden öffentlichen Interesse“ liegend auch dann nicht, wenn der oder die Betroffene daneben im Notarztdienst engagiert und zur Gewährleistung der Einsatzbereitschaft und zur beruflichen Pflichtenerfüllung auf eine private Kfz-Nutzung angewiesen ist. Wird ein Absehen von einem an sich verwirkten Fahrverbot mit der Angewiesenheit auf die Kfz-Nutzung zur Erreichung des Arbeitsplatzes begründet, müssen sich die Urteilsgründe auch dazu verhalten, warum der oder die Betroffene nicht darauf verwiesen werden kann, vorübergehend eine angemessene Unterkunft in Arbeitsplatznähe anzumieten (BayObLG DAR 2021, 273 = VRR 5/2021, 22 [Deutscher]). Eine unzumutbare Härte ist bei einem freiberuflichen Zahnarzt, der außerhalb der Sprechzeiten seiner Praxis auch Hausbesuche durchführt, nicht ersichtlich (KG NZV 2020, 154 [Rinio] = Blutalkohol 56, 396). Die mit der Ausübung des Amtes eines katholischen Priesters oder derjenigen eines jeden (hauptamtlichen) Geistlichen einer anderen Konfession oder Glaubensrichtung typischerweise verbundenen wesentlichen Aufgaben, darunter die ggf. kirchenrechtlich exklusive Legitimation zur (Einzel-)Sakramentsspendung, rechtfertigen regelmäßig für sich allein nicht das Absehen von einem verwirkten Regelfahrverbot oder die Anerkennung einer sonstigen Fahrverbotsprivilegierung (BayObLG NJW 2020, 3539). Die ehrenamtliche Tätigkeit als Vorsitzender des Vorstands einer gemeinnützigen Stiftung ist nicht geeignet, ein Absehen vom Fahrverbot zu begründen. Dies gilt umso mehr, wenn der Betroffene als Pensionär im öffentlichen Dienst gut abgesichert ist und ihm zudem ein Vollstreckungsaufschub nach § 25 Abs. 2a StVG gewährt wird (AG Dortmund NZV 2020, 437 [Deutscher])
Hinweis
Selbst bei einer nicht anders abwendbaren Existenzgefährdung ist nicht vom Fahrverbot abzusehen, wenn dessen Anordnung gleichwohl zur Einwirkung auf den Betroffenen erforderlich bleibt. Das ist etwa bei Trunkenheits- oder Drogenfahrt nach § 24 a StVG der Fall, wenn der Grenzwert im Rahmen des § 24 a StVG um ein Vielfaches überschritten wurde oder es sich um einen unbelehrbaren Wiederholungstäter handelt (OLG Celle NZV 2020, 255 m. Anm. Krenberger = VRR 7/2020, 23 [Deutscher]).
V.Dauer des Fahrverbots
Die Verlängerung der im BKat normierten Dauer eines Regelfahrverbots darf nur erfolgen, wenn sich aus in der Person des Betroffenen oder der Tat liegenden Umständen gewichtige Gründe für die Prognose ergeben, dass die Regeldauer zur erzieherischen Einwirkung auf den Betroffenen nicht ausreicht. Eine vorsätzliche Begehung genügt nicht für eine Verdoppelung der Regeldauer (OLG Oldenburg, Beschl. v. 20.4.2021 – 2 Ss (OWi) 88/21). Erfüllt eine Tat tateinheitlich zwei Fahrverbotsregeltatbestände, so verbietet sich eine unreflektierte Verdoppelung zu einem zweimonatigen Fahrverbot (KG, Beschl. v. 27.10.2020 – 3 Ws (B) 225/20 – 122 Ss 96/20). Mit der Erhöhung der Regelgeldbuße kann wegen gegenüber dem Regelfall gesteigerter Fahrlässigkeit allerdings geahndet werden, dass der Betroffene an mehrfach hintereinander aufgestellten, die Höchstgeschwindigkeit beschränkenden Verkehrszeichen vorbeifährt, ohne seine Geschwindigkeit entsprechend anzupassen (OLG Koblenz zfs 2021, 229 = VRR 7/2021, 20 [Deutscher] = NZV 2021, 437 [Greiner]). Werden mehrere fahrverbotsbewährte Verstöße abgeurteilt, ist nur ein nicht wegen der Mehrfachverstöße zu verlängerndes Fahrverbot anzuordnen (AG Dortmund NZV 2019, 106 [Kerkmann] = Blutalkohol 55, 446 im Anschluss an BGHSt 61, 100 = NZV 2016, 342 = NStZ 2016, 476 m. Anm. Mitsch = VRR 5/2016, 15 [Deutscher]). Das gesetzliche Mindestmaß des Fahrverbots beträgt gem. § 25 Abs. 1 StVG einen Monat. Diese Mindestdauer darf weder aus Gründen des Übermaßverbotes oder des Zeitablaufs noch wegen des Vorliegens einer privilegierenden Fallkonstellation, aufgrund derer von einem Fahrverbot gänzlich abgesehen oder ein an sich über der Mindestdauer von einem Monat festgesetztes Regelfahrverbot auf dieses abgekürzt werden dürfte, unterschritten werden. Auch darf aufgrund der gesetzliche Mindestdauer das bußgeldrechtliche Fahrverbot nicht sukzessive, in Etappen unterteilt angeordnet werden (BayObLG DAR 2019, 628 m. Anm. Krenberger = VRR 4/2020, 21 [Deutscher] = NZV 2020, 208 [Rinio]).
VI.Verfahrensfragen
Der EuGH hat für die Zustellung von Strafbefehlen eine auch für das Fahrverbot und die bei Verstoß dagegen drohende Strafbarkeit nach § 21 StVG wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis bedeutsame Entscheidung getroffen (NZV 2021, 95 m. Anm. Bollacher = NJW 2020, 1873). Es verstößt nicht gegen Gemeinschaftsrecht, dass die Frist von zwei Wochen für die Einlegung eines Einspruchs gegen einen ein Fahrverbot gegen eine Person anordnenden Strafbefehl mit dessen Zustellung an den Bevollmächtigten dieser Person zu laufen beginnt. Allerdings steht es einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegen, nach der sich eine in einem anderen Mitgliedstaat wohnende Person, wenn sie einen Strafbefehl, mit dem ein Fahrverbot gegen sie angeordnet wird, nicht ab dem Zeitpunkt, zu dem dieser Strafbefehl rechtskräftig geworden ist, beachtet, einer strafrechtlichen Sanktion aussetzt, obwohl diese Person keine Kenntnis von der Existenz des Strafbefehls hatte, als sie gegen das mit ihm angeordnete Fahrverbot verstoßen hat. Nach heute h.A. ist die Erörterung von Fahrverbotsfragen in der Hauptverhandlung kein Grund, einen Antrag auf Entbindung von der Pflicht des Betroffenen zum persönlichen Erscheinen nach § 73 Abs. 2 OWiG zurückzuweisen (Nachw. bei Burhoff/Deutscher, Rn 1790). Hat der von der Verpflichtung des persönlichen Erscheinens entbundene Betroffene den ihn vertretenden Verteidiger über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie die tatsächlichen Umstände seiner „Fahrverbotsempfindlichkeit“ nicht unterrichtet und kann der Verteidiger demzufolge hierzu in der Hauptverhandlung keine Angaben machen, so verlangt die Amtsaufklärungspflicht (§ 77 Abs. 1 OWiG) nicht, den Betroffenen in einem weiteren Termin dazu zu hören. Vielmehr hat sich der Betroffene durch die mangelnde Instruierung seines Verteidigers der Möglichkeit begeben, fahrverbotsfeindliche Umstände aus dem persönlichen Bereich geltend zu machen (KG NStZ 2018, 721 = VRR 9/2018, 15 (Deutscher)].
Hinweis
Gegen die Fahrerlaubnisbehörde besteht kein Anspruch auf Ausstellung eines Nachweises über die Berechtigung zum Führen eines Fahrzeugs im Ausland während eines Fahrverbots, wenn gegen den Betroffenen ein Fahrverbot nach § 25 StVG angeordnet wird (OVG Lüneburg DAR 2020, 345 m. Anm. Greefe).
VII.Verfassungsbeschwerde und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung – letzter Ausweg?
Wie bei jeder anderen letztinstanzlichen Entscheidung kann der Betroffene auch gegen die rechtskräftige gerichtliche Anordnung eines Fahrverbots Verfassungsbeschwerde erheben (§ 90 BVerfGG). Dies kann durch einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 32 BVerfGG) flankiert werden, um die unmittelbar nach Rechtskraft drohenden Folgen des Fahrverbots abzuwenden. Der Weg, ein solches Verfahren vor dem jeweiligen Landesverfassungsgericht zu betreiben (§ 90 Abs. 3 BVerfGG), ist in letzter Zeit häufiger beschritten worden. Im Fall des VerfGH Rheinland-Pfalz (Beschl. v. 21.6.2021 – VGH 1A 39/21, demnächst in NZV 2021 [Deutscher]) hat der Betroffene angegeben, er sei aus privaten und beruflichen Gründen auf das Führen seines Kfz angewiesen und die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei nicht möglich oder nicht zumutbar. Das Gericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt: Bei der Anordnung eines Fahrverbots in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren handele es sich um eine gewichtige Rechtsfolge, die für den Einzelnen mit persönlichen und gegebenenfalls auch wirtschaftlichen Einschränkungen verbunden sein kann. Daraus folge nicht, dass die Vollstreckung eines Fahrverbots gleichsam automatisch – ungeachtet des jeweiligen Einzelfalls – einen schweren Nachteil i.S.v. § 19a Abs. 1 VerfGHG darstellt, der den Erlass einer einstweiligen Anordnung gebieten kann. Erforderlich, aber auch ausreichend sei vielmehr, dass zu den mit einem Fahrverbot regelmäßig einhergehenden, ihrer Natur nach eher Lästigkeiten darstellenden Einschränkungen besondere Umstände des Einzelfalles auf Seiten des Betroffenen hinzutreten, die diesem nicht mehr ohne Weiteres zumutbar sind. Die Durchsetzung der Gesetze und die Vollstreckung der auf ihrer Grundlage erlassenen – zumal rechtskräftigen – Maßnahmen diene der Rechtspflege und somit dem Rechtsstaatsprinzip. Diesen Belangen stünden auf Seiten des Antragstellers Grundrechtseingriffe von geringer Intensität gegenüber (ähnl. VerfGH Thüringen, Beschl. v. 11.1.2021 – 109/20 (eAO); VerfG Brandenburg, Beschl. v. 18.1.2019 – 4/18 EA). Das zeigt: Solche Anträge können zwar durchaus im Einzelfall erfolgreich sein (etwa BVerfG NJW 1994, 573). Ein durchgehend erfolgversprechender letzter Ausweg zur Abwendung der drohenden Folgen des Fahrverbots sind sie jedoch nicht. Die Verfassungsgerichte sind keine „Superrechtsbeschwerde-Instanz“. Beim BVerfG können offensichtlich aussichtslose Verfassungsbeschwerden in diesem Bereich sogar zur Auferlegung einer Missbrauchsgebühr nach § 34 Abs. 2 BVerfGG führen (BVerfG NJW 1996, 1273; NJW 2010, 3150).
RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum