1. Unter den Vorgaben des § 255a Abs. 2 S. 1 und 2 StPO kann eine Zeugenvernehmung durch Abspielen der Bild-Ton-Aufzeichnung einer früheren richterlichen Vernehmung ersetzt werden.
2. Eine vernehmungsergänzende Verlesung von Vernehmungsprotokollen zur Prüfung der Aussagekonstanz und Glaubwürdigkeit ist in solchen Fällen auch im Wege des Selbstleseverfahrens zulässig.
3. Ob die persönliche Vernehmung im Rahmen der Aufklärungspflicht erforderlich ist, entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen.
(Leitsätze des Verfassers)
I. Sachverhalt
Bild-Ton-Aufzeichnungen und Selbstlesung der Vernehmungsprotokolle
Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen verurteilt. In der Hauptverhandlung ordnete die Strafkammer an, die Vernehmung der beiden Geschädigten, deren Alter im Tatzeitraum 14 bzw. 15 Jahre und während der Hauptverhandlung 18 bzw. 19 Jahre betrug, als Zeuginnen durch die Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnungen ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmungen zu ersetzen (§ 255a Abs. 2 StPO). Nach Ausführung des Beschlusses verfügte die Vorsitzende die Einführung von näher bezeichneten Urkunden im Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO), hierunter die Protokolle der polizeilichen Vernehmungen der beiden Geschädigten. Den Widerspruch des Verteidigers gegen die Durchführung und Verwertung des Selbstleseverfahrens wies die Strafkammer als unbegründet zurück. Die Einführung u.a. der polizeilichen Vernehmungen sei unter Aufklärungsgesichtspunkten zur Abrundung der Beweiswürdigung betreffend die Konstanz der Aussagen der Geschädigten und die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben erforderlich. Weder die Geschädigten noch die polizeiliche Vernehmungsbeamtin wurden in der Hauptverhandlung als Zeuginnen gehört. Die Revision des Angeklagten blieb erfolglos.
II. Entscheidung
Ausgangspunkt
Der Grundsatz der Unmittelbarkeit (§ 250 S. 1 StPO) begründe für die Feststellung von Tatsachen, die auf Wahrnehmungen von Personen beruhen, in der Hauptverhandlung den Vorrang des – unmittelbaren oder mittelbaren – Zeugenbeweises schlechthin. Der Beweis beruhe auf der Wahrnehmung der Person, wenn es sich um einen Vorgang handelt, dessen wahrheitsgemäße Wiedergabe nur durch eine Person möglich ist, welche ihn mit einem oder mehreren ihrer fünf Sinne wahrgenommen hat. Die Ersetzung der Vernehmung durch Verlesung eines über die frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls sei in diesen Fällen unzulässig (§ 250 S. 2 StPO; BGHSt 15, 253, 254 f.; BGHSt 6, 209, 210). Der Sinn dieser Regelung sei es, dass der Zeugenbeweis vor dem Urkundenbeweis dann unbedingten Vorzug haben soll und den Urkundenbeweis ausschließt, wenn jener grundsätzlich als das verlässlichere Beweismittel anzusehen ist.
Einführung von Bild-Ton-Aufzeichnungen
In weitgehender Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes lasse demgegenüber § 255a Abs. 2 S. 1 und 2 StPO (anders zu § 255a Abs. 1 StPO BGHSt 52, 148 Rn 8 = StRR 2008, 222 [Lange-Bertalot]) in Verfahren wegen bestimmter Straftaten aus Gründen des Opferschutzes eine „Ersetzung“ der Zeugenvernehmung durch das Abspielen der Bild-Ton-Aufzeichnung einer früheren richterlichen Vernehmung zu, wenn der Angeklagte und sein Verteidiger Gelegenheit hatten, an dieser mitzuwirken, und der Zeuge der Vorführung der Aufzeichnung in der Hauptverhandlung nicht unmittelbar nach der aufgezeichneten Vernehmung widersprochen hat (BGHSt 49, 72, 81 f.). Bei – wie hier – vorangegangener ordnungsgemäßer Beweiserhebung unter Wahrung der wesentlichen Verfahrensvorschriften stelle die aufgezeichnete ermittlungsrichterliche Zeugenvernehmung ein Beweissurrogat dar. Die Aufzeichnung bewirke gleichsam die Vorverlagerung eines Teils der Hauptverhandlung aus ihr heraus in das Ermittlungsverfahren. Die aufgezeichnete und durch Vorspielen in die Hauptverhandlung eingeführte Vernehmung sei grundsätzlich so zu behandeln, als sei der Zeuge unmittelbar in der Hauptverhandlung selbst gehört worden (BGH NStZ 2024, 56 Rn 10 f. = StRR 5/2023, 19 [Burhoff]; BGHSt 49, 72, 81 f.; BGHSt 48, 268, 273; zum Unmittelbarkeitsgrundsatz bei – anders als hier – vernehmungsergänzender Inaugenscheinnahme der Bild-Ton-Aufzeichnung einer ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung). Einen allgemeinen Rechtssatz, wonach der Unmittelbarkeitsgrundsatz die Benutzung von Beweissurrogaten verbiete, gebe es nicht (BGH NStZ 1986, 519).
Vernehmungsergänzende Verlesung von Protokollen
Wird ein Zeuge in der Hauptverhandlung gehört, sei daneben die vernehmungsergänzende Verwertung seiner protokollarisch oder in einer schriftlichen Erklärung festgehaltenen Äußerungen im Wege des Urkundenbeweises bereits nach § 249 StPO zulässig, ohne dass es auf die Voraussetzungen des § 250 S. 2 i.V.m. §§ 251 ff. StPO ankommt (BGHSt 20, 160, 161 ff.; BGH NStZ-RR 2008, 48; BGHSt 49, 68, 70). Denn § 250 StPO untersage nur die Ersetzung der Zeugenaussage durch die Verwertung einer berichtenden, zu Beweiszwecken erstellten Urkunde, mag es sich dabei um ein Protokoll oder um eine schriftliche Erklärung des Zeugen handeln. Jenseits seines Anwendungsbereichs sei von dem der Systematik des Gesetzes zu entnehmenden allgemeinen Grundsatz auszugehen, dass das Gesetz den Urkundenbeweis zulässt, wo es ihn nicht ausdrücklich untersagt (BGHSt 39, 305, 306; BGH NStZ-RR 2008, 48; jeweils m.w.N.). Ist die Bild-Ton-Aufzeichnung der Zeugenvernehmung i.S.d. § 255a Abs. 2 StPO gleichsam als vorgelagerter Teil der Hauptverhandlung zu behandeln, so gelte für sie nichts anderes. Dies betreffe auch die Regelung des – zu § 250 StPO in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis stehenden– § 251 StPO. Die lediglich ergänzende Verlesung der polizeilichen Vernehmungsprotokolle wirke hier gerade nicht nach § 251 StPO vernehmungsersetzend (BGH NStZ 2008, 87). Eine solche Wirkung sei nach dem Vorgesagten (allein) der Vorführung der ermittlungsrichterlichen Bild-Ton-Aufzeichnungen nach § 255a Abs. 2 StPO zugekommen. In dessen Anwendungsbereich trete die ermittlungsrichterliche Zeugenanhörung an die Stelle der Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung durch das Tatgericht (§ 250 S. 1 StPO) und sei als in dieser durchgeführt zu bewerten.
Aufklärungspflicht
Auch unter Aufklärungsgesichtspunkten (§ 244 Abs. 2 StPO) sei das Vorgehen der Strafkammer nicht zu beanstanden. Die Entscheidung, ob die persönliche Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung nach § 255a Abs. 2 StPO ersetzt werden kann, stehe im pflichtgemäßen Ermessen des Tatgerichts (BGHSt 49, 68, 71). Hat es sich danach einen Eindruck vom Inhalt der Aussage des Zeugen durch Inaugenscheinnahme der ermittlungsrichterlichen Bild-Ton-Aufzeichnung verschafft, so habe es dessen Glaubwürdigkeit im Rahmen der Beweiswürdigung nach allgemeinen Grundsätzen einer sorgfältigen Überprüfung zu unterziehen. Das Gericht sei nicht gehalten, zur Prüfung der Aussagekonstanz die früheren Aussagen der Zeuginnen vorrangig im Wege der Zeugenanhörung in die Hauptverhandlung einzuführen. Maßgebend sei, ob der Kern des Geschehens und seine wesentlichen Details übereinstimmend bekundet wurden. Dies könne, je nach Einzelfallgestaltung, gleichermaßen aufgrund eines Vorhalts an den Zeugen, welcher die früheren Aussagen machte, durch Vernehmung der Verhörsperson oder durch Verlesung des Aussageprotokolls festgestellt werden (BGH NStZ 1992 553). Das Verlesen nach § 249 Abs. 1 StPO und das Selbstlesen nach § 249 Abs. 2 StPO seien nach der gesetzlichen Wertung gleichwertig (BGHSt 65, 155 Rn 6 = StRR 7/2021, 14 [Deutscher]). Danach komme hier weder der Vernehmung der polizeilichen Vernehmungsbeamtin noch der unmittelbaren Anhörung der beiden Geschädigten ein Vorrang vor dem gewählten Selbstleseverfahren zu.
III. Bedeutung für die Praxis
Aufklärungspflicht
Der Senat fasst die Grundsätze zur Ersetzung der persönlichen Zeugenvernehmung durch die im Rahmen des § 255a StPO gleichwertige Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnungen einschließlich der vernehmungsergänzenden Verlesung von Vernehmungsprotokollen im Wege des Selbstleseverfahrens zur Prüfung der Richtigkeit der Aussage zusammen. Daran lässt sich nicht rütteln. Für Verteidiger bedeutsam ist aber der Leitsatz 3: Eine Pflicht zur persönlichen Vernehmung des Zeugen oder der Verhörsperson kann sich im Einzelfall aus § 244 Abs. 2 StPO ergeben. Das liegt insbesondere nahe bei Umständen, die erst nach der abgespielten Vernehmung erkennbar geworden sind und ggf. Zweifel an der Richtigkeit der Aussage begründen können. Dann ist der Verteidiger gefordert. Gerade angesichts der Schutzfunktion des § 255a StPO wird es sich insoweit aber um entscheidungsrelevante Tatsachen handeln müssen, um das Gericht zu überzeugen (zur fehlerhaften Anordnung des Selbstleseverfahrens BGH StraFo 2025, 106 = StRR 5/2025, 21 [Deutscher]; zur Teilnahme des Nebenklägers am Selbstleseverfahren BGH NJW 2024, 2475 = StRR 10/2024, 17 [Deutscher]).








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