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Verwerfung nach Verspätung wegen Verkehrsstau

1. Hat der Verteidiger seine Verspätung gegenüber dem Gericht angekündigt und sich dabei auf ein unvorhersehbares Ereignis – beispielsweise einen Verkehrsstau – berufen, kann es geboten sein, auch über den an sich sonst üblichen Zeitraum von 15 Minuten hinaus auf sein Eintreffen zu warten.

2. Werden Hauptverhandlungen durchgeführt, hat das Gericht für eine Kommunikation mit den Verfahrensbeteiligten erreichbar zu sein und entsprechende Telefonanrufe entgegenzunehmen.

(Leitsatz des Verfassers)

OLG Braunschweig, Beschl. v. 20.12.20241 ORbs 62/24

I. Sachverhalt

Verteidiger und Betroffener fehlen in der Hauptverhandlung

Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Die Hauptverhandlung, in der das Verwerfungsurteil verkündet worden ist, hat am 5.10.2023 von 8:30 Uhr bis 9:00 Uhr in Abwesenheit sowohl des Betroffenen als auch seines Verteidigers stattgefunden. Ein Wiedereinsetzungsantrag des Betroffenen hatte keinen Erfolg.

Begründung des Zulassungsantrags mit Verspätung wegen Verkehrsstau

Zur Zulassung der Rechtsbeschwerde ist vorgetragen worden: Der Verteidiger sei rechtzeitig in Bad Harzburg losgefahren, um den am 5.10.2023 auf 8.30 Uhr bestimmten Hauptverhandlungstermin beim AG Braunschweig wahrzunehmen. Wegen eines unvorhersehbaren Verkehrsunfalls im Bereich einer Baustelle sei es auf der Autobahn 36 indes zu einer temporären Vollsperrung von mehr als 30 Minuten gekommen. Weitere etwa 15 Minuten Verzögerung seien dadurch eingetreten, dass der Verkehr im Bereich der wegen der Baustelle ohnehin einspurigen Strecke nur sehr langsam an dem verunfallten Fahrzeug habe vorbeigeführt werden können. Er habe deshalb erst um 9:02 Uhr den Gerichtssaal erreicht. Zu diesem Zeitpunkt sei, wie er sodann erfahren habe, das Urteil bereits verkündet gewesen. Das OLG Braunschweig hat die Rechtsbeschwerde zugelassen und das AG-Urteil aufgehoben.

II. Entscheidung

Prozessuale Fürsorgepflicht verletzt

Ein Betroffener habe einen Anspruch darauf, sich im Bußgeldverfahren der Hilfe eines Verteidigers zu bedienen (§ 137 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG). Im Falle nicht angekündigter Verspätung des Verteidigers gebiete es deshalb die prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts regelmäßig, zumindest einen Zeitraum von 15 Minuten zuzuwarten, bevor mit der Hauptverhandlung begonnen werde (OLG Hamm, Beschl. v. 16.6.2006 – 3 Ss OWi 310/06; OLG Köln, Beschl. v. 2.9.1997 – Ss 485/97 (B), NStZ 1997, 494). Habe der Verteidiger indes seine Verspätung gegenüber dem Gericht angekündigt und sich dabei auf ein unvorhersehbares Ereignis – beispielsweise einen Verkehrsstau – berufen, könne es geboten sein, auch über den Zeitraum von 15 Minuten hinaus auf sein Eintreffen zu warten (OLG Hamm a.a.O.; OLG Köln a.a.O.). So habe der Fall hier gelegen. Das Gericht hätte das Eintreffen der Verteidigung um 9:02 Uhr abwarten müssen. Der Verteidiger habe im Zulassungsantrag nachvollziehbar dargelegt, dass er rechtzeitig in Bad Harzburg losgefahren und allein deshalb verspätet zum Hauptverhandlungstermin erschienen sei, weil sich seine Anreise um zumindest 45 Minuten wegen eines von ihm nicht vorhersehbaren Verkehrsstaus verzögert hat. Eine unverschuldete Verzögerung, gegen die auch die vernünftigerweise zu beachtende Sorgfalt keine Vorsorge gebiete, könne auch durch einen außergewöhnlich ausgedehnten Stau bewirkt werden (BFH, Beschl. v. 17.4.2024 – X B 68, 69/23). Ohne den Stau, der zu einer verkehrsbedingten Verzögerung von 45 Minuten geführt hat, wäre der Verteidiger bereits um 8:17 Uhr und damit rechtzeitig am Sitzungssaal eingetroffen.

Kenntnis der Vorsitzenden vom Hinderungsgrund nicht erforderlich

Dass die Vorsitzende bei Verkündung des Urteils keine Kenntnis von dem Hinderungsgrund hatte, führe zu keinem anderen Ergebnis. Denn Fehler der Justiz sind dem Gericht zuzurechnen (BFH a.a.O.; OLG Köln a.a.O.). Ein Fehler, der der Justiz zuzurechnen sei, liege vor, denn der Verteidiger habe das Gericht in der Zeit von 8:11 Uhr bis 8:35 Uhr bei insgesamt sieben Anrufen unter der 0531 4880 und bei weiteren elf Anrufen unter der ihm bekannten Durchwahl -2146 nicht erreichen können, wie er zur Überzeugung des OLG belegt habe. Werden Hauptverhandlungen durchgeführt, habe das Gericht jedoch für eine Kommunikation mit den Verfahrensbeteiligten erreichbar zu sein und entsprechende Telefonanrufe entgegenzunehmen.

Nicht nur Verstoß gegen Grundsatz des fairen Verfahrens

Der Verstoß gegen die gerichtliche Fürsorgepflicht ist vorliegend auch nicht nur als Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 GG), der für eine Zulassung gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG nicht ausreicht (vgl. KG, Beschl. v. 3.6.2021 – 3 Ws (B) 148/21; OLG Hamburg, Beschl. v. 2.3.2021 – 2 RB 5/21, 3 Ss-OWi 11/21), sondern als Gehörsverstoß (Art. 103 Abs. 1 GG) anzusehen. Das sei zwar regelmäßig nicht der Fall, weil aus Art. 103 Abs. 1 GG nicht folge, dass das rechtliche Gehör durch Vermittlung eines Rechtsanwalts gewährt wird (BayObLG, Beschl. v. 29.3.1995 – 2 Ob OWi 61/95 m.w.N.). Dieser Fall sei jedoch deshalb anders gelagert, weil der Betroffene vom Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden gewesen sei und auf die Anwesenheit seines Verteidigers vertraut habe, sodass auch er keine Möglichkeit gehabt habe, sich zum Vorwurf zu äußern.

III. Bedeutung für die Praxis

H.M. zur gerichtlichen Wartepflicht

1. Die zutreffenden Ausführungen des OLG sind zu begrüßen. Sie entsprechen der Rechtsprechung der OLG zur sog. Wartezeit in den Verwerfungsfällen (s. Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 11. Aufl. 2025, Rn 820 ff. und 1543 ff. und Niehaus, in: Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 7. Aufl. 2024, Rn 2434, jeweils m.w.N. aus der Rechtsprechung). Sie haben Bedeutung nicht nur für die Verwerfung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid nach § 74 OWiG, sondern auch für die Verwerfung der Berufung nach § 329 StPO.

OLG „not amused“

2. Im Übrigen merkt man dem Beschluss an, dass das OLG ein wenig „angefressen“ über die Nichterreichbarkeit des AG bzw. der Amtsrichterin war.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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