1. Verletzt ein Staatsanwalt seine Pflicht zur Objektivität und Wahrung eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens derartig schwer und nachhaltig, dass sich sein Verhalten in der Hauptverhandlung aus Sicht eines verständigen Angeklagten als Missbrauch staatlicher Macht darstellt, so ist dessen Recht auf ein faires und justizförmiges Verfahren verletzt.
2. Das Urteil wird in einem solchen Fall regelmäßig auf der Rechtsverletzung beruhen (§ 337 Abs. 1 StPO), es sei denn, das erkennende Gericht bringt im Rahmen seiner Verfahrensherrschaft eine Kompensation hierfür zum Ausdruck.
(Leitsätze des Verfassers)
I. Sachverhalt
Schlussvortrag der Staatsanwältin
Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt, ihn aber vom Vorwurf der mehrfachen Vergewaltigung der Nebenklägerin freigesprochen. Die StA wurde an allen Hauptverhandlungstagen von derselben Staatsanwältin vertreten. Im Rahmen ihres Schlussvortrags erklärte sie: Sie sei „bei Vorwürfen sexualisierter Gewalt gegen Frauen im Allgemeinen und im konkreten Fall befangen“. Sie „empfinde“ es als „unerträglich“, wenn sich eine Frau „als Opfer sexualisierter Gewalt im Rahmen einer öffentlichen Hauptverhandlung kritischen Fragen des Gerichts und der Verteidigung stellen und wegen ihres Aussageverhaltens rechtfertigen müsse“. Im Hauptverhandlungsprotokoll wurde vermerkt: „Sie sei in Fällen häuslicher und sexueller Gewalt als Feministin und persönlich Betroffene befangen. Das sei unproblematisch, denn sie lege es hier offen. Mehrfach habe sie überlegt, ob sie einen Befangenheitsantrag stelle, davon aber letztlich abgesehen. Das Verhalten der Kammer sei zunächst nicht zu beanstanden gewesen. Im weiteren Verlauf habe die Kammer die Geschädigte aber kritischer betrachtet als manchen Zeugen. Daher möge sich die Kammer des Confirmation Bias ebenso bewusst sein, wie sie ihre Befangenheit offengelegt habe“. Die Revision des Angeklagten blieb insofern erfolglos.
II. Entscheidung
Keine Anwendung der §§ 22 ff. StPO auf Staatsanwälte
Die Verfahrensrüge dringe nicht durch. Dies folge allerdings nicht schon von vornherein daraus, dass die §§ 22 ff. StPO auf Staatsanwälte weder unmittelbar noch analog anwendbar sind. Insofern gilt: Staatsanwälte unterlägen nicht den Vorschriften über die Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen (BVerfGE 25, 336, 345). Eine analoge Anwendung der §§ 22 ff. StPO komme – jedenfalls jenseits des Sonderfalls der Vernehmung des Sitzungsvertreters als Zeuge in der Hauptverhandlung (für eine analoge Anwendung des § 22 Nr. 5 StPO insoweit BGH NStZ 2019, 234 = StRR 2/2019, 10 [Burhoff]) – nicht in Betracht; sie könne insbesondere nicht den in §§ 141 ff. GVG niedergelegten Rechtssätzen entnommen werden (BGH NJW 1980, 845, 846; NStZ 1991, 595; NStZ 2008, 353 f.). Es fehle zudem schon an einer planwidrigen Regelungslücke. Weder dem Gericht noch einem sonstigen Verfahrensbeteiligten stehe danach das Recht zu, einen Sitzungsvertreter der StA in einem förmlichen innerprozessualen Verfahren wegen Befangenheit abzulehnen. Sie könnten lediglich bei dem Vorgesetzten des Beamten der StA darauf hinwirken, dass dieser ihn auf Grundlage des § 145 GVG durch einen anderen ersetze; wird der Staatsanwalt nicht ersetzt, sei die Hauptverhandlung fortzusetzen.
Recht auf ein faires Verfahren
Es liegt aber kein Verfahrensfehler vor, der einen relativen Revisionsgrund nach § 337 StPO begründen könnte. Zwar könne die Besorgnis, der Sitzungsvertreter der StA sei befangen, im Einzelfall die Revision des Angeklagten begründen. Indes dürfe zur Beurteilung der Frage, ob einem Staatsanwalt die Mitwirkung an der Hauptverhandlung wegen der Besorgnis der Befangenheit untersagt ist, mit Blick darauf, dass das Gericht das Urteil spricht und in der Hauptverhandlung die maßgebliche Rolle einnimmt, hierbei nicht der strenge Maßstab wie bei einem der zur Entscheidung berufenen Richter angelegt werden (BGH NStZ-RR 1996, 201); die Gründe müssten vielmehr ähnlich schwer wiegen wie die Ausschlusstatbestände der §§ 22, 23 StPO. Maßstab für die Beurteilung ist die Rolle der StA als „Wächter der Gesetze“ (BVerfGE 133, 168, 219; BGH NJW 2024, 846, 847) und als ein dem Gericht gleichgeordnetes Organ der Strafrechtspflege (BGHSt 24, 170, 171) sowie die hieraus folgende Pflicht zur Objektivität, die insbesondere in § 160 Abs. 2 StPO ihren Niederschlag im Gesetz gefunden hat. Verletzt ein Staatsanwalt seine Pflicht zur Objektivität und Wahrung eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens derartig schwer und nachhaltig, dass sich sein Verhalten in der Hauptverhandlung aus Sicht eines verständigen Angeklagten als Missbrauch staatlicher Macht darstellt, so sei dessen Recht auf ein faires und justizförmiges Verfahren verletzt (BGH NJW 1980, 845, 846). Das Urteil werde in einem solchen Fall regelmäßig auf der Rechtsverletzung beruhen (§ 337 Abs. 1 StPO), es sei denn, das erkennende Gericht bringt im Rahmen seiner Verfahrensherrschaft eine Kompensation hierfür zum Ausdruck. Dies könne letztlich in die Obliegenheit münden, bei dem Vorgesetzten des Sitzungsvertreters der StA auf dessen Ersetzung durch einen anderen Staatsanwalt hinzuwirken und seine Bemühungen in der Hauptverhandlung öffentlich zu machen. Fehlt es an einer Reaktion des Gerichts, werde es nur ausnahmsweise auszuschließen sein, dass sich das einem rechtsstaatlichen Verfahren zuwiderlaufende Verhalten des Sitzungsvertreters in dem Urteil zulasten des Angeklagten ausgewirkt hat (BGHSt 14, 265, 268 f.; zum Maßstab allgemein BGH NStZ-RR 2022, 52).
Trotz pauschaler „Gerichtsschelte“ hier (noch) hin- nehmbar
Gemessen daran sei das Verfahren vor dem erkennenden Gericht durch das Verhalten der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft (noch) nicht derart bemakelt, dass hierdurch ein revisibler Verfahrensverstoß begründet wäre. Zwar seien die Äußerungen der Sitzungsvertreterin unter mehreren Gesichtspunkten rechtlich bedenklich. Dies gelte zum einen für ihr mit außergewöhnlich scharfen Worten („unerträglich“) zum Ausdruck gebrachtes Befremden über die „kritische“ Befragung der Geschädigten. Denn dies lasse besorgen, dass sie einem grundlegenden Missverständnis von der richterlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) und dem Konfrontationsrecht eines Beschuldigten (Art. 6 Abs. 3 Buchst. b EMRK) unterlegen ist. Im Sinne der Wahrheitsfindung seien geeignete und zur Sache gehörende Fragen (vgl. §§ 239 Abs. 2, 241 Abs. 2 StPO) an Zeugen aber selbst dann zulässig, wenn sie zur Unehre gereichen können oder den persönlichen Lebensbereich betreffen, falls sie zur Aufklärung der Wahrheit unerlässlich sind (vgl. § 68a Abs. 1 StPO). Dass sie lediglich auf ihre staatsanwaltliche Pflicht hinweisen wollte, eine rücksichtsvolle Vernehmung von Verletzten zu gewährleisten (vgl. Nr. 4c, 130 Abs. 3 RiStBV), liege fern. Denn die hierfür vorgesehenen Mittel seien nicht zur Wahrheitsfindung erforderliche Fragen des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO zu beanstanden und auf Zurückweisung solcher Fragen durch andere Verfahrensbeteiligte nach § 241 Abs. 2 StPO hinzuwirken (vgl. auch Nr. 127 Abs. 2 RiStBV), nicht pauschale Gerichtsschelte. Zum anderen sei es nicht mit der staatsanwaltlichen Pflicht zur Objektivität in Einklang zu bringen, dass die Staatsanwältin die Sitzungsvertretung wahrgenommen hat, obwohl sie sich in Verfahren wegen des Verdachts von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und gegen die körperliche Integrität von Frauen selbst „als Feministin und persönliche Betroffene“ für „befangen“ hielt. Hält sich ein Staatsanwalt für voreingenommen, habe er die Gründe hierfür seinem Dienstvorgesetzten vor- und um Ersetzung anzutragen. Dadurch werde gewährleistet, dass die im Gesetz angelegte Selbstkontrolle der Staatsanwaltschaft effektiv stattfinden kann. Das Fehlverhalten der Sitzungsvertreterin habe aber noch nicht ein Ausmaß angenommen, das – gemessen an den hierfür geltenden strengen Maßstäben – einen Verfahrensfehler begründen würde. Zum einen habe sie trotz der ihren Schlussvortrag einleitenden Vorbemerkung beantragt, den Angeklagten in mehreren Fällen freizusprechen. Zum anderen ergebe sich aus der dienstlichen Erklärung des Strafkammervorsitzenden, dass ihr Verhalten in der Hauptverhandlung im Übrigen nicht zu beanstanden und die Begründung ihrer Schlussvorträge auf der Grundlage der Beweiserhebung vertretbar und nicht offensichtlich von verfahrensfremden Überlegungen bestimmt gewesen sei.
III. Bedeutung für die Praxis
Befremdlich
Die Äußerungen der Sitzungsvertreterin der StA sind gelinde gesagt befremdlich und weit entfernt vom Nimbus der StA als „objektivster Behörde der Welt“ (juristisch übersetzt: § 160 Abs. 2 StPO). Sie sind nicht nur unprofessionell, sondern auch von einer Ignoranz strafverfahrensrechtlicher Grundprinzipien geprägt. Der BGH wiederholt hier die Grundsätze zum „befangenen Staatsanwalt“: Einerseits keine direkte oder analoge Anwendung der §§ 22 ff. StPO und damit des § 338 Nrn. 2 und 3 StPO, andererseits ein möglicher relativer Revisionsgrund wegen Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens, der sich auch auf ein mögliches Untätigbleiben des Gerichts in solchen Fällen stützt. Trotz des Fehlverhaltens der Sitzungsvertreterin ist das Ergebnis hier nachvollziehbar, da sie hier ihrerseits einen Teilfreispruch wie auch ausgeurteilt beantragt hat und ihre Grundhaltung offenbar nicht in der Beweisaufnahme selbst, sondern erst im Schlussvortrag zutage getreten ist. Verteidiger sollten, wenn ein solches Verhalten schon früher in der Verhandlung auftritt, dies protokollieren lassen und auf ein Tätigwerden des Gerichts drängen. Aber dabei ist Vorsicht geboten: Nicht jeder inhaltlich oder rhetorisch „scharfe“ Staatsanwalt ist „befangen“ und gefährdet damit das faire Verfahren. Erfasst werden nur extreme Verstöße gegen die Neutralitätspflicht des § 160 Abs. 2 StPO.