Auf dem Unterlassen der Bescheidung eines Widerspruchs gegen das Selbstleseverfahren kann ein Urteil regelmäßig nicht beruhen, weil dieses Verfahren eine gleichwertige Alternative zum Verlesen einer Urkunde ist (Aufgabe von BGHSt 57, 306 = NJW 2012, 3319 = StRR 2012, 65 [Deutscher]). (Leitsatz des Gerichts)
BGH, Beschl. v. 11.11.2020 – 5 StR 197/20
I. Sachverhalt
Der Vorsitzende traf eine Anordnung zur Durchführung des Selbstleseverfahrens und verteilte Selbstleseordner an die Verfahrensbeteiligten. Der Verteidiger beantragte, ihm bis zum nächsten Hauptverhandlungstag Gelegenheit zu geben, „der Selbstleseanordnung eventuell zu widersprechen“; dies wurde gewährt. Am folgenden Verhandlungstag erklärte der Verteidiger einen Widerspruch gegen die Einführung von Vermerken, in denen Inhalte von Telefongesprächen zusammengefasst wurden, und beantragte, sämtliche in der Selbstlesemappe befindlichen verschrifteten Telefongespräche durch Abspielen in Augenschein zu nehmen. Einige der beanstandeten Telefongespräche waren schon vor Anordnung des Selbstleseverfahrens angehört worden. Das Selbstleseverfahren wurde abgeschlossen. Eine Entscheidung über den Widerspruch erfolgte bis zum Urteil nicht. Die Revision blieb erfolglos.
II. Entscheidung
Auf einem bloßen Verstoß gegen die Bescheidungspflicht nach § 249 Abs. 2 S. 2 StPO könne ein Urteil regelmäßig nicht beruhen. An seiner entgegenstehenden Rechtsprechung (Nw. im. Leitsatz; Bespr. Mosbacher, NStZ 2012, 199) halte der Senat nicht fest. Die Beruhensprüfung bei Verstößen gegen § 249 Abs. 2 S. 2 StPO beziehe sich lediglich auf die Frage, ob bei alternativer Verlesung nach § 249 Abs. 1 StPO ein abweichendes Ergebnis denkbar wäre, weil der Widerspruch gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens lediglich die Art und Weise der Beweiserhebung – Verlesen oder Selbstlesen – und nicht die Verwertung der Urkunden als solche betrifft. Regelmäßig sei auszuschließen, dass sich die Unterschiede bei der Erhebung des Urkundenbeweises nach § 249 Abs. 1 oder Abs. 2 StPO auf das Urteil ausgewirkt haben. Denn nach der gesetzlichen Wertung seien das Verlesen nach § 249 Abs. 1 StPO und das Selbstlesen nach § 249 Abs. 2 StPO gleichwertig, das Verlesen von Urkunden also gegenüber dem Selbstleseverfahren keine vorzugswürdige Form der Erhebung des Urkundenbeweises. Der Gesetzgeber habe das Selbstleseverfahren nicht als sachliche Ausnahme vom Grundsatz des Verlesens nach § 249 Abs. 1 StPO konzipiert, sondern als gleichwertige Alternative. Lediglich gesetzestechnisch stelle sich Abs. 2 als Ausnahme vom Verlesungsgebot des Abs. 1 dar, sachlich sind beide Alternativen als gleichwertig anzusehen. Aus der Einführung der Widerspruchsmöglichkeit in § 249 Abs. 2 S. 2 StPO ergebe sich nichts anderes. Der Gesetzgeber habe den Verfahrensbeteiligten gegen die Entscheidung des Vorsitzenden, nach § 249 Abs. 2 StPO zu verfahren, einen förmlichen Zwischenrechtsbehelf an die Hand geben wollen. Wie bei dem Vorbild des § 273 Abs. 3 S. 2 StPO handele es sich bei § 249 Abs. 2 S. 2 StPO demnach um eine Sondervorschrift zu dem engeren § 238 Abs. 2 StPO. Dass der Gesetzgeber den Widerspruch nur im Rahmen der Anwendung von § 249 Abs. 2 StPO vorsieht, finde seinen Grund in der Systematik beider Absätze. Weil § 249 Abs. 2 StPO gesetzestechnisch als Ausnahme vom Grundsatz der Verlesung nach § 249 Abs. 1 StPO formuliert worden ist, könne sich der Zwischenrechtsbehelf nur auf die Ausnahme, nicht aber auf den Grundsatz beziehen.
Die Einführung eines Urkundeninhalts im Wege des Selbstleseverfahrens sei gegenüber dem Verlesen weder im Hinblick auf den Beweiserhebungsvorgang noch in Bezug auf die Rechte der Verfahrensbeteiligten defizitär. Der Inhalt einer Urkunde erschließe sich gerade bei umfangreicheren Schriftstücken durch Selbstlesen regelmäßig besser als durch Zuhören beim Vorlesen. Beim Selbstlesen bestehe die Möglichkeit, Pausen einzulegen, vor- und zurückzublättern, Passagen mehrfach zu lesen, diese zu markieren und sinnstiftende Zusammenhänge hervorzuheben. Da der Urkundenbeweis der Ermittlung des durch Lesen erfassbaren gedanklichen Inhalts eines Schriftstücks, sonstigen Schriftträgers oder einer elektronischen Urkunde diene, sei mit dem Selbstleseverfahren keine Einbuße an Qualität hinsichtlich des Beweiserhebungsvorgangs verbunden. Ein weiterer Vorteil des Selbstleseverfahrens bestehe darin, die Verfahrensdauer erheblich zu verkürzen. Gerade in Haftsachen könne die Durchführung des Selbstleseverfahrens in besonderer Weise eine der Verfahrensbeschleunigung dienende zusätzliche Konzentration des Prozessstoffs bewirken und deshalb vorzugswürdig sein. Demgegenüber gehe die Durchführung des Selbstleseverfahrens im Vergleich zum Verlesen zwar mit Einschränkungen des Mündlichkeitsgrundsatzes einher, lasse aber weitere Verfahrensgrundsätze im Wesentlichen unberührt und sei auch im Hinblick auf Verteidigungsbelange dem Verlesen von Urkunden nicht prinzipiell unterlegen. Insbesondere werde das Erklärungsrecht der Beteiligten (§ 257 StPO) durch das Selbstleseverfahren nicht beschränkt. Weil der Widerspruch gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 S. 2 StPO als besondere Form des Zwischenrechtsbehelfs gegen eine Entscheidung des Vorsitzenden konzipiert ist, gelte wie bei § 238 Abs. 2 StPO, dass das Unterlassen eines Gerichtsbeschlusses nach Anrufung des Gerichts die Revision regelmäßig nur begründet, wenn die beanstandete Maßnahme des Vorsitzenden gegen das Verfahrensrecht verstoßen hat (BGH StV 2019, 798; BGHSt 44, 82, 91). Dabei müsse sich im Fall des § 249 Abs. 2 S. 2 StPO dieser Verstoß nicht auf die Einführung des Urkundeninhalts überhaupt („ob“), sondern auf die Einführung gerade im Wege des Selbstleseverfahrens („wie“) beziehen. Ein Rechtsfehler bei dieser Wahl sei nur in seltenen Ausnahmefällen denkbar, weil sich die Unterschiede in der Form der Beweiserhebung regelmäßig nicht in einem anderen Beweisinhalt niederschlagen und die Mitwirkungsrechte der Verfahrensbeteiligten in beiden Fällen gewahrt bleiben. Anderes könne lediglich gelten, wenn sich gerade die besondere Form der Urkundeneinführung auswirkt, etwa weil der Angeklagte nicht lesen kann, er nicht auf die Kenntnisnahme vom Urkundeninhalt verzichtet hat und dieses Defizit auch nicht (etwa durch einen „Vorleser“, BGH NStZ 2011, 300 = StRR 2011, 100 [Arnoldi]) kompensiert worden ist.
Es bedürfe keiner Entscheidung, ob der „Widerspruch“ durch die Strafkammer nicht beschieden werden musste, weil er sich inhaltlich gegen die Beweisaufnahme durch Urkundenbeweis überhaupt und lediglich vor diesem Hintergrund gegen die Beweiserhebung in Form des Selbstleseverfahrens gerichtet haben könnte. Ein derartiger Widerspruch gegen die Verwertung von Beweisen werde regelmäßig zur Geltendmachung gesetzlich nicht geregelter disponibler Beweisverwertungsverbote verlangt (sog. „Widerspruchslösung“, BGH NStZ 2018, 737 = StRR 8/2018, 15 [Burhoff]). Beschränkt sich der Widerspruch darauf, die Unverwertbarkeit eines Beweismittels geltend zu machen, bedürfe es keiner Bescheidung in der Hauptverhandlung; die Frage der Verwertbarkeit kann der Schlussberatung vorbehalten bleiben (BGH NStZ 2007, 719). Anders könne es sein, wenn ein Verfahrensbeteiligter gem. § 238 Abs. 2 StPO die Anordnung des Vorsitzenden, einen Beweis zu erheben, vor Durchführung der Beweisaufnahme unter Verweis auf dessen Unverwertbarkeit beanstandet und der Vorsitzende nicht abhilft. Da die Rüge, bestimmte Urkundeninhalte hätten wegen Verstoßes gegen § 250 StPO nicht in die Hauptverhandlung eingeführt werden dürfen, keinen Widerspruch gegen die Beweisverwertung in der Hauptverhandlung erfordert (BGH NStZ 2012, 585 = StRR 2012, 99 [Arnoldi]), könnte der erhobene „Verwertungswiderspruch“ in erster Linie gegen die Einführung der Urkunden in die Hauptverhandlung gerichtet gewesen sein. Eine solche Rüge habe der Revisionsführer indes nicht erhoben.
III. Bedeutung für die Praxis
Das Gesetz sieht in § 249 StPO zur Form der Durchführung des Urkundsbeweises das Verlesen und das Selbstlesen als gleichwertige Wege vor, unbeschadet der von der Rechtsprechung bei einfachen Fallgestaltungen anerkannten weiteren Form des Berichts des Vorsitzenden über den Urkundeninhalt (Meyer-Goßner, StPO, 63. Aufl. 2020, § 249 Rn 26). § 249 Abs. 2 S. 1 StPO sieht für das Selbstleseverfahren einige Formalitäten vor, über die die Praxis gelegentlich stolpert. Zum Beruhen des Urteils auf einer unterlassenen Bescheidung des Widerspruchs nach § 249 Abs. 2 S. 2 StPO hat der 5. Senat in diesem für BGHSt vorgesehenen Beschluss seine frühere Rechtsansicht überzeugend begründet aufgegeben. Für Verteidiger gilt hiernach: Widersprüche und Verfahrensrügen sollten nicht auf die Anordnung des Selbstleseverfahrens beschränkt werden („wie“), sondern sich in geeigneten Fällen auch gegen das „Ob“ des Urkundenbeweises unter dem Blickwinkel des Unmittelbarkeitsprinzips in § 250 StPO richten. Gerade bei der Aufzeichnung von Telefongesprächen können gelegentlich nur durch Abspielen Nuancen wie Betonungen, Gesprächspausen oder Ähnliches sinnlich erfasst und beweistechnisch zutreffend eingeordnet werden.
RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum