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Fahrverbot: „abstrakte Gefährlichkeit“ beim qualifizierten Rotlichtverstoß

1. Bei dem Begriff der „abstrakten Gefahr“ handelt es sich um einen Terminus der Rechtsetzung, nicht um einen solchen der Rechtsanwendung.

2, Versuche, den Anwendungsbereich der Nr. 132.3 BKat mit dem Erfordernis einer konkret bestimmbaren „abstrakten Gefährlichkeit“ zu reduzieren, sind systematisch unzulässig, weil sie in die Kompetenz des Gesetzgebers, abstrakte Gefährdungsdelikte zu kodifizieren, eingreifen.

3. Es verbietet sich, allein unter dem Gesichtspunkt, ein Rotlichtverstoß sei nicht „abstrakt gefährlich“, vom indizierten Fahrverbot abzusehen (Aufgabe bisheriger Rechtsprechung, KG VRS 114, 60).

4. Von dieser Bewertung bleibt das Rechtsfolgeermessen des Tatrichters unberührt. Er ist befugt und veranlasst, im Rahmen einer Gesamtwürdigung unter Abwägung der Umstände des Einzelfalls in objektiver und subjektiver Hinsicht zu bestimmen, ob das gesamte Tatbild vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle in solchem Maße abweicht, dass das Fahrverbot unangemessen wäre. (Leitsätze des Gerichts)

KG, Beschl. v. 14.4.2020 – 3 Ws (B) 46/20

I. Sachverhalt

Das AG hat den Betroffenen wegen eines qualifizierten Rotlichtverstoßes zu einer Geldbuße verurteilt und ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet. Die Ampel zeigte bereits 1,1 Sekunden rotes Licht, als der Betroffene über die Haltlinie und sodann in den Kreuzungsbereich einfuhr. Das AG hat einen Beweisantrag des Verteidigers abgelehnt, ein Sachverständigengutachten zum Beweis der Tatsache einzuholen, dass der Querverkehr nicht gefährdet werden konnte, da bei Eintritt der für den Querverkehr geltenden Grünphasen der Betroffene den geschützten Kreuzungsbereich längst verlassen hatte. Das KG hat seine Rechtsbeschwerde verworfen.

II. Entscheidung

Diesen Beweisantrag habe das AG rechtsfehlerfrei abgelehnt. Allerdings habe der Senat in den vergangenen Jahren in unterschiedlichen Fallkonstellationen und mit verschiedenen Formulierungen entschieden, dass von der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen werden kann oder sogar abzusehen ist, sofern der Rotlichtverstoß mit keiner abstrakten Gefahr oder „abstrakten Gefährdung“ verbunden gewesen sei (NZV 2010, 361; NZV 2016, 594; VRS 113, 300; VRS 114, 60). Die Annahme, dass der Ordnungswidrigkeit der Missachtung eines bereits mehr als eine Sekunde leuchtenden roten Ampellichts (in der Folge: qualifizierter Rotlichtverstoß) die durch Nr. 132.3 BKat vorausgesetzte „abstrakte Gefährlichkeit“ fehlen kann, sei in der Literatur umstritten. Deutscher (in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 5. Aufl. 2018, Rn 1615) fordere, dass es nur auf die „Begehung eines generell gefährlichen Verhaltens“ und nicht auf das „Maß der Gefährlichkeit im konkreten Fall“ ankomme, nimmt aber unter Bezug auf die Senatsrechtsprechung einen „objektiven Ausnahmefall“ an, wenn „die Fahrspuren für den Querverkehr bzw. die Fußgängerfurten gesperrt sind“. Krumm habe sich der Senatsrechtsprechung angeschlossen (Fahrverbot in Bußgeldsachen, 4. Aufl. 2017, § 6 Rn 92 [einschränkend Rn 101]). Kritisch werde sie wiederum von König bewertet, der die Indizwirkung des Bußgeldkatalogs relativiert und der „subjektiven Disposition des Fahrzeugführers anheimgestellt“ sieht (König, in: Hentschel/König/Dauer, StVR, 45. Aufl. 2019, § 37 StVO Rn 54). Die bisherige Rechtsprechung des KG würde sich hier dahin auswirken, dass die dem Beweisantrag innewohnende Behauptung, durch den Betroffenen sei es zu keiner „abstrakten Gefährdung“ gekommen, als erheblich zu gelten hätte und der erbotene Beweis erhoben werden müsste. Auch wenn keine ausdrücklichen Urteilsfeststellungen dazu verlangt werden, ob es bei einem qualifizierten Rotlichtverstoß zu einer „abstrakten Gefährdung“ gekommen ist, wäre auf der Grundlage der sonstigen Rechtsprechung des Senats der erbotene Beweis zu erheben gewesen.

An dieser Rechtsprechung werde nicht festgehalten. Nach Auffassung des Senats verbiete es sich aus Rechtsgründen, unter dem Gesichtspunkt, ein Rotlichtverstoß sei nicht „abstrakt gefährlich“, vom Fahrverbot abzusehen. Daher sei im Grundsatz auch eine dahin gehende Beweisaufnahme nicht veranlasst. Der Verordnungsgeber habe eine bestimmte Handlung – die Missachtung eines bereits eine Sekunde rot leuchtenden Ampellichts – abstrakt als so gefährlich angesehen, dass er ihr die Regelahndung eines Fahrverbots zugewiesen hat. Unabhängig davon, dass es auch Rotlichtverstöße mit objektiven und subjektiven Besonderheiten und namentlich geringem Handlungs- und Erfolgsunwert gibt, die im Einzelfall das Absehen vom Fahrverbot rechtfertigen, sei es unzulässig, die Rechtsetzung des Verordnungsgebers dadurch zu unterminieren, dass dem Tatrichter ermöglicht oder gar aufgegeben wird, die Tat trotz Erfüllung des Tatbestands danach zu würdigen, ob sie „abstrakt gefährlich“ ist. Denn bei der „abstrakten Gefahr“ handele es sich ausschließlich um einen Terminus der Rechtsetzung, nicht um einen solchen der Rechtsanwendung. So obliege es – auch unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung – der Beurteilung ausschließlich des Gesetzgebers, bestimmte Verhaltensweisen für so gefährlich zu halten, dass er sie unabhängig vom Eintritt einer konkreten Gefahr oder eines Schadens unter Strafe stellt. Der Rechtsprechung sei es untersagt, diese (Vor-) Bewertung dadurch zu unterlaufen, dass sie einer den gesetzlichen Tatbestand erfüllenden Handlung die Eigenschaft als abstrakt gefährlich abspricht. Diese Einschätzung manifestiere sich am Beispiel der Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB).

Die Beurteilung der „abstrakten Gefährlichkeit“ einer Tat der Rechtsprechung zu überbürden, würde auch neue Probleme aufwerfen. Haben sich in der Rechtsprechung zu § 315c Abs. 1 Nr. 1a StGB zumindest grob greifbare Merkmale dafür herausgebildet, was eine konkrete Gefahr ausmacht (z.B. „Beinaheunfall“), sei dies für den Begriff der abstrakten Gefahr offen. Ließe man den Begriff zur Rechtsanwendung und -ausfüllung zu, wäre etwa zu klären, ob ersichtlich stehende Personen oder Fahrzeuge einer „abstrakten Gefährdung“ entgegenstehen, denn ohne Dynamik bleibe ein Rotlichtverstoß in der Regel ungefährlich. Erst recht wäre daran zu denken, dass ein offensichtlich z.B. zur Nachtzeit personen- und fahrzeugleerer Verkehrsraum einem Rotlichtverstoß die „abstrakte Gefährlichkeit“ nehmen könnte. In der Literatur finde sich der kaum nachvollziehbare Bestimmungsversuch, an einer „abstrakten Gefährlichkeit“ fehle es, wenn mit dem Auftauchen anderer Verkehrsteilnehmer nur dann zu rechnen sei, wenn diese sich ihrerseits verkehrswidrig verhielten (Herrmann, NZV 2001, 386, 387). Solche Versuche, den Anwendungsbereich der Nr. 132.3 BKat mit dem Erfordernis einer konkret bestimmbaren „abstrakten Gefährlichkeit“ zu reduzieren, seien systematisch unzulässig. Sie gingen aber auch auf der Ebene der Rechtsanwendung fehl, weil sich die Gefährlichkeit eines Rotlichtverstoßes nicht ausschließlich aus der Möglichkeit einer Gefährdung kreuzenden Verkehrs, sondern auch daraus ergeben kann, dass andere Verkehrsteilnehmer, etwa Kreuzungsräumer, durch das verkehrswidrige Verhalten gefährdet oder zumindest nachhaltig überrascht und verwirrt werden. In gleicher Richtung fließender Verkehr könne daneben auch durch den Mitzieheffekt gefährdet werden. In der Rechtsprechung werde sogar die Auffassung vertreten, dass das rote Ampellicht auch Verkehrsteilnehmer schützt, die sich zu Unrecht im Kreuzungsbereich aufhalten (so BayObLG zfs 2002, 202). Der Senat schließe sich mit seiner Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung im Ergebnis dem BayObLG an (NZV 2003, 350 = DAR 2003, 233).

Die Aufgabe bisheriger Rechtsprechung berühre das Rechtsfolgeermessen des Tatrichters nicht. Er sei (weiter) befugt und veranlasst, im Rahmen einer Gesamtwürdigung unter Abwägung der Umstände des Einzelfalls in objektiver und subjektiver Hinsicht zu bestimmen, ob das gesamte Tatbild vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle in solchem Maße abweicht, dass das Fahrverbot unangemessen wäre (BVerfG NStZ 1996, 391). Das Maß der Gefährdung sei als Erfolgsunrecht regelmäßig ein wichtiger Bestandteil des Tatbildes. Ein in der konkreten Situation objektiv wenig gefährliches Verhalten könne Anlass geben, das Regelfahrverbot auf seine Erforderlichkeit zu prüfen. Dies gelte umso mehr, wenn jede konkrete Gefährdung ausgeschlossen ist, etwa weil die Lichtzeichenanlage ausschließlich der Regelung des Verkehrsflusses dient (OLG Bamberg NZV 2009, 616 = VRR 2010, 34 [Gieg]). Der Senat halte es aber für unzulässig, allein aus dem Umstand, dass im Zeitpunkt des Rotlichtverstoßes auch der Querverkehr noch wartepflichtig war, die „abstrakte Gefährlichkeit“ der Tat infrage zu stellen und auf dieser Grundlage vom Fahrverbot abzusehen. Denn die „abstrakte Gefährlichkeit“ sei kein ungeschriebenes Merkmal des Tatbestands Nr. 132.3 BKat, sodass es im Regelfall weder der Aufklärung noch der Mitteilung der Ampelschaltung bedürfe.

III. Bedeutung für die Praxis

Es ist erfreulich, dass sich das KG von seiner ständigen Rechtsprechung zur Frage der „abstrakten Gefährlichkeit“ beim qualifizierten Rotlichtverstoß und der Auswirkung auf das Regelfahrverbot gelöst hat (näher Deutscher a.a.O.). Ob das auch Auswirkungen auf die von der Rechtsprechung angenommenen Ausnahmefälle haben wird (einspurige Verkehrsführung, Baustellenampel, aufgrund der Verkehrsführung dürfen sich andere Verkehrsteilnehmer nicht in dem Schutzbereich aufhalten, hierzu Deutscher, Rn 1617 m.N.), bleibt abzuwarten. Jedenfalls verschiebt sich der Blickwinkel in den vom KG genannten Fallkonstellationen vom objektiven Erfolgsunrecht auf das subjektive Handlungsunrecht (hier insbesondere das Augenblicksversagen). Im letzten Abschnitt des Beschlusses hat das KG allerdings diesbezügliche Erwägungen auf den Bereich der Erforderlichkeit des Fahrverbots verlagert: Ein in der konkreten Situation objektiv wenig gefährliches Verhalten könne Anlass geben, das Regelfahrverbot auf seine Erforderlichkeit zu prüfen. Dieses Hintertürchen ist aber nicht überzeugend. Die obergerichtliche Rechtsprechung geht nahezu durchgängig davon aus, dass tatbezogene Umstände wie etwa ein Verstoß zur Nachtzeit, bei schwachem Verkehrsaufkommen oder dem Ausbleiben der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer als solche für ein Absehen vom Fahrverbot wegen fehlender Erforderlichkeit gerade nicht genügen (N. bei Deutscher, a.a.O. Rn 1297). Hier deutet sich an, dass der vormals beim Erfolgsunrecht geführte Meinungsstreit in neuer Form bei der Erforderlichkeit des Fahrverbots auftauchen könnte.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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