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Beugehaft gegen einen aussageverweigernden Zeugen

Das Gericht kann gegen einen aussageverweigernden Zeugen, dem unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zusteht, die Beugehaft gem. § 70 Abs. 2 StPO anordnen, soweit die Vernehmung des Zeugen von der Amtsaufklärungspflicht gedeckt ist und bei der Anordnung der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet wird.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 21.8.2024StB 39/24

I. Sachverhalt

Beugehaft gegen aussageunwilligen Zeugen

Vor dem OLG fand die Hauptverhandlung gegen den Angeklagten wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland (der türkischen Organisation DHKP-C) statt. Im Hauptverhandlungstermin wurde der Zeuge A vernommen. Er war wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an dieser terroristischen Vereinigung rechtskräftig verurteilt worden. Nach der Vernehmung zur Person machte der Zeuge – entgegen dem Hinweis des Vorsitzenden des Staatsschutzsenats – geltend, ihm stehe ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht zu, und verweigerte Angaben zur Sache. Nachdem die Festsetzung von Ordnungsmitteln keine Änderung des Aussageverhaltens bewirkt hatte, hat das OLG noch am Tag der Vernehmung mit dem angefochtenen Beschluss gegen den Zeugen Beugehaft von zunächst einer Woche sowie ihre sofortige Vollstreckung angeordnet und ihm die durch seine Weigerung verursachten Kosten auferlegt. Sodann ist der Zeuge in Haft genommen worden. Er hat gegen die Entscheidung „sofortige Beschwerde“ erhoben. Mit Beschluss hat der Staatsschutzsenat dem Rechtsmittel nicht abgeholfen. Im nächsten Hauptverhandlungstermin hat der Zeuge weiterhin keine Angaben zur Sache gemacht. Das OLG hat daraufhin die angeordnete Beugehaft unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten aufgehoben. Der Zeuge hat die Feststellung der Rechtswidrigkeit des angefochtenen Beschlusses beantragt. Die Beschwerde wurde verworfen.

II. Entscheidung

Reichweite des § 55 StPO

Das Rechtsmittel des Zeugen sei als (einfache) Beschwerde auszulegen. Durch die zwischenzeitliche Aufhebung der Haft werde das Rechtsmittel nicht infolge prozessualer Überholung unzulässig (BVerfG NJW 2006, 42; BGH NStZ 2017, 418, 419; NStZ-RR 2018, 386, 387). Die nunmehr auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Anordnung und Vollstreckung der Beugehaft gerichtete Beschwerde bleibe in der Sache erfolglos. Dem Beschwerdeführer habe ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nicht zugestanden. § 55 Abs. 1 StPO gewähre dem Zeugen das Recht, die Auskunft auf solche Fragen zu verweigern, deren Beantwortung ihn selbst oder einen Angehörigen der Gefahr aussetzen würde, wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden. Ein solches Risiko sei anzunehmen, wenn eine Ermittlungsbehörde einer wahrheitsgemäßen Aussage des Zeugen Tatsachen entnehmen könnte, die sie zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens (§ 152 StPO) veranlassen oder die zur Aufrechterhaltung oder Verstärkung eines Tatverdachts führen könnten. Hierfür genüge, wenn der Zeuge bestimmte Tatsachen angeben müsste, die lediglich mittelbar den Verdacht einer Straftat begründen. So könne es im Einzelfall selbst dann liegen, wenn die wahrheitsgemäße Beantwortung einer Frage zwar allein eine Strafverfolgung nicht auslösen, jedoch „als Teilstück in einem mosaikartigen Beweisgebäude“ zu einer Belastung des Zeugen beitragen könnte (BGH NJW 1999, 1413). Für die Verfolgungsgefahr müsse es allerdings konkrete tatsächliche Anhaltspunkte geben; bloße Vermutungen oder rein denktheoretische Möglichkeiten reichten nicht aus (BGH NStZ 1999, 415, 416; NStZ-RR 2010, 246, 247). Eine Gefahr straf- oder bußgeldrechtlicher Verfolgung bestehe grundsätzlich dann nicht mehr, wenn gegen den Zeugen hinsichtlich der Tat, deren er sich durch wahrheitsgemäße Beantwortung der Frage verdächtig machen könnte, bereits ein rechtskräftiges Urteil vorliegt und somit die Strafklage verbraucht ist oder wenn die Tat verjährt oder aus anderen Gründen zweifelsfrei ausgeschlossen ist, dass er für sie noch verfolgt werden könnte. Im Fall einer rechtskräftigen Verurteilung sei indes die Verfolgungsgefahr nicht auszuschließen, falls zwischen der abgeurteilten Tat und anderen prozessualen Taten, derentwegen der Zeuge noch verfolgt werden könnte, ein so enger Zusammenhang besteht, dass die Beantwortung von Fragen zu der abgeurteilten Tat das Risiko der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen dieser anderen Taten mit sich bringt (BGH NStZ 2013, 241 = StRR 2013, 139 [Kirchmann]). Die Besorgnis, die Aussage des Zeugen könnte den Angeklagten dazu veranlassen, jenen möglicherweise über die bereits bekannte Tat hinausgehend zu belasten, sei allerdings vom Schutzzweck der verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbelastungsfreiheit nicht umfasst (BGH NStZ 2017, 546, 547 f.). Selbst wenn eine Verfolgungsgefahr angenommen wird, sei der Zeuge nach § 55 Abs. 1 StPO grundsätzlich nur berechtigt, die Auskunft auf einzelne Fragen zu verweigern. Lediglich ausnahmsweise sei er zu einer umfassenden Verweigerung befugt, wenn seine gesamte in Betracht kommende Aussage mit einem möglicherweise strafbaren Verhalten in so engem Zusammenhang steht, dass im Umfang des vorgesehenen Vernehmungsgegenstands nichts übrigbleibt, wozu er gefahrlos der Wahrheit gemäß aussagen könnte (BGH NStZ-RR 2005, 316, 2010, 246, 247).

Hier kein Auskunftsverweigerungsrecht

Eine Verfolgungsgefahr, die den Zeugen berechtigt hätte, gar keine Angaben zur Sache zu machen, habe er weder dargelegt oder glaubhaft gemacht (§ 56 StPO) noch ist sie sonst ersichtlich. Die Zeugenvernehmung habe dazu dienen sollen, die Stellung und Tätigkeit des Angeklagten im Komitee der DHKP-C für das Gebiet M bezogen auf die Zeit von März 2014 bis November 2019 weiter aufzuklären. In diesem Zeitpunkt sei der Beschwerdeführer nach den Feststellungen des gegen ihn ergangenen rechtskräftigen Urteils selbst Mitglied des Komitees gewesen. Es sei nichts dafür ersichtlich, dass er, hätte er diesen Vernehmungsgegenstand betreffende Fragen wahrheitsgemäß beantwortet, Angaben hätte machen müssen, die Rückschlüsse auf eine andere prozessuale Tat als die abgeurteilte zulassen oder wenigstens im Rahmen einer mosaikartigen Beweisführung für die Begründung bzw. Erhärtung eines derartigen Tatverdachts Bedeutung gewinnen können. Es komme insoweit nicht darauf an, ob der Verdacht bestand, dass der Zeuge nach seinem Beitritt zur DHKP-C bereits im November 2013 für das Gebietskomitee tätig gewesen oder – anders als in den Gründen des rechtskräftigen Urteils festgestellt – dessen Vorsitzender war. Derartige tatsächliche Umstände wären vom Strafklageverbrauch (Art. 103 Abs. 3 GG) umfasst. Sie gehörten zu derselben für die Grenzen der Rechtskraft maßgebenden Tat im verfahrensrechtlichen Sinne. Es liege lediglich eine einheitliche materiellrechtliche Tat vor; denn die tatbestandliche Handlungseinheit der von § 129a Abs. 1 Alt. 2 i.V.m. § 129b Abs. 1 S. 1 StGB erfassten Beteiligungshandlungen des Mitglieds schließe zumindest solche weiteren – auch zeitlich vorgelagerten – vereinigungsbezogenen Betätigungen ein, die nicht zugleich gegen eine andere Strafrechtsnorm verstoßen (BGHSt 60, 308 Rn 25 ff.; wird näher ausgeführt).

Rechtmäßigkeit der Anordnung der Beugehaft

Die Maßnahme gemäß § 70 Abs. 2 StPO stehe – anders als diejenigen nach § 70 Abs. 1 StPO – im gerichtlichen Ermessen. Dabei seien die Pflicht zur Sachaufklärung sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Der angefochtene Beschluss sei wie schon die Vernehmung des Zeugen von der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) gedeckt. Insbesondere habe sich der Staatsschutzsenat nicht von vorneherein mit der Verlesung der Gründe des gegen den Zeugen ergangenen rechtskräftigen Urteils sowie der Vernehmung von Ermittlungspersonen begnügen müssen. Denn das Tatgericht sei nicht gehindert, sondern vielfach, wenn nicht gar in der Regel gehalten, sich um ein sachnäheres Beweismittel zu bemühen, selbst wenn es ohne die Beweiserhebung aufgrund bereits genutzter sachfernerer Beweismittel die (unter Vorbehalt stehende) Überzeugung vom Tatvorwurf gewonnen hat (BVerfG NStZ-RR 2013, 115 f.; BGH NStZ 2004, 50). Im Anschluss an die Rechtskraft des gegen den Zeugen ergangenen Urteils habe das OLG dementsprechend dessen Einvernahme in der Hauptverhandlung betrieben. Darüber hinaus hätten konkretisierende Angaben des Beschwerdeführers zur Stellung und Tätigkeit des Angeklagten Bedeutung für die Strafzumessung gewinnen können. Die angefochtene Entscheidung wahre den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (BVerfG NJW 2007, 1865). Das OLG habe zu Recht angenommen, dass eine Aussage des Zeugen zur Sache ohne Beugehaft nicht zu erlangen war. Es habe zudem zutreffend auf das Gewicht der dem Angeklagten angelasteten Straftat abgestellt. Überdies habe es davon ausgehen dürfen, dass trotz fortgeschrittener Beweisaufnahme Angaben des Zeugen den Ausgang des Strafverfahrens noch beeinflussen können. Nach der maßgeblichen Ex-ante-Sicht genüge es hierfür grundsätzlich, dass die Nutzung des sachnäheren Beweismittels das bisher gewonnene Beweisergebnis voraussichtlich untermauern wird. Da die Beweisaufnahme vor dem Abschluss stand, habe der Staatsschutzsenat ferner die sofortige Vollstreckung als erforderlich erachten dürfen. Schließlich zeige sich die Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeits- und des Beschleunigungsgrundsatzes daran, dass das OLG die Beugehaft umgehend aufgehoben hat, nachdem es im nächsten Vernehmungstermin die Überzeugung gewonnen hatte, der Zeuge werde trotz weiteren Beugehaftvollzugs auf absehbare Zeit zur Sache nicht aussagen. Darauf, ob der Angeklagte auch ohne die Aussage des Beschwerdeführers dem Anklagevorwurf entsprechend verurteilt worden ist, kommt es deshalb nicht ausschlaggebend an.

III. Bedeutung für die Praxis

Überzeugende Grenzziehung

In der Praxis geschieht die zweifelhafte Berufung eines Zeugen auf ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht häufig in BtM-Verfahren. Nachdem der Zeuge in seinem eigenen Verfahren zur Verbesserung seiner Lage vielfach schon eine „Lebensbeichte“ mit Belastung Dritter abgelegt hat, will er hiervon nach rechtskräftiger Verurteilung in den Folgeverfahren gegen diese Dritten nichts mehr wissen und beruft sich auf § 55 StPO. In solchen Verfahren ist das wegen großzügiger Anwendung des § 154 StPO im Ursprungsverfahren gegen den Zeugen oder unter Berufung auf die Aussage „als Teilstück in einem mosaikartigen Beweisgebäude“ bezüglich weiterer Taten des Zeugen oftmals erfolgreich. Der BGH zeigt in dem Beschluss überzeugend auf, dass diese Berufung auf ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht aber nicht grenzenlos zulässig ist, sondern abhängig von einer genauen Prüfung der Reichweite der Rechtskraft der Verurteilung des Zeugen. Erfreulich ist auch die Klarstellung, dass solche Zeugen dem Gericht nicht die Beweismittel vorgeben können. Es gilt noch immer das Unmittelbarkeitsprinzip und damit das Gebot des sachnächsten Beweismittels. Der auskunftsverweigernde Zeuge kann daher grundsätzlich weder auf die Verlesung des gegen ihn gerichteten Urteils verweisen noch auf die Vernehmung von Vernehmungsbeamten, um sich der Aussage folgenlos zu entziehen.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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