Einem Verteidiger steht für seine Tätigkeit im Verfahren über die nachträgliche Gesamtstrafenbildung nach §§ 460, 462 StPO eine Vergütung nach Nrn. 4204, 4205 VV RVG zu. Etwas anderes folgt insbesondere nicht daraus, dass sich die schon frühere Beiordnung als Pflichtverteidiger regelmäßig auf das Verfahren über die nachträgliche Gesamtstrafenbildung erstreckt. (Leitsatz des Gerichts)
OLG Bamberg,Beschl.v.11.6.2019–1 Ws 265/19
I. Sachverhalt
Der Rechtsanwalt ist dem früheren Angeklagten im Verfahren als Pflichtverteidiger bestellt worden. Der Angeklagte ist durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts zu zwei Gesamtfreiheitsstrafen verurteilt worden. Danach erwuchs ein weiteres Urteil des Amtsgerichts gegen den Angeklagten in Rechtskraft. Mit nachträglichem Beschluss hat das Amtsgericht unter Einbeziehung der Strafe aus diesem Urteil aus einer der verhängten Gesamtfreiheitsstrafen eine neue nachträgliche Gesamtstrafe nach den §§ 460, 452 StPO gebildet. Im Verfahren über die nachträgliche Gesamtstrafenbildung war der RA als Pflichtverteidiger tätig.
Der Rechtsanwalt hat für seine Tätigkeit im Rahmen des Verfahrens der nachträglichen Gesamtstrafenbildung u.a. die Festsetzung einer Vergütung nach Nrn. 4204, 4205 VV RVG VV beantragt. Diese hat das Amtsgericht festgesetzt. Die hiergegen gerichtete Erinnerung der Bezirksrevisorin hat das Amtsgericht zurückgewiesen. Der dagegen gerichteten Beschwerde hat das AG nicht abgeholfen. Das LG hat auf die Beschwerde den Beschluss des AG aufgehoben und die weitere Beschwerde zugelassen. Die vom RA eingelegte weitere Beschwerde hatte beim OLG Erfolg.
II. Entscheidung
Ob einem Pflichtverteidiger für seine Tätigkeit im Verfahren der nachträglichen Gesamtstrafenbildung (§§ 460, 462 StPO) ein Honorar nach Nrn. 4204, 4205 VV RVG zusteht, wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beurteilt (bejahend: OLG Brandenburg RVGreport 2018, 385 = JurBüro 2019, 23 = AGS 2018, 494; LG Cottbus RVGreport 2018, 385;Riedel/Sußbauer, RVG, 10. Aufl., Nr. 4204 VV Rn 4;Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, 2. Aufl., VV 4200–4207, Rn 11; Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG VV 4200–4207 Rn 4; verneinend: LG Bonn RVGreport 2017, 297).
Das OLG hat die Frage mit der h.M. bejaht. Die Frage der Vergütung sei entgegen der Auffassung des LG strikt von der Frage zu trennen, ob die einmal erfolgte Pflichtverteidigerbestellung nach § 141 StPO auch im Verfahren über die nachträgliche Gesamtstrafenbildung fortwirkt. Die Gesetzessystematik bringe nämlich eindeutig zum Ausdruck, dass die Frage der Vergütung des Pflichtverteidigers für einzelne Verfahrensabschnitte unabhängig von der Frage der Fortwirkung seiner Bestellung zu beurteilen sei. Zwar spreche für die Ansicht des LG Bonn (a.a.O.) der Wortlaut der Überschrift des Teils 4 Abschnitt 2 VV RVG – „Gebühren in der Strafvollstreckung“ – und der Wortlaut in Nr. 4204 VV RVG, wo von „Gebühren in der Strafvollstreckung“ bzw. „Verfahren in der Strafvollstreckung“ die Rede sei. Von Strafvollstreckung im engeren Sinn könne bei der nachträglichen Gesamtstrafenbildung nach §§ 460, 462 schon deshalb nicht die Rede sein, da diese darauf gerichtet sei, überhaupt erst ein der Strafvollstreckung zugängliches Erkenntnis zu schaffen.
Für eine honorarrechtliche Relevanz des Tätigwerdens des RA in diesen Fällen sprechen hingegen aber systematische Überlegungen (vgl. OLG Brandenburg, a.a.O.). Der Gesetzgeber habe das Verfahren der nachträglichen Gesamtstrafenbildung (§§ 460, 462 StPO) im 7. Buch, 1. Abschnitt der StPO (§§ 449 ff. StPO) geregelt, welcher mit „Strafvollstreckung“ überschrieben sei. Insoweit spricht die Gesetzessystematik dafür, dass der Gesetzgeber den Begriff der Strafvollstreckung i.S.d. RVG mit den §§ 449 ff. StPO gleichgesetzt habe. Dass der Gesetzgeber den Begriff der „Strafvollstreckung“ i.S.d. Teils 4 Abschnitt 2 VV RVG nicht im streng strafrechtsdogmatischen Sinn, sondern als Verweis auf die §§ 449 ff. StPO verstanden habe, ergebe sich im Übrigen schon daraus, dass er in Nr. 4200 Ziff. 1 VV RVG unter der Überschrift „Gebühren in der Strafvollstreckung“ Vergütungen des Verteidigers in Verfahren regele, die sich gerade nicht als Strafvollstreckung, sondern vielmehr als solche der Vollstreckung einer Maßregel darstellen.
Schließlich kann es – schon im Hinblick auf Art. 3 GG – nicht Sinn und Zweck einer gesetzgeberischen Regelung sein, die Vergütung oder Nichtvergütung eines Verteidigers für im wesentlichen gleiche Tätigkeiten von Zufälligkeiten abhängig zu machen, welche er selbst nicht steuern könne. Genau dies wäre jedoch in bestimmten Konstellationen der Fall, wollte man der Rechtsansicht des LG Bonn (a.a.O.) folgen. Hebe das Revisionsgericht nämlich ein Urteil nur wegen Gesetzesverletzung bei der Bildung einer Gesamtstrafe (§§ 53, 54, 55 StGB) auf, könne dies nach § 354 Abs. 1b StPO mit der Maßgabe geschehen, dass eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach den §§ 460, 462 StPO zu treffen ist. Ob das Revisionsgericht von dieser Möglichkeit Gebrauch macht oder das Verfahren gemäß § 354 Abs. 2 StPO in eine andere Abteilung oder Kammer des Gerichts, dessen Urteil im Gesamtstrafenausspruch aufgehoben wurde, zurückverweist, liege allein in dessen pflichtgemäßem Ermessen. Im letzteren Fall stehe dem Pflichtverteidiger für sein Tätigwerden vor dem Gericht des 1. Rechtszugs erneut die Verfahrensgebühr nach Nrn. 4106, 4107 VV RVG, ggf. neben Terminsgebühren nach Nr. 4108 RVG VV zu (vgl. Gerold/Schmidt/Burhoff, VV 4106, 4107 VV Rn 3). Eine sachliche Rechtfertigung dafür, einem Verteidiger für sein Tätigwerden im Rahmen der nachträglichen Gesamtstrafenbildung entweder gar keine Vergütung oder mindestens eine Verfahrensgebühr nach Nrn. 4106, 4107 VV RVG zuzugestehen, je nachdem, von welcher Möglichkeit der Entscheidung das Revisionsgericht Gebrauch gemacht hat, sei nicht ersichtlich. Die Notwendigkeit einer ähnlichen Honorierung des Verteidigers für ähnliche von ihm erbrachte Leistungen spreche also dafür, dass seine Tätigkeit im Verfahren über die nachträgliche Gesamtstrafenbildung von den Nrn. 4204, 4205 VV RVG erfasst ist.
III. Bedeutung für die Praxis
1. Die Entscheidung ist zutreffend. Das OLG begründet überzeugend, warum es – wie schon das OLG Brandenburg (a.a.O.) – der vereinzelt gebliebenen Entscheidung des LG Bonn nicht folgt.
2. Der vom OLG angesprochene Streit in der Frage, ob die ursprüngliche Pflichtverteidigerbestellung auch die Tätigkeiten im Rahmen der nachträglichen Gesamtstrafenregelung umfasst, hat sich übrigens durch das Inkrafttreten des „Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung“ erledigt. Nach § 143 Abs. 1 StPO neu endet die Bestellung des Pflichtverteidigers nämlich jetzt ausdrücklich erst mit der Einstellung oder dem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens einschließlich eines Verfahrens nach den §§ 423 StPO oder 460 StPO.
RADetlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg