Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingestellt
Die EU-Kommission hat Anfang Dezember 2021 bekannt gegeben, dass sie das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen der Differenzen zwischen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und der des Bundesverfassungsgerichts zum Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) einstellt. Das Vertragsverletzungsverfahren war eingeleitet worden, weil das BVerfG trotz Vorliegen eines gegenteiligen Entscheids des EuGH mit einem Urteil vom 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 entschied, dass die EZB mit dem Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors („PSPP“) gegen die EU-Verträge verstoßen habe. An die Entscheidung des EuGH sahen sich die Karlsruher Richter nicht gebunden, weil sie davon ausgingen, dass Deutschland nur insoweit Rechte auf die EU und damit auch auf den EuGH übertragen hätte, wie es in den internationalen Verträgen vereinbart worden sei. Das BVerfG, so die weitere Schlussfolgerung, sei damit weiterhin befugt zu prüfen, ob sich die europäischen Instanzen in diesem Rahmen bewegten (sog. Ultra-vires-Kontrolle). Damit habe das BVerfG allerdings, so die EU-Kommission, den Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht in Frage gestellt.
Die Kommission hält es aber nun aus drei Gründen für angebracht, das Vertragsverletzungsverfahren einzustellen: Erstens habe Deutschland in seiner Antwort auf das Aufforderungsschreiben an die Bundesregierung zu einer Stellungnahme sehr klare Zusagen gemacht. Insbesondere habe Deutschland förmlich erklärt, dass es die Grundsätze der Autonomie, des Vorrangs, der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts sowie die in Art. 2 EUV verankerten Werte, insb. die Rechtsstaatlichkeit, bekräftige und anerkenne. Zweitens erkenne Deutschland ausdrücklich die Autorität des Gerichtshofs der Europäischen Union an, dessen Entscheidungen rechtskräftig und bindend seien. Ferner sei Deutschland der Ansicht, dass die Rechtmäßigkeit von Handlungen der Unionsorgane nicht von der Prüfung von Verfassungsbeschwerden vor deutschen Gerichten abhängig gemacht, sondern nur vom Gerichtshof der Europäischen Union überprüft werden könne. Und drittens habe sich die deutsche Regierung unter ausdrücklicher Bezugnahme auf ihre in den Verträgen verankerte Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um in Zukunft eine Wiederholung einer Ultra-vires-Feststellung aktiv zu vermeiden.
Nach Bekanntwerden der Entscheidung aus Brüssel ist in Deutschland die Frage laut geworden, was genau die scheidende Bundesregierung der EU-Kommission zugesichert hat. So forderte etwa der bayerische Justizminister Eisenreich die Bundesregierung auf, ihre gegenüber der Kommission abgegebene Stellungnahme im Wortlaut zu veröffentlichen. Er zeigte sich in Anbetracht der Verlautbarung der Kommission alarmiert und betonte, dass die Unabhängigkeit der deutschen Gerichte nicht in Frage gestellt werden dürfe. Der Minister erklärte u.a., er befürchte, dass die Regierung Brüssel Zusagen gemacht habe, um eine Klage vor dem EuGH abzuwenden. In Deutschland seien die Gerichte allerdings unabhängig. Dieses verfassungsrechtliche Grundprinzip dürfe nicht angetastet werden. Deshalb könne der Bund solche Zusagen, wie sie von der EU-Kommission jetzt verlautbart worden seien, gar nicht machen. Um Klarheit zu schaffen, müsse die Bundesregierung nun ihre Stellungnahme an Brüssel veröffentlichen und versichern, dass jede Einflussnahme auf das BVerfG ausgeschlossen sei.
[Red.]