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Rückwärtsfahren mit einem Anhänger

Auch das Rückwärtsfahren mit einem Anhänger ist ein „Ziehen“ im Sinne von § 19 Abs. 4 Satz. 4 StVG. (Leitsatz des Gerichts)

BGH, Urt. v. 14.11.2023VI ZR 98/23

I. Sachverhalt

Gesamtschuldnerstreit zwischen zwei Versicherungen

Die klagender Versicherung nimmt die Beklagte, ebenfalls eine Versicherung, nach einem Verkehrsunfall auf hälftigen Gesamtschuldnerausgleich in Anspruch. Zugrunde liegt ein Unfallereignis aus dem Jahr 2021, bei dem das bei Klägerin haftpflichtversicherte Fahrzeug mit einem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Anhänger rückwärts rangierte. Dabei wurde ein anderes Fahrzeug beschädigt. Die Klägerin regulierte die Aufwendungen des Geschädigten in Höhe von 930 EUR.

Das AG hat die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 465 EUR nebst Zinsen zu zahlen. Auf die Berufung der Beklagten hat das LG das Urteil des AG abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Klageantrag weiter. Die Revision war nicht begründet. Die dagegen gerichtete Revision der Klägerin ist nicht begründet.

II. Entscheidung

Anwendung von § 19 Abs. 4 StVG

Der BGH hat die Annahme des LG, dass im Verhältnis der Klägerin und der Beklagten zueinander ausschließlich die Klägerin verpflichtet ist, nicht beanstandet. Gemäß § 78 Abs. 3 VVG in der nach § 65 Abs. 6 StVG anwendbaren Fassung des Gesetzes zur Haftung bei Unfällen mit Anhängern und Gespannen im Straßenverkehr vom 10.7.2020 (BGBl I S. 1653) sind in der Haftpflichtversicherung von Gespannen bei einer Mehrfachversicherung die Versicherer im Verhältnis zueinander zu Anteilen entsprechend der Regelung in § 19 Abs. 4 StVG verpflichtet.

Mehrfachversicherung

Das bei der Klägerin haftpflichtversicherte Zugfahrzeug (§ 19 Abs. 1 Satz 1 StVG) habe mit dem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Anhänger ein Gespann (§ 19 Abs. 2 Satz 1 StVG) gebildet. Nach den getroffenen Feststellungen habe eine Mehrfachversicherung (§ 78 Abs. 1 VVG) vorgelegen (siehe weiter BGH, Urt. v. 13.3.2018 – VI ZR 151/17, NJW 2018, 2120; Urt. v. 27.10.2010 – IV ZR 279/08, BGHZ 187, 211). Nach § 19 Abs. 4 Satz 2 StVG sei im Verhältnis der Halter des Zugfahrzeugs und des Anhängers zueinander nur der Halter des Zugfahrzeugs verpflichtet. Dies gelte nicht, soweit sich durch den Anhänger eine höhere Gefahr verwirklicht habe als durch das Zugfahrzeug allein; in diesem Fall hänge die Verpflichtung zum Ausgleich davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem Zugfahrzeug oder dem Anhänger verursacht worden sei (§ 19 Abs. 4 Satz 3 StVG). Das Ziehen des Anhängers allein verwirkliche im Regelfall keine höhere Gefahr (§ 19 Abs. 4 Satz 4 StVG).

Haftungsverteilung „macht“ der Tatrichter

Die Entscheidung über die Haftungsverteilung sei, so der BGH, Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden seien (st. Rspr., zuletzt BGH, Urt. v. 22.11.2022 – VI ZR 344/21, NJW 2023, 1123). Danach sei die Beurteilung, dass die Klägerin (Haftpflichtversicherer des Zugfahrzeugs) im Verhältnis zur Beklagten (Haftpflichtversicherer des Anhängers) allein verpflichtet sei (§ 19 Abs. 4 Satz 2 StVG), nicht zu beanstanden. Entgegen der Auffassung der Revision sei auch das Rückwärtsfahren mit einem Anhänger ein „Ziehen“ im Sinne von § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG. Diese Begriffsverwendung entspreche der Legaldefinition in § 19 Abs. 1 Satz 1 StVG („[…] eines Anhängers, der dazu bestimmt ist, von einem Kraftfahrzeug (Zugfahrzeug) gezogen zu werden […]“). Die Vorschrift des § 19 Abs. 1 StVG erfasse unabhängig von der Fahrtrichtung jede Bewegung des Anhängers (d.h. auch das Rückwärtsschieben) durch das Zugfahrzeug. Ob der Anhänger beim konkreten Haftpflichtgeschehen gezogen oder geschoben (z.B. während eines Rangiervorganges) werde, sei nicht relevant. Entscheidend sei allein seine abstrakte Bestimmung, prinzipiell an ein Kraftfahrzeug angehängt zu werden (vgl. Jahnke in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, 27. Aufl., StVG § 19 Rn 28). Vormals habe es in § 7 Abs. 1 StVG a.F. bezüglich der Anhängerhaftung geheißen auch „oder eines Anhängers, der dazu bestimmt ist, von einem Kraftfahrzeug mitgeführt zu werden“. Nach der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks 19/17964 S. 9, 13) zur Neuregelung der Anhängerhaftung – nun nicht mehr in § 7 StVG, sondern in § 19 StVG – habe die Ersetzung der Wörter „mitgeführt zu werden“ durch „gezogen zu werden“ nur sprachliche Gründe. Eine inhaltliche Änderung habe damit ausdrücklich nicht verbunden sein sollen (vgl. Bollweg/Wächter NZV 2020, 545, 549; Jahnke in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, 27. Aufl., StVG § 19 Rn 57; zumindest teilweise anders Bauer-Gerland VersR 2020, 146; siehe weiter § 2 Nr. 2 FZV). Für ein abweichendes Begriffsverständnis des „Ziehen“ in § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG gebe es keine Anhaltspunkte (vgl. BT-Drucks 19/17964 S. 16 f.). Vielmehr stelle die Gesetzesbegründung darauf ab, dass der Anhänger dem Zugfahrzeug zu- und untergeordnet sei, am Zugfahrzeug hänge und daher von diesem abhänge (vgl. BT-Drucks 19/17964 S. 17).

Höhere Gefahr durch Rückwärtsrangieren?

Anders als die Revision meine, steht der Annahme eines Regelfalls nach § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG im Streitfall nicht entgegen, dass sich im Rückwärtsrangieren etwa eine höhere Gefahr durch den Anhänger verwirklicht hätte. Zwar treffe es zu, dass das Gespann länger und unübersichtlicher sei als (nur) das Zugfahrzeug. Allerdings solle der in § 19 Abs. 4 Satz 2 StVG bestimmte Regelfall nach der gesetzlichen Regelung nur ausnahmsweise durchbrochen werden. Die Gesetzesbegründung führe als Beispiele an, dass „der Anhänger im Einzelfall aufgrund seiner außergewöhnlichen Beschaffenheit (Überlänge, Überbreite, Schwertransporter etc.) eine besondere Gefahr darstellt“ oder der verbundene Anhänger einen technischen Defekt aufweise (vgl. BT-Drucks 19/17964 S. 17; siehe weiter Bauer-Gerland VersR 2020, 146, 147; Stadler r+s 2021, 133, 137). Daher könne auch dahingestellt bleiben, ob – wie die Revision beiläufig ausführe – es sich beim Zugfahrzeug um einen Lkw und beim Anhänger um einen Auflieger gehandelt habe. Im Übrigen wäre nicht festgestellt, dass sich hier durch den Anhänger eine höhere Gefahr als durch das Zugfahrzeug allein auch tatsächlich verwirklicht hätte (§ 19 Abs. 4 Satz 3 StVG). Die Revision rüge nicht, dass Instanzvortrag übergangen worden sei.

III. Bedeutung für die Praxis

Zutreffend

M.E. ist die Abweisung der Klage vom BGH überzeugend begründet. Erfolg wird man in diesen Fällen, die aber in der Praxis nicht so häufig sein dürften, haben, wenn in der Instanz zur höheren Gefahr durch den Anhänger beim Rückwärtsrangieren vorgetragen wird. Das war hier nicht geschehen.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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