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Verjährungshemmung durch Anschluss an Musterfeststellungklage

1. Die Annahme grober Fahrlässigkeit (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB) setzt im Zusammenhang mit dem sogenannten Dieselskandal zumindest in einem ersten Schritt die Feststellung voraus, dass der geschädigte Fahrzeugerwerber von dem sogenannten Dieselskandal Kenntnis erlangt hat.

2. Die Hemmung der Verjährung gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1a BGB setzt lediglich voraus, dass die Musterfeststellungsklage selbst innerhalb der Verjährungsfrist erhoben wird. Dagegen kann die Anspruchsanmeldung zum Klageregister – im zeitlichen Rahmen des § 608 Abs. 1 ZPO – auch später erfolgen.

3. Die Berufung auf den Hemmungstatbestand des § 204 Abs. 1 Nr. 1a BGB verstößt nicht allein deshalb gegen Treu und Glauben, weil der Gläubiger seinen Anspruch ausschließlich zum Zweck der Verjährungshemmung zum Klageregister der Musterfeststellungsklage angemeldet hat.

BGH, Urt. v. 29.7.2021 – VI ZR 1118/20

I. Sachverhalt

Der Kläger erwarb im September 2013 einen gebrauchten VW Tiguan, der mit einem Dieselmotor vom Typ EA189 (EU5) ausgestattet ist. Der beklagte Fahrzeughersteller, die VW-AG, erklärte im September 2015 in einer Ad-hoc-Mitteilung, dass bei weltweit rund elf Millionen Fahrzeugen mit Motoren vom Typ EA189 auffällige Abweichungen zwischen den auf dem Prüfstand gemessenen Emissionswerten und denen im realen Fahrzeugbetrieb festgestellt worden seien. In der Folge trat die Beklagte wiederholt an die Öffentlichkeit; die Medien berichteten umfangreich über das Geschehen.

Mit seiner im Jahr 2019 eingereichten Klage verlangt der Kläger, nachdem er seine Ansprüche zuvor zum Klageregister der Musterfeststellungsklage an- und wieder abgemeldet hatte, Erstattung des für das Fahrzeug gezahlten Kaufpreises nebst Zinsen Zug um Zug gegen Zahlung von Wertersatz maximal in Höhe des erzielten Erlöses für das zwischenzeitlich weiterveräußerte Fahrzeug. Die Beklagte hat u.a. die Einrede der Verjährung erhoben.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG Naumburg hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen, weil die Ansprüche des Klägers verjährt seien. Mit der vom OLG zugelassenen Revision verfolgte der Kläger sein Schadensersatzbegehren weiter. Die Revision hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Der BGH hat das Urteil des OLG Naumburg aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.

Gemäß § 195 BGB betrage die regelmäßige Verjährungsfrist drei Jahre. Sie beginne gemäß § 199 Abs. 1 BGB mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB) und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Nach Auffassung des BGH lässt sich auf der Grundlage der bislang getroffenen Feststellungen dem Kläger keine – den Beginn der dreijährigen Verjährungsfrist im Jahr 2015 auslösende – grob fahrlässige Unkenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 BGB vorwerfen. Das OLG habe es versäumt festzustellen, ob der Kläger allgemein vom sogenannten Dieselskandal Kenntnis erlangt hatte. Eine solche Feststellung könne angesichts der umfangreichen Berichterstattung zwar nahe liegen, sei aber Sache des Tatrichters.

Der von der Beklagten erhobenen Einrede der Verjährung stehe – so der BGH – darüber hinaus eine Hemmung der Verjährung durch die Anmeldung des entsprechenden klägerischen Anspruchs zum Klageregister der Musterfeststellungsklage entgegen. Die Hemmungswirkung nach § 204 Abs. 1 Nr. 1a BGB trete im Falle eines wirksam angemeldeten Anspruchs grundsätzlich bereits mit Erhebung der Musterfeststellungsklage und nicht erst mit wirksamer Anmeldung des Anspruchs zu deren Register ein, auch wenn die Anspruchsanmeldung selbst erst im Jahr 2019 und damit nach Ablauf der ursprünglichen Verjährungsfrist erfolgt sein sollte. Dem Kläger sei es auch nicht allein deshalb nach Treu und Glauben verwehrt, sich auf diesen Hemmungstatbestand zu berufen, weil er seinen Anspruch ausschließlich zum Zweck der Verjährungshemmung zum Klageregister angemeldet hatte.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Zur groben Fahrlässigkeit wird das OLG nun feststellen müssen, dass der Kläger die Berichterstattung der VW-AG und des KBA wahrgenommen und damit allgemein vom sogenannten Dieselskandal Kenntnis erlangt hat. Dabei darf es nicht, worauf der BGH ausdrücklich hingewiesen hat, nur die Öffentlichkeitsarbeit der VW-AG und des KBA sowie die sich hieran anschließende umfangreiche Medienberichterstattung über den sog. Dieselskandal feststellen und daraus auf eine grob fahrlässige Unkenntnis des Klägers i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 BGB schließen. Dazu bedarf es in einem ersten Schritt noch der ergänzenden Feststellung. Ohne diesen Zwischenschritt knüpft nach Ansicht des BGH der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit letztlich an die unterbliebene Kenntnisnahme des Klägers von der Medienberichterstattung über den sog. Dieselskandal an. Damit würde aber das Unterlassen eines wenigstens gelegentlichen Nachrichten- und Medienkonsums zum Vorwurf gemacht. Dies ist/wäre aber nicht zulässig, denn niemand ist von Rechts wegen gehalten, im Verjährungsinteresse etwaiger deliktischer Schuldner generell die Medien zu verfolgen (vgl. Grothe in MüKo BGB, 8. Aufl., § 199 Rn 31).

2. Zur Hemmungswirkung nach § 204 Abs. 1 Nr. 1a BGB schließt sich der BGH der in Rechtsprechung und Literatur wohl überwiegenden Auffassung an, wonach lediglich erforderlich ist, dass die Musterfeststellungsklage selbst innerhalb der Verjährungsfrist erhoben wird, während die Anspruchsanmeldung zum Klageregister – im zeitlichen Rahmen des § 608 Abs. 1 ZPO – auch später erfolgen kann (ebenso OLG Brandenburg, Urt. v. 8.3.2021 – 1 U 56/20; OLG Karlsruhe, Urt. v. 31.3.2021 – 13 U 354/20, Justiz 2021, 158; OLG Naumburg, Urt. v. 1.4. 2020 – 12 U 198/19; OLG Schleswig, Urt. v. 16.7.2020 – 7 U 169/19; Augenhofer, VuR 2019, 83 ff.; Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, 2. Aufl., § 204 BGB Rn 2; Boese/Bleckwenn in Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, § 5 Rn 56 ff.; Rüsing, NJW 2020, 2588; Beckmann/Waßmuth, WM 2019, 89, 94 f.; Vollkommer in Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 608 Rn 5; Peters/Jacoby in: Staudinger, BGB, Stand 18.6.2020, § 204 Rn 48h; Meller-Hannich in BeckOGK BGB, Stand 1.6.2021, § 204 Rn 117; Lutz in: BeckOK ZPO, 40. Ed., § 608 Rn 18; Stadler in: Musielak/Voit, ZPO, 18. Aufl., § 608 Rn 1; Zieske/Meier, VersR 2020, 1504, 1509; Jaensch, jM 2020, 322, 324; Tolani, NJW 2019, 2751, 2753; Stadler, ZHR 2018, 623, 634; Heese, JZ 2019, 429, 435; Schmidt, WM 2018, 1966, 1970; a.A. OLG München, Beschl. v. 5.2.2020 – 3 U 7392/19; OLG Stuttgart, Urt. v. 7.4.2020 – 10 U 455/19 ff.; Menges in: MüKo ZPO, 6. Aufl., § 606 ZPO Rn 50 ff.; tendenziell auch Deiß/Graf/Salger, BB 2018, 2883 ff.). Diese Auslegung entspricht nach Auffassung des BGH in der Gesamtbetrachtung von Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und Zweck des § 204 Abs. 1 Nr. 1a BGB dem in der Norm zum Ausdruck kommenden objektivierten Willen des Gesetzgebers.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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