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Keine Ausnahme vom Verhüllungsverbot beim Tragen eines Niqab

1. Eine Muslima, die aus religiösen Gründen einen Niqab trägt, hat keinen Anspruch auf eine Ausnahme von dem am Steuer eines Kraftfahrzeugs geltenden Verhüllungsverbots (§ 23 Abs. 4 StVO).

2. Das Verhüllungsverbot des § 23 Abs. 4 StVO ist mit der Religionsfreiheit nach Art. 4 GG vereinbar. Autos bieten einen Schutzraum in der Öffentlichkeit, der den Zweck, dem der Niqab dienen soll, weitgehend erfüllt. Außerdem lässt § 46 Abs. 2 StVO Ausnahmen in Härtefällen zu.

3. Eine Vollverschleierung gefährdet die Verkehrssicherheit, weil Verkehrszuwiderhandlungen nicht mehr wirksam verfolgt werden können, weil er die Rundumsicht beeinträchtigen kann und die mimische Verständigung im Straßenverkehr einschränkt.

4. Zuständig für die Erteilung einer Ausnahme nach § 46 Abs. 2 StVO ist die Landesbehörde und nicht das Bundesverkehrsministerium, auch wenn die Ausnahme bundesweit gelten soll.

(Leitsätze des Gerichts)

VG Düsseldorf, Beschl. v. 26.11.2020 – 6 L 2150/20

I. Sachverhalt

Die Antragstellerin beantragte eine Ausnahme gem. § 46 Abs. 2 StVO vom Verhüllungsverbot des § 23 Abs. 4 StVO zum Tragen des „Niqab“ (Nikab) beim Führen eines Kraftfahrzeuges. Gegen den ablehnenden Bescheid hat sie sich mit der Klage gewendet. Den zugleich gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat das VG abgelehnt.

II. Entscheidung

Die Antragstellerin habe den Anordnungsanspruch nicht mit dem erforderlichen Grad an Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht. Anspruchsgrundlage für die Ausnahmegenehmigung zur Befreiung vom Verbot, beim Führen eines Kraftfahrzeugs einen Niqab zu tragen, sei § 46 Abs. 2 S. 1 StVO. Die formellen Genehmigungsvoraussetzungen seien erfüllt. Obwohl die Antragstellerin ausdrücklich beantragt hat, dass ihr die Ausnahme für die gesamte Bundesrepublik Deutschland und nicht nur für Nordrhein-Westfalen erteilt wird, sei nicht das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur zuständig. Dessen Zuständigkeit sei nicht nach § 46 Abs. 2 S. 3, 1. Hs. StVO gegeben (wird ausgeführt, Leitsatz 4). Die Antragstellerin habe allerdings nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass die materiellen Voraussetzungen einer Ausnahme nach § 46 Abs. 2 S. 1 StVO in ihrer Person vorliegen. Sie habe weder einen Anspruch auf Erteilung der Ausnahme noch darauf, dass ihr Antrag neu beschieden wird. Die Antragstellerin bedürfe einer Ausnahme, um mit angelegtem Niqab ein Kraftfahrzeug führen zu dürfen. Denn nach § 23 Abs. 4 S. 1 StVO gilt: Wer ein Kraftfahrzeug führt, darf sein Gesicht nicht so verhüllen oder verdecken, dass er nicht mehr erkennbar ist. Das Verhüllungsverbot verstoße aller Voraussicht nach nicht gegen den Wesentlichkeitsvorbehalt, nach dem der parlamentarische Gesetzgeber alle wesentlichen, insbesondere grundrechtsrelevanten Regelungen selbst treffen muss. Die Regelung des Verhüllungs- und Verdeckungsverbots in § 23 Abs. 4 S. 1 StVO bedürfe auch bei Berücksichtigung einer möglichen Beeinträchtigung der Religionsausübung keiner unmittelbaren Ausgestaltung durch den Parlamentsgesetzgeber. Die Verpflichtung führe zu keiner gezielten oder unmittelbar den Schutzbereich der Religionsfreiheit betreffenden Beschränkung. Sie stelle vielmehr eine generelle Anordnung dar, die nur in seltenen Fällen mit der Religionsfreiheit kollidieren kann. Auch in etwaigen Konfliktfällen sei die Intensität des Eingriffs in der Regel gering. Die Regelung stehe auch im Übrigen mit dem Grundgesetz im Einklang, weil der gegebenenfalls erforderlichen Berücksichtigung grundrechtlich geschützter Belange durch die Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung Rechnung getragen ist. Die Ausnahmesituation sei der Ausgangspunkt der Gesamtabwägung; liege sie bei einem gewichtenden Vergleich der Umstände des konkreten Falls mit dem typischen Regelfall nicht vor, sei also der Antragsteller in gleicher Weise von der verkehrsrechtlichen Vorschrift, von der er eine Ausnahme begehrt, betroffen wie alle anderen oder ein großer Teil der Verkehrsteilnehmer, so könne eine Ausnahmegenehmigung nicht erteilt werden, ohne dass es weiterer Abwägungen bedarf. In einem solchen Fall sei das Ermessen dahingehend auf Null reduziert, dass die Ausnahmegenehmigung ausscheidet.

Eine das Ermessen eröffnende Ausnahmesituation liege auch vor, wenn die Hinderung, eine Gesichtsverhüllung zu tragen, auf religiösen Gründen beruht. Die Regelung könne mittelbar die Religionsausübung beeinträchtigen. Ein Anspruch auf Befreiung vom Verbot, das Gesicht zu verhüllen oder zu verdecken, könne allenfalls dann bestehen, wenn der Betroffenen der Verzicht auf das Führen eines Kraftfahrzeugs aus besonderen individuellen Gründen nicht zugemutet werden kann. Bei der religiös begründeten Vollverschleierung vertrete zwar die Mehrheit der islamischen Theologen und Rechtsgelehrten die Ansicht, dass die Gesichtsverschleierung nicht als islamische Pflicht zu betrachten sei. Demgegenüber gebe es aber auch islamische Theologen und Rechtsgelehrte, die die Verschleierung des Gesichts als islamische Pflicht oder zumindest als empfehlenswert bezeichnen. Auch wenn man bei der Antragstellerin von einem zwingenden Glaubensimperativ ausgeht, habe sie nicht dargelegt, dass sie aus individuellen Gründen auf die Nutzung eines Kraftwagens angewiesen ist. Die Gründe, aus denen sie ein Kraftfahrzeug nutzen will, unterschieden sich nicht von dem Jedermann-Interesse an motorisierter Fortbewegung. Soweit sie anführt, dass sie keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen will, weil sie aufgrund ihrer tiefen Verschleierung Anfeindungen ausgesetzt ist, ändere das nichts.

Das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot sei auch mit Blick auf die durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte Religionsfreiheit gerechtfertigt und von der Antragstellerin aller Voraussicht nach hinzunehmen. Die Sicherheit des Straßenverkehrs liege als Gemeinschaftswert von Verfassungsrang dem Verhüllungs- und Verdeckungsverbot des § 23 Abs. 4 StVO zugrunde. Die Verkehrssicherheit werde vor allem durch überhöhte Geschwindigkeit, durch die Missachtung des Rotlichts sowie durch Verstöße gegen die einzuhaltenden Mindestabstände besonders intensiv gefährdet. Der Fahrer sei aber häufig dann nicht oder nur schwer zu ermitteln, wenn ein beim Verstoß erstelltes Lichtbild die Gesichtszüge des Fahrers nicht oder nur undeutlich erkennen lässt. Vielfach muss das repressive Sanktionsverfahren in solchen Fällen wegen Nichtermittelbarkeit des Fahrers eingestellt werden, was mittelbar zu einer Gefährdung der (künftigen) Verkehrssicherheit führt. Dieser Gefährdung wirke das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot des § 23 Abs. 4 StVO entgegen, indem es die Identifikation und damit die Verfolgbarkeit des Fahrers sichert. Das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot des § 23 Abs. 4 StVO diene weiterhin der Verkehrssicherheit, indem es die Beeinträchtigung der Rundumsicht des Fahrers verhindert, was durch Tragen eines Niqabs – anders als bei einem Kopftuch – beeinträchtigt ist. Die Trage- und Bindeweise eines Kopftuches sei individuell verschieden, variiere möglicherweise von Tag zu Tag. Im Übrigen führe es zu erheblichen Vollzugsschwierigkeiten und damit zu Verkehrsgefährdungen, wenn die Polizei in jedem Einzelfall prüfen müsste, ob die Rundumsicht gegeben ist. Das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot des § 23 Abs. 4 StVO diene schließlich der Verkehrssicherheit, indem es die nonverbale Kommunikation des Fahrzeugführers mit anderen Verkehrsteilnehmern sichert. Der von der Antragstellerin geltend gemachten Religionsfreiheit stünden damit andere, nicht grundsätzlich geringerwertige Verfassungspositionen entgegen. Dem Ausgleich dieser Interessen im Einzelfall diene das der zuständigen Straßenverkehrsbehörde in § 46 Abs. 2 S. 1 StVO eingeräumte Ermessen. Ein genereller Vorrang der Religionsfreiheit komme hier im Übrigen schon wegen des geringen Gewichts der in Rede stehenden Beschränkung und ihrer in zeitlicher und örtlicher Hinsicht begrenzten Wirkung nicht in Betracht.

III. Bedeutung für die Praxis

Der Beschluss schließt inhaltlich und argumentativ an die Entscheidungen zum Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen (BVerfG NJW 2017, 2333) und zur Motoradhelmpflicht für Turbanträger (BVerwGE 166, 125 = NJW 2019, 3466 = zfs 2019, 693) an. Das VG begründet hier überzeugend, dass die Religionsfreiheit nicht über allem steht, sondern besonders bei niederschwelligen Eingriffen wie hier auch auf Verordnungsebene zum Schutz anderer Rechtsgüter – hier: der Verkehrssicherheit – eingeschränkt werden kann (BVerfG zfs 2018, 230 zu einem vergleichbaren, abgelehnten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung). Es bleibt abzuwarten, was der Gang durch die Instanzen bis hin zum BVerfG bringen wird. Das Verhüllungsverbot des § 23 Abs. 4 StVO hat während der SARS-Cov-2-Pandemie beim Tragen von Masken beim Führen eines Kfz aktuell an Bedeutung gewonnen (näher Rebler/Müller NZV 2020, 273; Wilrich SVR 2020, 248).

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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