Beitrag

Grenzwert für Fremdschaden bei der Entziehung der Fahrerlaubnis

1. Ein bei einem Verkehrsunfall verursachter Nettoschaden für Reparaturkosten in Höhe von 1.500 EUR stellt keinen bedeutenden Schaden im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB dar, sodass eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis gem. § 111a StPO nicht indiziert ist.

2. Bei der Schadensbewertung sind die fortschreitende Entwicklung der Verbraucherpreise für Wartung und Reparatur sowie die allgemeine Einkommensentwicklung zu berücksichtigen. Die Wertgrenze des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB ist daher bei zumindest 1.800 EUR anzusetzen.

(Leitsätze des Gerichts)

AG Duisburg, Beschl. v. 27.10.2020 – 204 Gs 146/20

I. Sachverhalt

Das AG hat den Antrag der StA, dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis vorläufig zu entziehen, zurückgewiesen.

II. Entscheidung

Es seien keine dringenden Gründe für die Annahme vorhanden, dem Beschuldigten werde die Fahrerlaubnis nach § 69 StGB entzogen werden. Dabei könne derzeit offenbleiben, ob der Beschuldigte eines unerlaubten Entfernens vom Unfallort nach § 142 StGB dringend verdächtig ist. Jedenfalls fehle es derzeit an dringenden Anhaltspunkten für das Vorliegen eines bedeutenden, an fremden Sachen entstandenen Schadens und damit für das Vorliegen eines Regelbeispiels des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB. Bei der Prüfung der Frage, ob die Höhe des eingetretenen Fremdschadens i.S.d. § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB als bedeutend anzusehen ist, könnten nur solche Schadenspositionen herangezogen werden, die zivilrechtlich erstattungsfähig sind (OLG Hamm NZV 2011, 356 = VRR 2011, 309 [Burhoff]). Daher könne mangels Nachweises einer tatsächlich durchgeführten Reparatur nur auf den Nettoschaden abgestellt werden, der ausweislich einer Mitteilung des Geschädigten entgegen der anfänglichen polizeilichen Schätzung lediglich 1.500 EUR beträgt. Hierbei handele es sich indessen nicht um einen „bedeutenden“ Schaden im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB. Seit dem Jahre 2002 werde für die Frage, ob ein Sachschaden „bedeutend“ im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB ist, vielfach auf eine Wertgrenze von 1.300 EUR abgestellt (Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 69 Rn 29 m.w.N.). In neuerer Zeit würden jedoch verbreitet auch Wertgrenzen von 1.400 EUR oder 1.500 EUR, in einzelnen Fällen auch von 1.600 EUR oder 1.800 EUR für angemessen erachtet (ausführlich zur aktuellen Rechtsprechung: BayObLG DAR 2020, 268 = VRR 4/2020,17 = StRR 4/2020, 28 [Burhoff]).

Mit dem BayObLG sei das Gericht der Auffassung, dass bei der Bemessung der Wertgrenze nicht nur, aber eben auch auf den jährlich vom Statistischen Bundesamt berechneten und veröffentlichten Verbraucherpreisindex abgestellt werden kann; hiernach seien die Verbraucherpreise allein von 2002 bis 2018 um über 25 % gestiegen (zur Berechnung LG Hanau, Beschl. v. 26.3.2019 – 4b Qs 26/19, Rn 7, juris); hinzu komme die seit dem Jahre 2018 eingetretene Preissteigerung. Allein dies würde es rechtfertigen, aktuell eine Wertgrenze von mindestens 1.650 EUR anzunehmen. Zudem seien die Verbraucherpreise für die Wartung und Reparatur von Fahrzeugen allein den Jahren von 2010 bis 2016 um 11,6 % angestiegen. Auch im Bereich der Bergungs- und Abschleppkosten sei es zu deutlichen Preissteigerungen gekommen. So seien beispielsweise die Preise für ein Standard-Bergungsfahrzeug zum Abtransport von liegen gebliebenen Pkw bis 7,49 t zwischen den Jahren 2006 und 2016 um 35,5 % angestiegen (LG Nürnberg-Fürth DAR 2020, 217). Darüber hinaus dürfe auch die allgemeine Einkommensentwicklung nicht außer Acht gelassen werden; die Nettolöhne seien von 2002 bis 2019 (ohne Berücksichtigung der Inflation) um etwa 40 % gestiegen (Quelle: https://www.deutschlandinzahlen.de/tab/deutschland/volkswirtschaft/einkommen/einkommen-aus-lohn-und-gehalt-je-arbeitnehmer-und-monat).

Weiter sei bei der Festsetzung der Grenze des bedeutenden Schadens auch die Relation innerhalb der Regelbeispiele des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB zu berücksichtigen. Selbst Bagatellschäden wie Lackkratzer oder -abschürfungen erforderten aufgrund der heute üblichen Fahrzeugkonstruktionen erhebliche finanzielle Aufwendungen, etwa aufgrund der notwendigen Lackierungsarbeiten. Beträge von 1.000 bis 2.000 EUR würden bereits bei völlig alltäglichen und (jedenfalls äußerlich) minimalen Schäden fällig. Solche Schäden jedoch seien mit der Tötung oder nicht unerheblichen Verletzung eines Menschen, für die § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB ebenfalls regelmäßig eine Entziehung der Fahrerlaubnis vorsieht, nicht einmal ansatzweise zu vergleichen; es erscheine unangemessen, die Tötung oder erhebliche Verletzung eines Menschen auf eine Stufe mit solchen Bagatellschäden zu setzen. Nach alledem tendiere das Gericht dazu, die Wertgrenze des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB nicht nur bei 1.650 EUR, sondern sogar bei (zumindest) 1.800 EUR anzusetzen. Das bedürfe jedoch hier wegen des Schadensbetrag von (nur) 1.500 EUR hier keiner Entscheidung.

III. Bedeutung für die Praxis

Ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass Amtsrichter den Obergerichten an Durch- und Weitblick auch mal voraus sein können. Seit bald 20 Jahren beharrt die obergerichtliche Rechtsprechung trotz der seitdem deutlichen Preissteigerungen auf dem Grenzwert von 1.300 EUR beim Regelfall des bedeutenden Fremdschadens für die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB (Nw. bei BayObLG a.a.O.). Das LG Nürnberg-Fürth DAR 2020, 217 hat jüngst den Grenzwert auf 2.500 EUR netto festgesetzt. Das AG Duisburg tendiert hier jedenfalls zu einem Grenzwert von zumindest 1.800 EUR. Dessen eingehenden und mit statistischem Zahlenmaterial belegten Begründung ist nichts hinzuzufügen außer der Hoffnung, dass die Obergerichte sich dem endlich bald anschließen. Viel Anlass zu dieser Hoffnung gibt die aktuelle Rechtsprechung allerdings leider nicht (BayObLG a.a.O.; OLG Stuttgart VRR 8/2018,11 = StRR 9/2018, 22 [Burhoff]). Besonders der treffende Vergleich mit den anderen Fallkonstellationen des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB sollte hier ein Umdenken aber erleichtern.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…