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Einsichtsrecht in gesamte Messreihe

1. Dem Betroffenen steht auf der Grundlage der Entscheidung BVerfG NJW 2021, 455 ein Recht auf Einsicht in die gesamte Messreihe zu.

2. Dieses Recht muss frühzeitig gegenüber der Verwaltungsbehörde geltend gemacht und bei Verweigerung der Einsicht im Wege des Antrags nach § 62 OWiG verfolgt werden.

OLG Stuttgart, Beschl. v. 3.8.2021 – 4 Rb 12 Ss 1094/20

I. Sachverhalt

Das AG hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Mit seiner Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene Folgendes: Nach Erlass des Bußgeldbescheids beantragte seine Verteidigerin vor der Verwaltungsbehörde u.a. die Einsicht in die digitalen Falldatensätze der gesamten Messreihe. Nach Ablehnung dieses Antrags verfolgte dieses Begehr mit einem Antrag gem. § 62 Abs. 1 OWiG. Das AG wies den Antrag als unbegründet ab. Nach Bestimmung des Termins zur Hauptverhandlung beantragte die Verteidigerin gegenüber dem AG die Einsicht in die fehlenden Unterlagen. Gegen die Ablehnung legte sie Beschwerde ein, die das LG verwarf. In der Hauptverhandlung beantragte die Verteidigung erneut, die digitalen Falldatensätze der gesamten Messreihe mit Statistikdateien und Case-Lists durch die Verwaltungsbehörde zur Verfügung stellen zu lassen und die Hauptverhandlung auszusetzen. Das AG wies dies durch Beschluss zurück. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen war erfolgreich.

II. Entscheidung

Die Rüge der Verletzung des fairen Verfahrens sei erfolgreich. Die nicht gewährte Einsichtmöglichkeit in die nicht bei den Akten befindliche gesamte Messreihe des Messtages, an dem fraglichen Messort durch das AG ist basierend auf der Rechtsprechung des BVerfG mit dem Recht auf ein faires Verfahren nicht vereinbar (NJW 2021, 455; OLG Karlsruhe NZV 2019, 368 m. Anm. Krenberger = DAR 2019, 582 m. Anm. Gratz = VRR 8/2019, 15 [Deutscher]; OLG Jena VRS 140, 33 = VRR 5/2021, 19 [Niehaus] = NZV 2021, 331 [Krenberger]). Das AG habe zu Unrecht den Antrag des Betroffenen auf Aussetzung der Hauptverhandlung und Verpflichtung der Verwaltungsbehörde zur Verfügungsstellung der Daten der gesamten Messreihe, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt, durch Beschluss in der Hauptverhandlung zurückgewiesen und damit die Verteidigung unzulässig gem. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO beschränkt. Der Betroffene sei durch die Vorenthaltung der mit seiner verfahrensgegenständlichen Messung in Zusammenhang stehenden Messreihe in seinem Recht auf eine faire Verfahrensgestaltung (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt worden. Aus diesem Recht ergebe sich für den Betroffenen ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen zu dem ihn betreffenden Messvorgang. Der Betroffene eines Bußgeldverfahrens könne gegenüber der Verwaltungsbehörde auch ohne Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für Messfehler verlangen, Einsicht in bei ihr existierende weitere Unterlagen zur eigenen Überprüfung der Messung zu erhalten, da er ohne diese nicht beurteilen kann, ob – gerade im standardisierten Messverfahren – Beweisanträge zu stellen sind. Dass nach Auffassung der Physikalisch-Technischen-Prüfbehörde der Erkenntniswert durch die Statistikdatei, die gesamte Messreihe sowie die Annullationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung gering sei, (vgl. https://www.ptb.de/cms/fileadmin/internet/fachabteilungen/abteilung_1/1.3_kinematik/1.31/downloads/PTB_Stellungnahme_Statistikdatei_DOI.pdf), treffe in dieser Allgemeinheit nicht zu, da bestimmte Auffälligkeiten der Messungen für einen Betroffenen bzw. den von diesem beauftragten Sachverständigen nur bei Betrachtung aller Aufnahmen und Daten ermittelbar seien (Cierniak, zfs 2012, 664, 772). Im Übrigen unterliege es allein der Einschätzung des Betroffenen und seiner Verteidigung, ob bestimmte Informationen für seine Recherchen von Bedeutung sein könnten.

Soweit Bedenken bestehen, dass bei einer Einsicht in die gesamte Messreihe des Messtages Daten Dritter betroffen sind, könne dem durch eine Anonymisierung der Daten Rechnung getragen werden. Außerdem würden diese Messdaten lediglich an den Verteidiger als Organ der Rechtspflege sowie einen von diesem beauftragten Sachverständigen herausgegeben und damit datenschutzrechtliche Bedenken weiter verringert, da zu erwarten sei, dass die diesen übermittelten Daten nicht an Dritte weitergegeben werden. Daher müsse bei dieser Verfahrensweise das Interesse der in den Falldateien der Messreihe erfassten weiteren Verkehrsteilnehmer, gegenüber dem aus dem fair-trial-Anspruch begründeten Einsichtsrecht des Betroffenen zurückstehen (OLG Karlsruhe, OLG Jena a.a.O.). Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass lediglich Foto und Kennzeichen, nicht aber die Fahrer- oder Halteranschrift der anderen Verkehrsteilnehmer übermittelt werden. Dabei erstrecke sich das Zugangsrecht nicht lediglich auf Einsicht in die Unterlagen in den Räumen der Dienststelle des Messbeamten. Ein diesbezüglicher Informationszugang könne z.B. durch Kopie der entsprechenden Daten auf einen von dem Betroffenen bzw. seiner Verteidigung zur Verfügung gestellten Datenträger erfolgen.

Zwar könne ein Betroffener mit der Rüge unzulässiger Informationsbeschränkung im gerichtlichen Verfahren nur durchdringen, sofern er den Zugang zu nicht zur Akte genommener Unterlagen schon frühzeitig im Bußgeldverfahren beantragt und im Verfahren nach § 62 Abs. 1 OWiG weiter verfolgt hat (BVerfG und OLG Karlsruhe a.a.O.; Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 541, 544), dies sei vorliegend durch den Betroffenen und seine Verteidigerin auch geschehen.

Eine Vorlage an den BGH gem. § 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG sei nicht veranlasst, da der Senat in Bezug auf die Rechtsfrage nicht von der Entscheidung eines anderen OLG oder des BGH abweicht. Soweit in der obergerichtliehen Rechtsprechung ein aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens abzuleitender Anspruch auf Einsicht in jegliche, nicht in den Akten befindliche Unterlagen abgelehnt wurde, seien diese Entscheidungen vor dem Beschluss des BVerfG a.a.O. ergangen.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Der Beschluss überrascht. Nicht sein Inhalt, dem im Anschluss an die Entscheidungen des OLG Karlsruhe und des OLG Jena uneingeschränkt beizupflichten ist. Zwar hat sich das BVerfG (NJW 2021, 455 m. Anm. Ropertz = NZV 2021, 41 m. Anm. Krenberger = DAR 2021, 75 m. Anm. Kroll; Bespr. Niehaus VRR 1/2021, 4; Sandherr, DAR 2021, 69; Niehaus, DAR 2021, 377) zur Einsicht in die gesamte Messreihe nicht geäußert und als Grenze für das Einsichtsrecht auf schützenswerte Interessen Dritter hingewiesen. Diese können jedoch durch die vom OLG Stuttgart genannten Maßnahmen hinreichend gewahrt werden (vgl. jüngst BVerfG DAR 2021, 385 m. Anm. Gratz = zfs 2021, 348). Vielmehr ist der Beschluss als solcher überraschend. Das OLG Zweibrücken verneint ein Einsichtsrecht in die gesamte Messreihe, wenn eine Relevanz der betreffenden Daten für die Beurteilung der Zuverlässigkeit des verfahrensgegenständlichen Messvorgangs und damit für die Verteidigung des Betroffenen nicht erkennbar ist. Es hat daher mit Beschl. v. 4.5.2021 (also ca. drei Monate vor dem Beschluss des OLG Stuttgart) wegen der Divergenz zur Entscheidung des OLG Jena die Sache dem BGH gem. § 121 Abs. 2 GVG vorgelegt (DAR 2021, 399 = zfs 2021, 349 = VRR 7/2021, 22 [Niehaus]). Es hätte also nahegelegen, die Entscheidung des BGH abzuwarten. Gleichwohl wird diese Vorlage in dem Beschluss selbst im Zusammenhang mit der Möglichkeit einer eigenen Vorlage nicht einmal erwähnt. Ob das OLG das wohl übersehen hat? Man weiß es nicht.

2. Zu allem auch noch BVerFG VRR 9/2021, 18 (in diesem Heft) und VRR 1/2021, 4 ff.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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