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Einsicht in Messunterlagen und Recht auf ein faires Verfahren

1. Im Fall der Verweigerung der Einsicht in Messunterlagen liegt ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren nur vor, wenn sich der Betroffene rechtzeitig um die begehrten Unterlagen bemüht hat.

2. Eine erstmalige Geltendmachung des Anspruchs auf Zurverfügungstellung von Messunterlagen in der Hauptverhandlung ist regelmäßig verspätet.

(Leitsätze des Verfassers)

OLG Brandenburg, Beschl. v. 19.2.2021 – 1 OLG 53 Ss-OWi 684/20

I. Sachverhalt

Das AG hat den Betroffenen wegen vorsätzlicher Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften zu einer Geldbuße von 390 EUR verurteilt und ein Fahrverbot von einem Monat angeordnet. In der Hauptverhandlung vor dem AG hat der Betroffene einen Antrag auf „Überlassung von Falldatensätzen, Rohmessdaten und Statistikdatei“ gestellt. Gegen das Urteil des AG hat der Betroffene Rechtsbeschwerde eingelegt. Diese hat er u.a. mit der Verfahrensrüge begründet und dazu eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und auf ein faires Verfahren gerügt. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hatte keinen Erfolg.

II. Entscheidung

Nach dem Beschl. des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 (VRR 1/2021, 4) hat der Betroffene einen aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) hergeleiteten Anspruch auf Zurverfügungstellung bzw. Einsicht auch in nicht bei den Akten befindliche Messunterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt. Denn um konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Messung vortragen zu können – wie in den Fällen der Verwendung standardisierter Messverfahren erforderlich –, muss der Betroffene die Möglichkeit haben, Kenntnis auch von solchen Inhalten zu nehmen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden.

Das Recht des Betroffenen auf Zugang zu den Informationen besteht vom Beginn bis zum Abschluss des Verfahrens (vgl. BVerfGE 63, 45, 67 – sog. Spurenaktenentscheidung). Die Rechtsprechungspraxis zum standardisierten Messverfahren und die Ablehnungsmöglichkeiten nach § 77 Abs. 2 OWiG begrenzen aber die Möglichkeiten der Geltendmachung der Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses in zeitlicher Hinsicht. Der Betroffene kann sich insoweit nur erfolgreich verteidigen, wenn er den Zugang zu weiteren Informationen rechtzeitig im Bußgeldverfahren begehrt, was von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist (BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, Rn 60 a.E.).

Im vorliegenden Fall hat der Betroffene erstmals in der Hauptverhandlung am 7.10.2020 einen Antrag auf erweiterte Akteneinsicht gestellt, obwohl er hierzu nach Zustellung des Bußgeldbescheides vom 18.8.2019 weit über ein Jahr Zeit gehabt hatte; von einer „rechtzeitigen“ (BVerfG a.a.O.) Geltendmachung des Zugangsrechts von nicht bei den Verfahrensakten befindlichen Messdaten bzw. der Geltendmachung eines erweiterten Akteneinsichtsrechts kann daher keine Rede sein.

III. Bedeutung für die Praxis

Dass die Rechtsbeschwerde des Betroffenen keinen Erfolg hat, wenn er erstmals in der Hauptverhandlung einen Antrag auf Einsichtnahme in die Messunterlagen stellt, darf als allgemein anerkannt gelten (vgl. zuletzt auch KG, Beschl. v. 7.1.2021 – 3 Ws (B) 314/20) und ist daher von der Verteidigung zu beachten. Unabhängig versteht sich eine juristisch tragfähige Begründung für dieses Ergebnis nicht von selbst, angesichts des auch vom OLG benannten Grundsatzes, dass das Einsichtsrecht vom Beginn des Verfahrens bis zu seinem Ende besteht. Der zutreffende Ansatz dürfte hier in der die tatrichterliche Hauptverhandlung in Bußgeldsachen betreffenden normativen Vorbewertung in den §§ 77 (insbes. Abs. 2 Nr. 2), 77a OWiG oder in dem gerade auf die Gesamtheit des Verfahrens abhebenden Fairnessgrundsatz liegen (Cierniak/Niehaus DAR 2018, 541, 544 m.w.N.).

Der Fall zeigt erneut auf, dass die Verteidigung ihr Vorbringen im Rahmen einer später ggf. erforderlich werdenden Rechtsbeschwerde sorgfältig vorbereiten muss, um den Verstoß gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren erfolgversprechend geltend zu machen (vgl. ausführlich Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 248). Insbesondere muss im Ermittlungsverfahren (ggf. wiederholt) ein Antrag auf Zurverfügungstellung der Messunterlagen gestellt werden. Wird dieser abgelehnt, muss dagegen mit dem statthaften Rechtsbehelf vorgegangen werden (vgl. § 62 OWiG, Antrag auf gerichtliche Entscheidung). Befindet sich das Verfahren bereits beim AG und lehnt dieses die Einsichtnahme ab, so kommt (trotz § 305 S. 1 StPO) die Einlegung einer Beschwerde in Betracht (vgl. zuletzt etwa LG Bielefeld, Beschl. v. 25.8.2020 – 10 Qs 278/20). In der Hauptverhandlung muss die Verteidigung den Einsichtsantrag wiederholen und zugleich die Aussetzung der Hauptverhandlung mit Blick auf die bisher nicht (ausreichend) gewährte Einsicht in die Messunterlagen beantragen. Gegen die Ablehnung dieses Antrags muss die gerichtliche Entscheidung nach § 238 Abs. 2 StPO beantragt werden. Mit Blick auf den daraufhin ergehenden Beschluss kann sodann im Rechtsbeschwerdeverfahren die unzulässige Beschränkung der Verteidigung nach § 338 Nr. 8 StPO, § 79 Abs. 3 OWiG gerügt werden. Zum Teil verlangen die OLG – sehr weitgehend – darüber hinaus sogar, dass der Betroffene sich nach dem Urteil (innerhalb der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist) weiterhin um die Einsichtnahme bemüht hat. Entspricht die Verteidigung diesen Anforderungen, dann hat die Rechtsbeschwerde im Fall der Verweigerung der Einsichtnahme auch Erfolg, wie jüngste Entscheidungen der Obergerichte nach dem Beschluss des BVerfG zeigen (vgl. BayObLG DAR 2021, 104 = VRR 1/2021, 14; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 7.1.2021 – 1 OWi 2 SsBs 98/20).

Die Anerkennung des Einsichtsrechts des Betroffenen auch in nicht bei der Akte befindliche Messunterlagen führt nicht automatisch zum Erfolg der Verteidigung beim Amtsgericht oder in der Rechtsbeschwerdeinstanz. Das Einsichtsrecht muss vielmehr u.a. rechtzeitig geltend gemacht werden.

RiLG Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

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