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Beinaheunfall

Zu den Anforderungen für die Annahme eines sog. Beinaheunfalls.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 6.7.2021 – 4 StR 155/21

I. Sachverhalt

Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c StGB) verurteilt. Nach den Feststellungen führte der Angeklagte das von ihm am Vortag entwendete Kraftfahrzeug im Straßenverkehr, wobei er wusste, dass er nicht im Besitz der hierfür erforderlichen Fahrerlaubnis war. Er bemerkte, dass Polizeibeamte in einem Streifenfahrzeug auf ihn aufmerksam geworden waren, und fuhr davon. Auf der anschließenden Fluchtfahrt geriet der Angeklagte bei einem Abbiegevorgang ins Schleudern und kollidierte mit einem abgestellten Kraftfahrzeug, an dem bei einem Wiederbeschaffungswert von 7.900 EUR ein Totalschaden entstand. Durch den Zusammenprall verlangsamte der Angeklagte seine Fahrt zunächst, setzte sie sodann aber fort, um sich der Kontrolle durch die ihn weiterhin verfolgenden Polizeibeamten zu entziehen. Im Verlauf der weiteren Fluchtfahrt überquerte er eine Kreuzung, ohne auf den bevorrechtigten Querverkehr zu achten; dabei nahm er einem von links kommenden schwarzen Pkw die Vorfahrt. Eine Kollision konnte nur „durch das starke Abbremsen bis zum Stillstand des schwarzen Pkw“ verhindert werden. Die Revision des Angeklagten hatte insoweit Erfolg.

II. Entscheidung

Nach Ansicht des BGH kann die Verurteilung wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs nicht bestehen bleiben. Die Feststellungen belegen – so der BGH – nicht die gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2a StGB in objektiver Hinsicht erforderliche Herbeiführung einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen oder einer fremden Sache von bedeutendem Wert. § 315c Abs. 1 StGB setze in allen Tatvarianten eine konkrete Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert voraus. Dies sei nach gefestigter Rechtsprechung der Fall, wenn die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der – was nach allgemeiner Lebenserfahrung aufgrund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen sei – die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt wurde, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (st. Rspr.; vgl. nur BGH NStZ-RR 2021, 187, 188 m.w.N; NStZ 2019, 346, NStZ 2020, 225, NZV 2014, 184, 185). Erforderlich sei die Feststellung eines „Beinahe-Unfalls“, also eines Geschehens, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, „das sei noch einmal gut gegangen“ (vgl. u.a. BGH NStZ-RR 2012, 252). Für die Annahme einer konkreten Gefahr genüge es daher nicht, dass sich Menschen oder Sachen in enger räumlicher Nähe zum Täterfahrzeug befunden haben. Umgekehrt werde die Annahme einer Gefahr aber auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein Schaden ausgeblieben ist, weil sich der Gefährdete – etwa aufgrund überdurchschnittlich guter Reaktion – noch zu retten vermochte (BGH NStZ-RR 2021, 187, 188).

Gemessen hieran fehle es an Feststellungen, die einen „Beinahe-Unfall“ in diesem Sinne belegen. Die Urteilsgründe seien auf die Wiedergabe der tatgerichtlichen Wertung beschränkt, dass eine Kollision mit dem vorfahrtsberechtigten schwarzen Kraftfahrzeug nur durch „das starke Abbremsen bis zum Stillstand“ habe vermieden werden können.

III. Bedeutung für die Praxis

Die Anforderungen des BGH an die Feststellungen zum sog. Beinaheunfall sind hoch. Die strengen Voraussetzungen werden von den Instanzgerichten häufig nicht beachtet, was dann immer wieder zu Aufhebungen durch die Revisionsgerichte führt. Beanstandet hat der BGH hier das Fehlen von Feststellungen zu den gefahrenen Geschwindigkeiten beider Kraftfahrzeuge, zu ihren Abständen und zur Intensität der zur Vermeidung einer Kollision vorgenommenen Bremsung durch den Fahrer des schwarzen Kraftfahrzeugs.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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