Dem wegen Abwesenheit des verhinderten Pflichtverteidigers (nur) für einen Hauptverhandlungstermin beigeordneten Verteidiger steht als Vergütung für seine Tätigkeit nicht nur die Terminsgebühr, sondern darüber hinaus auch die Grund- und ggf. eine Verfahrensgebühr zu.
(Leitsatz des Verfassers)
I. Sachverhalt
Beiordnung „für den heutigen Hauptverhandlungstag“
In Strafverfahren gegen den Verurteilten hat der Strafrichter mit Einverständnis des Verurteilten den in unmittelbarer Nähe des AG kanzleiansässigen Rechtsanwalt R2 für den Hauptverhandlungstag am 26.4.2022 als Pflichtverteidiger beigeordnet, nachdem der für das Verfahren bereits beigeordnete Pflichtverteidiger R1 für diesen Tag seine Verhinderung angezeigt hatte. Gemäß Protokoll vom 26.4.2022 lautete der Beschluss dazu wie folgt: „Dem Angeklagten wird für den heutigen Hauptverhandlungstag Rechtsanwalt R2 aus … als notwendiger Verteidiger beigeordnet.“ Im Anschluss daran – die Beweisaufnahme war bereits im Hauptverhandlungstermin am 21.4.2022 geschlossen worden – wurden die Schlussanträge gestellt und dem Angeklagten wurde das letzte Wort erteilt. Sodann wurde das Urteil verkündet. Rechtsanwalt R3 hat dann gegen das Urteil ein unbestimmtes Rechtsmittel eingelegt, ist aber im anschließenden Berufungsverfahren nicht als Verteidiger des Angeklagten aufgetreten.
Kampf des Pflichtverteidigers um Grund-, Verfahrens- und Terminsgebühr
Rechtsanwalt R2 hat am 29.4.2022 die Festsetzung seiner gesetzlichen Gebühren beantragt. Er hat die Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG, die Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG und die Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG nebst Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG und USt geltend gemacht. Die Kostenbeamtin des AG hat am 2.6.2022 nur die Terminsgebühr festgesetzt und das damit begründet, dass „nur ein Pflichtverteidigermandat abzurechnen“ sei, Rechtsanwalt R2 hingegen „nur für den Termin am 26.4.2022 bestellt“ worden sei. Der Erinnerung hat sie nicht abgeholfen. Das AG hat diese am 8.12.2023 als unbegründet verworfen. Auf das Rechtsmittel des Rechtsanwalts R2 hat der Einzelrichter der Strafkammer die Sache gemäß § 56 Abs. 2 S. 1 RVG i.V.m. § 33 Abs. 8 S. 2 RVG der Kammer zur Entscheidung übertragen. Diese hat den AG-Beschluss aufgehoben und die Gebühren antragsgemäß festgesetzt. Gegen diesen Festsetzungsbeschluss hat nun der Bezirksrevisor die zugelassene weitere Beschwerde eingelegt, mit welcher er beantragt, die Vergütung des Rechtsanwalts R2 unter Wegfall der Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG festzusetzen. Das Rechtsmittel hatte beim OLG keinen Erfolg.
II. Entscheidung
Terminsvertreter verdient alle Gebühren
Nach Auffassung des OLG ist die Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG neben der Terminsgebühr Nr. 4106 VV RVG und der Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG für den Pflichtverteidiger Rechtsanwalt R2 angefallen.
Grundgebühr und Terminsgebühr
Es sei in Rechtsprechung und Literatur umstritten, ob der wegen Abwesenheit des verhinderten Pflichtverteidigers (nur) für einen Hauptverhandlungstermin beigeordnete Verteidiger als Vergütung für seine Tätigkeit nur die Terminsgebühr erhält oder ob ihm darüber hinaus auch eine Grund- und ggf. eine Verfahrensgebühr zusteht (vgl. die Nachweise zum Streitstand bei OLG Karlsruhe, Beschl. v. 9.2.2023 – 2 Ws 13/23, AGS 2023, 164 = NStZ-RR 2023, 159 = JurBüro 2023, 195; Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, 26. Aufl. 2023, VV 4100, 4101 Rn 5; BeckOK-RVG/Knaudt, 67. Ed., Stand 1.3.2025, RVG VV Vorbemerkung Rn 19–22). Dass der auf diese Weise beigeordnete Pflichtverteidiger ausschließlich einen Anspruch auf die Terminsgebühr haben soll, haben u.a. das KG (KG, Beschl. v. 18.2.2011 – 1 Ws 38/09, NStZ-RR 2011, 295), das OLG Celle (Beschl. v. 19.9.2018 – 3 Ws 221/18; Beschl. v. 19.12.2008 – 2 Ws 365/08, NStZ-RR 2009, 158) und das OLG Stuttgart (Beschl. v. 23.1.2023 – 4 Ws 13/23, AGS 2023, 162 = JurBüro 2023, 251) entschieden. Nach der gegenteiligen Rechtsauffassung in Rechtsprechung und Literatur beschränke sich der Vergütungsanspruch des Verteidigers, der anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers für einen Hauptverhandlungstermin als Verteidiger des Angeklagten bestellt worden sei, nicht auf die Terminsgebühren, sondern umfasse alle durch die anwaltliche Tätigkeit im Einzelfall verwirklichten Gebührentatbestände des Teils 4 Abschnitt 1 VV RVG (ausf. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 9.2.2023 – 2 Ws 13/23, AGS 2023, 164 = NStZ-RR 2023, 159 = JurBüro 2023, 195; ebenso OLG Jena, Beschl. v. 14.4.2021 – (S) AR 62/20; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 29.10.2008 – 1 Ws 318/08; OLG Hamm, Beschl. v. 23.3.2006 – 3 Ws 586/05; OLG Köln, Beschl. v. 26.3.2010 – 2 Ws 129/10; OLG Bamberg NStZ-RR 2011, 223; OLG München AGS 2014, 174 = StRR 2014, 271 = Rpfleger 2014, 445; OLG Nürnberg NStZ-RR 2015, 95; OLG Saarbrücken NJOZ 2015, 1166). Der Senat habe sich dieser – inzwischen wohl überwiegenden – Auffassung, an der er auch weiterhin festhält, bereits mit Beschluss vom 26.2.2024 (1 Ws 13/24 (S), AGS 2024, 171), ausdrücklich angeschlossen. Danach stehe dem Beschwerdegegner neben der Terminsgebühr zunächst die Grundgebühr für das erstmalige Einarbeiten in den Rechtsfall zu.
Verfahrensgebühr
Vorliegend sei aber auch die Verfahrensgebühr für das erstinstanzliche Verfahren nach Nr. 4106 VV RVG angefallen. Die Verfahrensgebühr honoriere das allgemeine Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information. Durch sie werde als Dauergebühr die gesamte Tätigkeit des Rechtsanwalts in dem jeweiligen Verfahrensabschnitt abgegolten. Dazu gehöre u.a. auch die Einlegung eines Rechtsmittels beim iudex a quo (vgl. BeckOK-RVG/Knaudt, RVG VV 4106 Rn 7, 8). Mit der vorsorglichen und fristwahrenden Einlegung des „unbestimmten Rechtsmittels“ beim AG habe der Antragsteller und Beschwerdeführer somit eine den Gebührentatbestand nach Nr. 4106 VV RVG auslösende Tätigkeit erbracht. Dem stehe auch nicht seine Beiordnung für lediglich einen Tag der Hauptverhandlung entgegen, da diese Tätigkeit nicht als Einzeltätigkeit i.S.v. Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG anzusehen sei, sondern der „Terminsvertreter“ als „voller Vertreter“ i.S.v. Vorb. 4 Abschnitt 1 VV RVG handele (Ahlmann/Kapischke/Pankatz/Rech/Schneider/Schütz, RVG, 11. Aufl. 2024, VV Vorb. 4 Rn 46 m.w.N.). Diese Tätigkeit umfasse auch die mit dem Verfahren zusammenhängenden Tätigkeiten wie die Einlegung von Rechtsmitteln gemäß § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 10 RVG, zumal Rechtsanwalt R2 vorgetragen habe, der dem Angeklagten beigeordnete Pflichtverteidiger R1 sei über die Rechtsmittelfrist hinaus weiterhin erkrankt gewesen. Auch die bereits entstandene Grundgebühr schließe das Anfallen der Verfahrensgebühr nicht aus. Die in Rechtsprechung und Literatur umstrittene Frage, ob die Verfahrensgebühr grundsätzlich neben der Grundgebühr entstehen könne, habe das 2. KostRMoG vom 23.7.2013 (BGBl 2013 I, S. 2586) durch die Einführung der Klarstellung in VV 4100 VV RVG „neben der Verfahrensgebühr“ beantwortet (vgl. Ahlmann/Kapischke/Pankatz/Rech/Schneider/Schütz, RVG, a.a.O., Vorb. 4 Rn 52; BeckOK-RVG/Knaudt, a.a.O., RVG VV 4106 Rn 10, 11; Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, VV Vorb. 4 Rn11; Toussaint/Felix, Kostenrecht, 54. Aufl. 2024, RVG VV 4100 Rn 2).
III. Bedeutung für die Praxis
Bestätigung von LG Neuruppin AGS 2024, 224
Die Entscheidung ist zutreffend. Das OLG bestätigt damit den Beschluss des LG Neuruppin vom 25.3.2024 – 11 Qs 76/23, den wir in AGS 2024, 224 vorgestellt haben. Wegen der Einzelheiten wird auf die Anmerkung zur Beschwerdeentscheidung des LG Neuruppin verwiesen und auf die o.a. angeführten Entscheidungen. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Kritik
Allerdings sind zwei Punkte betreffend die OLG-Entscheidung zu kritisieren.
Verhältnis Grundgebühr/Verfahrensgebühr
Das OLG gewährt in seinem Beschluss vom 22.4.2025 dem Terminsvertreter auch die Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG; in dem in Bezug genommenen Beschluss des OLG Brandenburg vom 26.2.2024 (1 Ws 13/24 (S), AGS 2024, 171) hatte es diese hingegen nicht festgesetzt. Ich hatte bereits in der Anmerkung zu dem Beschluss des OLG darauf hingewiesen, dass die Ansicht des OLG zum Entstehen der Verfahrensgebühr (vgl. Vorbem. 4 Abs. 2 VV RVG) nicht zutreffend ist und das OLG das Zusammenspiel zwischen der Grundgebühr und der Verfahrensgebühr verkennt. Denn eine Verfahrensgebühr, hier die Nr. 4108 VV RVG ist – unabhängig von der vom OLG hier für das Entstehen der Gebühr gegebenen Begründung – auf jeden Fall immer entstanden. Das OLG übersieht nämlich, dass nach den Änderungen durch das 2. KostRMoG, auf die es ja ausdrücklich hinweist, Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und jeweilige Verfahrensgebühr immer nebeneinander entstehen (vgl. zur Grundgebühr und zu den Einzelheiten der Änderungen Burhoff, AGS 2022, 433 m.w.N.). Dabei kommt es auf den Umfang der jeweiligen Tätigkeit beim Pflichtverteidiger, mit dem wir es hier zu tun haben, nicht an. Denn er erhält unabhängig vom Umfang der von ihm erbrachten Tätigkeiten Festgebühren, die mit Erbringung der ersten Tätigkeit für den Mandanten entstehen. Und das OLG irrt bzw. wählt den falschen Ansatz, wenn es für die Frage des Entstehens der Verfahrensgebühr Nr. 4108 VV RVG allein darauf abstellt, dass der Rechtsanwalt für den Angeklagten das unbestimmte Rechtsmittel eingelegt hat. Zwar ist es richtig, dass die Einlegung eines Rechtsmittels nach § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 10 RVG durch die Verfahrensgebühr der ersten Instanz abgegolten wird. Die Verfahrensgebühr ist aber nicht erst durch die Rechtsmitteleinlegung entstanden, sondern bereits durch die erste von Rechtsanwalt R 3 für den Mandanten erbrachte Tätigkeit. Grundgebühr und Verfahrensgebühr stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern die Grundgebühr erweitert den Rahmen der Verfahrensgebühr. Ausreichend für das Entstehen sind ein Gespräch mit dem Gerichtsvorsitzenden beim AG über die Übernahme der Vertretung im Termin, ein Gespräch mit dem Mandanten, das im Zweifel vor dem Hauptverhandlungstermin geführt worden ist, usw. Dass es sich dabei um nur geringe Tätigkeiten handelt, ist wegen des Festgebührencharakters der Pflichtverteidigergebühren ohne Bedeutung. Daher war die Verfahrensgebühr Nr. 4108 VV RVG auf jeden Fall festzusetzen, was das LG Neuruppin (a.a.O.) zutreffend erkannt hatte.
Erheblich zu lange Verfahrensdauer
Zu beanstanden ist an dem Verfahren mal wieder die lange Verfahrensdauer. Der ursprüngliche Festsetzungsantrag datiert vom 29.4.2022. Die Kostenbeamtin hat am 2.6.2022 festgesetzt und der Erinnerung des Rechtsanwalts am 10.6.2022 nicht abgeholfen und die Sache dem zuständigen Strafrichter beim AG Neuruppin zur Entscheidung vorgelegt. Der entschied dann am 8.12.2023 (sic!). Das LG Neuruppin hat am 25.3.2024 entschieden und dann dauert es mehr als ein Jahr, bis das OLG endgültig entscheidet. Die Zeitabläufe bei der Kostenbeamtin und beim LG sind m.E. nicht zu beanstanden. Alles andere ist aber in meinen Augen nicht hinnehmbar. Der Strafrichter lässt sich 18 Monate Zeit und der OLG-Senat dann auch nochmal zwölf Monate. Man weiß nicht, woran es gelegen hat, aber sicherlich nicht an der Schwierigkeit der zu entscheidenden Rechtsfrage, zu der das OLG ja auch bereits Stellung genommen hatte. M.E. muss das schneller gehen – und geht es ja auch, wie Kostenbeamtin und LG bewiesen haben. Es geht immerhin um Lohn für für den Staat erbrachte Tätigkeiten. Ich möchte den Aufschrei nicht hören, wenn sich der Dienstherr bei der Überweisung der Gehälter im öffentlichen Dienst auch so lange Zeit nehmen würde.