Pflichtverteidiger: Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung
Gemäß § 143a Abs. 1 S. 1 StPO ist es – grundsätzlich zwingend – geboten, eine Pflichtverteidigerbestellung aufzuheben, wenn der Beschuldigte einen anderen Verteidiger gewählt und dieser zudem die Wahl angenommen hat. Eine Ausnahme besteht u.a., wenn zu besorgen steht, dass der neue Verteidiger das Mandat demnächst niederlegen und seine Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragen wird.
BGH, Beschl. v. 21.8.2024 – StB 47/24
Kryptomessengerdienst ANOM: Verwertbarkeit von Daten nach dem 1.4.2024
Die Verwertbarkeit von Daten, die über den Kryptomessengerdienst ANOM gewonnen wurden, richtet sich nach denselben Grundsätzen (BGHSt 67, 29) wie die Verwertbarkeit von Daten des Anbieters EncroChat. Die Daten dürfen in einem Strafverfahren ohne Einwilligung der überwachten Person nur zur Aufklärung einer Straftat, aufgrund derer eine Maßnahme nach § 100b StPO hätte angeordnet werden können, oder zur Ermittlung des Aufenthalts der einer solchen Straftat beschuldigten Person verwendet werden. Die Straftat muss auch im Einzelfall besonders schwer wiegen und die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos sein. Für die Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist auf den Erkenntnisstand zum Zeitpunkt der Verwertung der Beweisergebnisse abzustellen. Liegt demnach aufgrund der zum 1.4.2024 durch das Cannabisgesetz in Kraft getretenen Neuregelungen zum Verwertungszeitpunkt keine Katalogtat nach § 100b Abs. 2 StPO mehr vor, scheidet die Verwertbarkeit der ANOM-Chatprotokolle aus und dürfen diese zur Begründung eines dringenden Tatverdachts nicht herangezogen werden.
OLG Saarbrücken, Beschl. v. 13.8.2024 – 1 Ws 152/24
Funkzellenabfrage: Katalogtat
Der Anordnung einer Funkzellenabfrage nach § 100g Abs. 3 S. 1 StPO steht nicht entgegen, dass kein Verdacht einer besonders schweren Straftat i.S.d. § 100g Abs. 2 StPO vorliegt, da eine solche Katalogtat für eine Funkzellenabfrage nach § 100g Abs. 3 StPO nicht erforderlich ist (Anschluss an: LG Hamburg, Beschl. v. 6.6.2024 – 621 Qs 32/24, StRR 9/2024, 3 [Ls.]; entgegen: BGH, Beschl. v. 10.1.2024 – 2 StR 171/23, StRR 9/2024, 14).
LG Regensburg, Beschl. v. 5.9.2024 – 8 Qs 30/24
Beweisantrag: Bescheidung durch Beschluss
Der fehlende Gerichtsbeschluss über die Entscheidung über einen Beweisantrag kann nicht aufgrund etwaiger Erörterungen des Beweisantrages durch die Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung ersetzt werden. Die Verfahrensbeteiligten können auf die Beachtung der Vorschrift des § 244 Abs. 6 StPO nicht verzichten.
BGH, Beschl. v. 16.7.2024 – 5 StR 185/24
Verfahrensverzögerung: verzögerte Zustellung des Urteils
Der Zeitraum von beinahe einem halben Jahr zwischen Absetzung und Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe verstößt gegen das Beschleunigungsgebot des Art. 6 Abs. 1 EMRK, das ggf. aufgrund einer Inhaftierung des Angeklagten besonderes Gewicht hat (vgl. BGH, Beschl. v. 24.1.2024 – StB 2/24 und v. 24.9.2020 – AK 31/20 m.w.N.). Für die Frage, wann im Einzelfall von einer Verhinderung eines Protokollbeamten zur Fertigstellung des Protokolls der Hauptverhandlung auszugehen ist, gelten dieselben Grundsätze wie für die Unterzeichnung eines Urteils und den Verhinderungsvermerk nach § 271 Abs. 2 S. 2 StPO. Dabei darf nicht aus dem Blick geraten, dass die Unterzeichnung des Urteils und dessen Zustellung dringliche Dienstgeschäfte darstellen.
BGH, Beschl. v. 20.8.2024 – 6 StR 221/24
Besuchsregelung: Langzeitbesuch
Die gerichtliche Überprüfung der Ausgestaltung des Besuchsrechts eines Gefangenen in dem durch die gesetzlichen Bestimmungen vorgegebenen Rahmen ist – wie allgemein beim Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung – darauf beschränkt, ob von einem zutreffend und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen wurde, von dem eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht und dabei eine Abwägung der organisatorischen Belange der Anstalt mit den berechtigten Interessen des Gefangenen vorgenommen wurde. Die Justizvollzugsanstalt muss über einen Antrag auf Gestattung eines Langzeitbesuchs eine auf den Einzelfall bezogene Ermessensentscheidung unter Berücksichtigung der von dem Antragsteller vorgebrachten besonderen Umstände treffen. Eine Entscheidung, die lediglich auf die in der Hausordnung allgemein geregelten Besuchszeiten abstellt, ist ermessensfehlerhaft.
OLG Naumburg, Beschl. v. 26.8.2024 – 1 Ws 366/24 RB-Vollzug
Bewährungswiderruf: rechtswidriger Verlängerungsbeschluss
Ein Verlängerungsbeschluss, der auf keiner bzw. einer rechtswidrigen Grundlage beruht, kann keine Basis für einen Widerruf der Strafaussetzung sein. Das Gericht, das später mit der Frage des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung wegen einer im Verlängerungszeitraum begangenen Straftat befasst ist, hat daher die Rechtmäßigkeit des früheren Verlängerungsbeschlusses inzidenter mit zu überprüfen.
OLG Hamm, Beschl. v. 27.8.2024 – 3 Ws 295/24
KCanG: zu berücksichtigende Menge; Einziehung
Dem Großen Senat für Strafsachen sind gemäß § 132 Abs. 4 GVG folgende Fragen zur Entscheidung vorgelegt worden: 1. Kommt es für die Beurteilung der Strafbarkeit des Besitzes von Cannabis nach § 34 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a) und Buchstabe b) KCanG in Fällen, in denen vorrätig gehaltenes Cannabis sowohl zum Handeltreiben als auch für den Eigenkonsum bestimmt ist, auf die Gesamtmenge an oder ist die dem Eigenkonsum dienende Teilmenge gesondert zu betrachten? Muss bei einer auf § 37 KCanG gestützten Einziehung eine dem Eigenkonsum dienende und die Grenzen des § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, § 3 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 1 KCanG oder des § 34 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a) und Buchstabe b) KCanG nicht übersteigende Cannabismenge stets ausgenommen werden?
BGH, Beschl. v. 1.8.2024 – 2 StR 107/24
Neufestsetzung der Strafe nach dem KCanG: Strafaussetzung zur Bewährung
Eine nach Art. 316p i.V.m. Art. 313 Abs. 4 S. 1 EGStGB veranlasste Neufestsetzung der Strafe erfordert bei Festsetzung einer aussetzungsfähigen Strafe auch eine neue Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung.
OLG Saarbrücken, Beschl. v. 8.8.2024 – 1 Ws 101/24
Nachträgliche Strafmilderung: analoge Anwendung von Art. 313 Abs. 3 und Abs. 4 EGStGB
Allein der Umstand, dass das Handeltreiben mit Marihuana in nicht geringer Menge nach § 34 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 3 Nr. 4 KCanG im Vergleich zu § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG mit einer geringeren Strafe bedroht ist, führt nicht zu einer nachträglichen Strafmilderung nach Art. 316p, 313 Abs. 3 und Abs. 4 EGStGB. Die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung des Art. 313 Abs. 3 und Abs. 4 EGStGB liegen nicht vor.
OLG Hamm, Beschl. v. 20.8.2024 – 5 Ws 230/24
KCanG: nicht geringe Menge; Einziehung
Der Grenzwert der nicht geringen Menge liegt auch nach der Einführung des KCanG bei 7,5 Gramm THC, weil sich an der Beurteilung der Gefährlichkeit von Cannabis hinsichtlich dessen Wirkungsweise und Wirkungsintensität nichts geändert hat. Bei den in § 34 Abs. 1 und 2 KCanG festgelegten Mengen handelt es sich um Freigrenzen. Werden diese überschritten, ist der gesamte Besitz strafbar und unterliegt deshalb insgesamt der Beschlagnahme und Einziehung. Dem gesetzgeberischen Ziel der Entkriminalisierung beim Umgang mit Cannabis ist allerdings auf der Rechtsfolgenseite Rechnung zu tragen, weil der Schuldumfang aufgrund der begrenzten Straflosigkeit des Besitzes, Anbaus und Erwerbs von Cannabis geringer ist. Mengen, die ohne Überschreitung der Freigrenzen legal besessen, angebaut oder erworben worden wären, sind daher bei der Anwendung des Strafrahmens von § 34 Abs. 4 KCanG auszunehmen.
OLG Schleswig, Urt. v. 26.8.2024 – 1 ORs 4 SRs 37/24
Einstellung gem. § 153a StPO: Entfernung eines Soldaten aus dem Dienst
Die Einstellung eines Strafverfahrens wegen Kindesmissbrauchs nach § 153a Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StPO hindert das Wehrdienstgericht nicht, den Soldaten wegen dieser Tat im Disziplinarverfahren aus dem Dienst zu entfernen.
BVerwG, Urt. v. 25.6.2024 – 2 WD 15.23
Verteidigervollmacht: Umfang
Berechtigt eine einem Verteidiger für ein (Bußgeld-)Verfahren erteilte Verteidigervollmacht diesen zur Zurücknahme von Rechtsmitteln, ist dies für eine Beschränkung der Rechtsbeschwerde auf den Rechtsfolgenausspruch ausreichend.
OLG Oldenburg, Beschl. v. 15.8.2024 – 2 ORbs 114/24
Vergütungsvereinbarung: Wirksamkeit einer Zeithonorarabrede
Eine formularmäßig getroffene anwaltliche Zeithonorarabrede ist auch im Rechtsverkehr mit Verbrauchern nicht allein deshalb unwirksam, weil der Rechtsanwalt weder dem Mandanten vor Vertragsschluss zur Abschätzung der Größenordnung der Gesamtvergütung geeignete Informationen erteilt noch sich dazu verpflichtet hat, ihm während des laufenden Mandats in angemessenen Zeitabständen Zwischenrechnungen zu erteilen oder Aufstellungen zu übermitteln, welche die bis dahin aufgewandte Bearbeitungszeit ausweisen. Ist eine formularmäßig getroffene anwaltliche Vergütungsvereinbarung aus AGB-rechtlichen Gründen insgesamt unwirksam, richten sich die Honoraransprüche des Rechtsanwalts nach den Vorschriften des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes.
BGH, Urt. v. 12.9.2024 – IX ZR 65/23
Abschiebehaft: Vergütungsanspruch des beigeordneten Rechtsanwalts
Dem nach § 62d AufenthG gerichtlich bestellten Verfahrensbevollmächtigten steht ein Vergütungsanspruch nach § 45 Abs. 3 S. 1 RVG gegen die Staatskasse zu. Bei der Anordnung von Sicherungshaft handelt es sich um eine aufgrund von Bundesrecht nach §§ 62 Abs. 3, 106 Abs. 2 S. 1 AufenthG angeordnete Freiheitsentziehung i.S.v. § 415 FamFG. Insofern kann der beigeordnete Rechtsanwalt eine Verfahrensgebühr nach Nr. 6300 VV RVG verlangen.
AG Stuttgart, Beschl. v. 10.7.2024 – 527 XIV 271/24