Beitrag

StRR-Kompakt 2024_01

Maßnahme nach § 81g StPO: Prognoseentscheidung

Die für die Anordnung einer Maßnahme nach § 81g StPO erforderliche Prognose künftiger Strafverfahren muss nach den Erkenntnissen bei der vorliegenden Straftat beurteilt werden. Insoweit sind konkretisierbare Anhaltspunkte für künftige gleichgelagerte Fälle erforderlich. Die künftigen Fälle müssen Straftaten von erheblicher Bedeutung zum Gegenstand haben. Bei Jugendlichen bzw. Heranwachsenden kann der Umstand, dass es sich um eine jugendtypische Verfehlung handelt, die Prognoseentscheidung maßgeblich beeinflussen. Auch wenn anzunehmen ist, dass sich ein Angeklagter ggf. vom Drogenmilieu gelöst hat, kann dieser Umstand einer Anordnung entgegenstehen.

LG Essen, Beschl. v. 8.1.2024 – 64 Qs 26/23

Erkennungsdienstliche Maßnahme: Entziehung der Fahrerlaubnis/Sperrfrist

Die Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 StGB und die Anordnung einer Sperrfrist reichen nicht für die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Maßnahme nach § 81b Abs. 2 Nr. 2 StPO, da dieser voraussetzt, dass eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung vorliegen muss.

AG Limburg, Beschl. v. 22.12.2023 – 56 Cs 6 Js 13372/22 (42/23)

Adhäsionsverfahren: Antragsberechtigung

Antragsberechtigt im Adhäsionsverfahren ist auch, wer einen fremden Anspruch im eigenen Namen im Wege sogenannter gewillkürter Prozessstandschaft geltend macht.

BGH, Beschl. v. 14.11.2023 – 6 StR 495/23

Indiztatsache: Bedeutungslosigkeit

Das Tatgericht darf Indiz- oder Hilfstatsachen als für die Entscheidung tatsächlich bedeutungslos erachten (§ 244 Abs. 3 S. 3 Nr. 2 StPO), wenn es aus diesen eine mögliche Schlussfolgerung, die der Antragsteller erstrebt, nicht ziehen will. Das Tatgericht hat die unter Beweis gestellte Tatsache so, als sei sie erwiesen, in das aufgrund der bisherigen Beweisaufnahme erlangte Beweisergebnis einzustellen und im Wege einer prognostischen Betrachtung zu prüfen, ob hierdurch seine bisherige Überzeugung – gegebenenfalls in Anwendung des Zweifelsatzes – in einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch bedeutsamen Weise erschüttert würde.

Diese antizipierende Würdigung ist in dem den Antrag ablehnenden Beschluss (§ 244 Abs. 6 S. 1 StPO) näher darzulegen.

BGH, Beschl. v. 13.12.2023 – 1 StR 340/23

Entschädigung: Formulierung der Grundentscheidung

Die Grundentscheidung des Strafgerichts nach § 8 Abs. 2 StrEG muss die Art und gegebenenfalls den Zeitraum der Strafverfolgungsmaßnahme bezeichnen, für die Entschädigung zugesprochen wird. Eine Ergänzung der Entschädigungsentscheidung im Betragsverfahren kommt nur ausnahmsweise in Betracht.

LG Karlsruhe, Beschl. v. 23.10.2023 – 11 O 19/23

Elektronisches Dokument: einfache Signatur

Für die einfache Signatur eines Schriftsatzes gemäß § 130a Abs. 3 S. 1 Alt. 2 ZPO genügt es, wenn am Ende des Schriftsatzes der Name des Verfassers maschinenschriftlich wiedergegeben ist (Anschluss an BGH, Beschl. v. 7.9.2022 – XII ZB 215/22, NJW 2022, 3512 Rn 10; BSG NJW 2022, 1334; BAGE 172,186).

BGH, Beschl. v. 30.11.2023 – III ZB 4/23

Revisionsrücknahme: feststellende Entscheidung zur Wirksamkeit

Wird später die Wirksamkeit der Revisionsrücknahme von einem Verfahrensbeteiligten bezweifelt, muss darüber eine feststellende Entscheidung getroffen werden, und zwar vom Revisionsgericht.

BGH, Beschl. v. 11.10.2023 – 4 StR 226/23

Einstellung nach § 153 Abs. 2 StPO: Umdeutung von Revision in Beschwerde

Der gerichtliche Beschluss über die Einstellung des Verfahrens nach § 153 Abs. 2 S. 1 StPO ist trotz der Bestimmung des § 153 Abs. 2 S. 4 StPO nicht jeglicher Anfechtung entzogen. Vielmehr ist § 153 Abs. 2 S. 4 StPO einschränkend dahin auszulegen, dass sich die Unanfechtbarkeit allein auf die Ermessensentscheidung bezieht, die Beschwerde jedoch statthaft ist, wenn eine prozessuale Voraussetzung für die Einstellung fehlte. Eine vom Angeklagten gegen einen Einstellungsbeschluss nach § 153 Abs. 2 S. 1 StPO eingelegte „Revision“ ist nach dem Rechtsgedanken des § 300 StPO jedenfalls dann in eine Beschwerde gegen den Einstellungsbeschluss umzudeuten, wenn die Zulässigkeit der Beschwerde deshalb naheliegt, weil dem Angeklagten in dem Strafverfahren ursprünglich ein die Einstellung des Verfahrens hindernder Verbrechensvorwurf zur Last lag und dieser bis zum Einstellungsbeschluss nicht entkräftet wurde.

BayObLG, Beschl. v. 9.1.2024 – 202 StRR 98/23

Zustellungsbevollmächtigung: Unwirksamkeit

Art. 103 Abs. 1 GG gebietet jedenfalls im Strafbefehlsverfahren, dass aus einer strafprozessual erteilten Zustellungsvollmacht heraus der Bevollmächtigte eindeutig bestimmbar ist. Der dynamische Verweis auf „den/die nach dem jeweiligen Geschäftsverteilungsplan für die Entgegennahme von Zustellungen zuständige/n Mitarbeiter/in des AG“ ist hierfür nicht hinreichend. Für die Bestimmbarkeit ist erforderlich, dass der in Bezug genommene Geschäftsverteilungsplan öffentlich einsehbar ist.

LG Karlsruhe, Beschl. v. 16.1.2024 – 16 Qs 6/24

Bewährungswiderruf: Vertrauenstatbestand

Ein dem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung entgegenstehender Vertrauenstatbestand kann gegeben sein, wenn zum Zeitpunkt der nachträglichen Gesamtstrafenbildung bereits bekannt war, dass die verurteilte Person zeitlich nach der Verhängung der im Gesamtstrafenbeschluss zusammenzuführenden Strafen erneut straffällig geworden und deswegen bereits rechtskräftig verurteilt worden ist und der Richter die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe dennoch zur Bewährung aussetzt. Das gilt aber nur dann, wenn der Verurteilte entweder davon Kenntnis hatte, bei Abfassung des Gesamtstrafenbeschlusses dem Gericht die neue Verurteilung bekannt war oder er aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte hiervon ausgehen durfte.

OLG Hamm, Beschl. v. 21.12.2023 – 3 Ws 478/23

Entziehung der Fahrerlaubnis: Kenntnis vom bedeutenden Fremdschaden

Für die Annahme, dass dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis entzogen werden wird, § 111a StPO i.V.m. § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB, muss sicher feststehen, dass der Beschuldigte wusste oder wissen konnte, dass ein bedeutender Fremdsachschaden durch ihn verursacht wurde.

AG Itzehoe, Beschl. v. 30.12.2023 – 40 Gs 1774/23

Sexueller Missbrauch: Anwendung von Gewalt

Eine Nötigung mit Gewalt i.S.d. § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F. ist gegeben, wenn der Täter durch eigene Kraftentfaltung das Opfer einem körperlich wirksamen Zwang aussetzt, um damit geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden. Es kommt nicht darauf an, ob das Opfer des Übergriffs tatsächlich Widerstand leistet; es genügt, wenn die körperliche Zwangseinwirkung der Verhinderung von erwarteter Gegenwehr dient. Diese Maßstäbe gelten auch für das geltende Recht.

BGH, Beschl. v. 6.12.2023 – 5 StR 2023/23

Vertraulichkeit des Wortes: öffentlich gesprochenes Wort

Wendet sich ein Polizeibeamter oder eine Polizeibeamtin bei einer Versammlung unter freiem Himmel an eine bestimmte Person oder einen bestimmten Personenkreis, sind seine bzw. ihre hierbei gesprochenen Worte öffentlich, weil nach den objektiv gegebenen Umständen nicht sichergestellt werden kann, dass die Äußerung nicht durch umstehende Teilnehmer oder Passanten wahrgenommen wird.

OLG Celle, Beschl. v. 22.11.2023 – 1 ORs 7/23

Volksverhetzung: Böswilligkeit

Böswillig i.S.d. § 130 Abs. 1 Nr. 2 ist ein Handeln aus niederträchtiger, bewusst feindseliger Gesinnung, also ein Handeln aus verwerflichen Beweggründen. Die dafür sprechenden Umstände müssen vom Tatrichter festgestellt werden.

OLG Hamm, Beschl. v. 12.12.2023 – 3 ORs 65/23

Tätige Reue: Geldautomatensprengung

Die Freiwilligkeit des Aufgebens der weiteren Tatausführung i.S.d. § 314a Abs. 3 Nr. 2 StGB ist ausgeschlossen, wenn sich durch vom Täter unvorhergesehene Umstände das mit der Tatbegehung verbundene Risiko beträchtlich erhöht. Neben dem Risiko, angezeigt und bestraft zu werden, fehlt es an der Freiwilligkeit auch in Fällen, in denen der Täter die Tat nicht mehr wie ursprünglich vorgesehen ohne erhebliche Eigengefährdung ausführen kann. Die aus der Sicht der Täter durch Müdigkeit verursachte Gefahr, bei der vorgesehenen Flucht mit einem Pkw (hier: nach der Sprengung eines Geldautomaten) zu verunglücken, ist ein die Freiwilligkeit ausschließender Fall nachträglicher Risikoerhöhung.

OLG Frankfurt am Main. Beschl. v. 16.10.2023 – 3 ORs 29/23

Verstoß gegen pandemiebedingte Maskenpflicht: bloße Mitfahrt eines Beschäftigten in Firmenfahrzeug

Die Maskenpflicht am Arbeitsplatz bzw. an der Arbeitsstätte dient dem Arbeitsschutz. Deshalb sind die Begriffe der Arbeitsstätte und des Arbeitsplatzes in der 9. BayIfSMV entsprechend der Begrifflichkeit im Arbeitsschutzgesetz und der Arbeitsstättenverordnung zu verstehen. Ein Firmenfahrzeug, das von Mitarbeitern für die Fahrt zu einer Baustelle genutzt wird, ist nicht als Arbeitsplatz oder Arbeitsstätte i.S.v. § 24 Abs. 1 Nr. 3 der 9. BayIfSMV anzusehen. Eine weitergehende Auslegung überschreitet die Grenze des möglichen Wortsinns und widerspricht den Begriffsdefinitionen aus arbeitsschutzrechtlichen Bestimmungen.

BayObLG, Beschl. v. 18.12.2023 – 201 ObOWi 1077/23

Terminsverlegung: Schlechtwetterwarnung

Öffentliche (Schlecht-)Wetterwarnungen sind für die Frage einer Terminsverlegung nicht maßgeblich. Maßgeblich sind vielmehr die tatsächlich herrschenden Verhältnisse, wie sie am Verhandlungstag (nach eigener Wahrnehmung des Gerichts) einzuordnen sind.

AG Germersheim, Beschl. v. 16.1.2024 – 1 OWi 7282 Js 8075/23

beA: Wiedereinsetzung

Es stellt ein Verschulden i.S.v. § 60 Abs. 1 VwGO dar, die für das Erstellen des fristgebundenen Schriftsatzes notwendige Synchronisation zwischen dem lokalen PC des Anwalts und einem Arbeitssystem auf einem Server in einem weit entfernten Rechenzentrum erst fünf Minuten vor dem Ende der Rechtsmittelbegründungsfrist durchzuführen. Diese Synchronisation ist auf Leitungen außerhalb der Kanzlei und die Übermittlung über Internetverbindungen angewiesen. Daher müssen bei pflichtgemäßem Handeln ausreichende Zeitreserven für diese Synchronisation eingeplant werden.

VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 14.12.2023 – 1 S 1173/23

Pauschgebühr: Aktenumfang beim AG

Bei erstinstanzlichen Verfahren vor dem AG kann ab einem Aktenumfang von 800 Blatt eine Pauschvergütung bewilligt werden kann. Danach ist je nach Umfang der Akte eine Staffelung der zusätzlich zur Grundgebühr zu gewährenden Gebühren vorzunehmen. Für einen Umfang zwischen 2.000 und 3.000 Blatt ergibt sich eine zweifache Erhöhung der Grundgebühr.

OLG Dresden, Beschl. v. 2.1.2024 – 1(S) AR 40/23

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…