Die antragsgemäß nicht auf einen konkreten Termin bezogene Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen gemäß § 73 Abs. 2 OWiG wirkt bei Verlegung des Hauptverhandlungstermins fort, sodass ein Entbindungsbeschluss des Gerichts für den neuen Termin nicht erneut beantragt und erlassen werden muss.
(Leitsätze des Gerichts)
I. Sachverhalt
Urteil in Abwesenheit des Betroffenen
Der Betroffene ist antragsgemäß vom persönlichen Erscheinen entbunden worden. Nach einer Terminsverlegung ohne inhaltliche Ausführungen oder Anordnung sind weder der Betroffene noch der Verteidiger zum neuen Termin erschienen. Das AG hat den Einspruch durch Urteil gem. § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Hiergegen hat der Betroffene Rechtsbeschwerde eingelegt. Das KG möchte diese als unbegründet verwerfen, sieht sich durch den Beschluss des OLG Bamberg NStZ-RR 2017, 25 daran aber gehindert und hat die Rechtsfrage dem BGH zur Entscheidung vorgelegt. Dieser hat wie im Leitsatz entschieden.
II. Entscheidung
Wortlaut
Der Wortlaut des Gesetzes stelle hinsichtlich der Entbindung des Betroffenen von seiner Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen auf die Hauptverhandlung, nicht auf anberaumte einzelne Termine ab. Dies knüpfe an § 73 Abs. 1 OWiG an, wonach der Betroffene „zum Erscheinen in der Hauptverhandlung“ verpflichtet ist. Beide Regelungen beträfen mithin die ggf. aufzuhebende Erscheinenspflicht des Betroffenen für die gesamte Hauptverhandlung i.S.v. § 229 StPO (OLG Karlsruhe zfs 2018, 471; NZV 2016, 99; OLG Bamberg NStZ-RR 2017, 25 = VRR 6/2016, 20 [Burhoff]). Denn anders als etwa §§ 329 Abs. 1 S. 1, 330 Abs. 2 S. 2 StPO verwende das Gesetz nicht den Begriff des „Hauptverhandlungstermins“ (s. auch §§ 141, 273 Abs. 2 Nr. 3 ZPO zum persönlichen Erscheinen der Partei in einem Termin zur mündlichen Verhandlung). Der Gesetzeswortlaut lege damit nahe, dass die Entbindung gemäß § 73 Abs. 2 OWiG grundsätzlich terminübergreifend für die gesamte Hauptverhandlung gilt.
Normzweck
Die Fortwirkung des Entbindungsbeschlusses bei Verlegung des Hauptverhandlungstermins entspreche dem Normzweck des § 73 Abs. 2 OWiG. Die Vorschrift begrenze die in § 73 Abs. 1 OWiG normierte Anwesenheitspflicht des Betroffenen, die ihrerseits der Sachaufklärung dient (OLG Bamberg NStZ-RR 2017, 25 = VRR 6/2016, 20 [Burhoff]). Mit dieser Begrenzung gehe die gesetzliche Anerkennung eines legitimen Interesses des Betroffenen im Ordnungswidrigkeitenverfahren einher, eine gerichtliche Überprüfung zu erreichen, ohne dieser selbst beiwohnen zu müssen. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit werde hierdurch gewahrt. Ist sein persönliches Erscheinen nicht erforderlich, müsse daher das Gericht den Betroffenen auf seinen Antrag hin von der Anwesenheitspflicht entbinden. In der Folge könne das Gericht den Entbindungsbeschluss von sich aus nur aufheben, wenn sich die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung über die von § 73 Abs. 2 OWiG gezogenen Grenzen hinaus doch als zur Wahrheitsfindung notwendig erweist. Die Entbindungsvoraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG würden durch die Verlegung des Hauptverhandlungstermins als solche nicht berührt. Mit einer bloßen Terminsverlegung als rein formalem Akt gehe auch grundsätzlich kein Erklärungswert einher, dass sich die zur Entbindung des Betroffenen geeignete Sachlage geändert habe. Vielmehr würden die prozessualen Voraussetzungen für die Entbindung des Betroffenen, wie etwa in Fällen einer Verhinderung des Verteidigers oder des Gerichts, regelmäßig weiterhin vorliegen.
Keine Aussetzung
Dessen Entbindungsbeschluss betreffe zudem als prozessleitende Maßnahme ungeachtet der Terminsverlegung dieselbe in dem Verfahren durchzuführende Hauptverhandlung (a.A. Krenberger, NStZ-RR 2023, 292). Anders als nach einer Aussetzung finde keine neue Hauptverhandlung im Rechtssinne statt. Erst eine Aussetzung habe zudem – wie auch § 265 Abs. 4 StPO nahelegt – regelmäßig ihren Grund in einer veränderten Sachlage, womit für diesen Fall der „Verbrauch“ des Entbindungsbeschlusses (und des ihm zugrunde liegenden Entbindungsantrags) begründet werden kann (KG DAR 2017, 714; OLG Brandenburg VRS 116, 276; OLG Hamm DAR 2006, 522; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 1582; OLG Jena zfs 2010, 109; s. zudem zur Zurückverweisung OLG Bamberg a.a.O.). Die Verlegung des Hauptverhandlungstermins sei hingegen keine der Aussetzung vergleichbare Zäsur, welche die Entbindungsanordnung entfallen ließe.
Belange des Betroffenen
Mit deren Fortwirkung bei einer Terminsverlegung sei auch den Belangen des Betroffenen Rechnung getragen, sollte er – vom KG als „empirischer Umstand“ bezeichnet (a.A. auch insofern BayObLG, Beschl. v. 25.4.2022 – 201 AR 44/22) – „in aller Regel ein Interesse an der Teilnahme an der Hauptverhandlung“ haben. Denn seine Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen lasse sein Anwesenheitsrecht in der Hauptverhandlung unberührt (vgl. OLG Karlsruhe NStZ-RR 2015, 258). Gibt der Betroffene trotz antragsgemäßer Entbindung zu erkennen, dass er an der Hauptverhandlung teilnehmen will, und ist er hieran ohne eigenes Verschulden gehindert, dürfe das Gericht auch nicht in seiner Abwesenheit nach § 74 Abs. 1 OWiG verhandeln. Den Entbindungsantrag zurücknehmen könne der Betroffene vor der Hauptverhandlung ohnehin (OLG Dresden zfs 2019, 172).
Belehrungspflicht
Über eine Entbindung nach § 73 Abs. 2 OWiG und deren Folgen ist der Betroffene darüber hinaus gem. § 74 Abs. 3 OWiG in der Ladung zur Hauptverhandlung zu belehren. Die insofern vorgeschriebene Transparenz, die zur Wahrung des rechtlichen Gehörs und aus Gründen der Verfahrensfairness erforderlich ist, spreche ebenfalls gegen die vom KG vertretene Rechtsansicht. Denn die weitere Ladung des Betroffenen bei einer Terminsverlegung müsse die Belehrungen nach § 74 Abs. 3 OWiG erneut enthalten (OLG Jena zfs 2003, 43; OLG Köln NStZ-RR 2000, 179). Sie seien auch bei einem von der Pflicht entbundenen Betroffenen gefordert und sinnvoll, um ihm die Konsequenzen seines Nichterscheinens zu verdeutlichen. Daher erscheine es unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensfairness zumindest fragwürdig, hier von einem nicht hinweispflichtigen „Verbrauch“ eines allgemeinen Entbindungsbeschlusses ausgehen zu wollen.
Gesetzesgeschichte
Die Entstehungsgeschichte von § 73 Abs. 2 OWiG stehe der Auslegung, dass der Entbindungsbeschluss bei einer Terminsverlegung fortwirkt, nicht entgegen, was der BGH näher ausführt.
III. Bedeutung für die Praxis
Überzeugend
Der BGH hat mit der für BGHSt vorgesehenen Entscheidung eine seit einiger Zeit umstrittene Rechtsfrage für die Praxis abschließend geklärt. Zum Ergebnis und zur Begründung ist nichts hinzuzufügen. Nur zwei Anmerkungen. Es ist nicht recht nachvollziehbar, dass die Sache nach dem Vorlagebeschluss des KG vom 28.2.2022 über anderthalb Jahre nicht beschieden worden ist. Und wirklich zwingend in der Sache ist die Unterscheidung von Terminsverlegung (kein neuer Antrag) und Aussetzung der Hauptverhandlung (neuer Antrag erforderlich) nicht (Krenberger a.a.O.). Jedenfalls sollte der Verteidiger auf jeden Fall bei Stellung eines Entbindungsantrags deutlich erklären, ob dieser sich nur auf einen bestimmten Verhandlungstermin bezieht oder auf das ganze Verfahren erstreckt.