Zur Wartepflicht gemäß § 29 StPO.
(Leitsatz des Gerichts)
I. Sachverhalt
Falsche Angaben eines Schöffen zu seinem Gesundheitszustand
Das LG hat den Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 79 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Während der ersten Hauptverhandlungstage war Mitgliedern der Strafkammer aufgefallen, dass einer der bis dahin mitwirkenden Schöffen teils mit geschlossenen Augen auf der Richterbank saß. Darauf angesprochen und um Aufklärung etwaiger Einschränkungen gebeten, stritt der Schöffe Müdigkeitserscheinungen zunächst bewusst wahrheitswidrig ab.
Selbstanzeige nach § 30 StPO
Vor Beginn des 8. Hauptverhandlungstages räumte der Schöffe dann jedoch ein, dass er im Hinblick auf seine Müdigkeitserscheinungen gelogen habe. Er leide an einer manischen Depression und nehme als Einschlafhilfe ein Antidepressivum. Die Wirkung dieses Medikaments lasse erst am Vormittag nach, weshalb er an den bislang durchgeführten Hauptverhandlungsterminen „nur zu 80 %“ anwesend gewesen sei.
Hauptverhandlungstermin dennoch durchgeführt
Ungeachtet dieser Erklärung führte die Kammer den 8. Hauptverhandlungstermin wie geplant durch und setzte die Vernehmung eines Zeugen fort, ohne die Verfahrensbeteiligten über die Vorkommnisse zu informieren. Zwei Tage später erklärte der Schöffe auf Frage des Vorsitzenden, dass seine Erklärung als Selbstanzeige eines möglichen Befangenheitsgrundes anzusehen sei. Nunmehr wurden die Verfahrensbeteiligten informiert, Ablehnungsgesuche gegen den Schöffen gingen nicht ein.
Selbstanzeige für begründet erklärt
Stattdessen stellte die Strafkammer durch Beschluss fest, dass die in der Selbstanzeige des Schöffen mitgeteilten Umstände die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigten. Grund hierfür sei nicht dessen Erkrankung, sondern der Umstand, dass der Schöffe gegenüber der Strafkammer das Bestehen eines Müdigkeitsproblems zunächst wahrheitswidrig bestritten hatte. Sodann trat eine Ergänzungsschöffin in das Verfahren ein.
Verfahrensrügen erfolglos
Mit seiner Revision gegen das Urteil des LG rügte der Angeklagte unter anderem eine Verletzung des § 29 Abs. 1 StPO. Die Strafkammer habe die dort normierte Wartepflicht verletzt, indem sie nach der Erklärung des Schöffen zunächst weiterverhandelt hat. Zudem seien Befangenheitsanträge gegen die Berufsrichter, die der Angeklagte wegen der verzögerten Information über die Erklärung des Schöffen gestellt hatte, fehlerhaft abgelehnt worden. Die Rügen hatten keinen Erfolg.
II. Entscheidung
Wartepflicht erstreckt sich jedenfalls nicht auf die Hauptverhandlung
1. Der BGH hat ausgeführt, dass die Frage, ob die in § 29 Abs. 1 StPO bestimmte Wartepflicht, wonach ein abgelehnter Richter sich aller Amtshandlungen zu enthalten hat, die nicht unaufschiebbar sind, auch auf den Richter entsprechend anzuwenden ist, der eine Selbstanzeige nach § 30 StPO erstattet hat, keiner Entscheidung bedürfe. Denn eine etwaige Wartepflicht erstrecke sich jedenfalls nicht auf die Hauptverhandlung (§ 29 Abs. 2 S. 1 StPO). Gleichwohl hat der Senat ausführlich zu dieser Frage Stellung genommen und dargelegt, dass an einer Anwendbarkeit der Wartepflicht Zweifel bestünden.
Kein schützenswertes Interesse
Es fehle bereits an einem schützenswerten Interesse an einer Wartepflicht des selbstanzeigenden Richters. Denn der Gesetzgeber habe durch § 30 StPO sichergestellt, dass das Recht der Verfahrensbeteiligten auf einen unbefangenen Richter auch dann effektiv durchgesetzt werden kann, wenn die eine Befangenheit begründenden Umstände nicht offen zutage treten, denn nach dieser Vorschrift sei der Richter verpflichtet, über mögliche Befangenheitsgründe Mitteilung zu machen. Sodann sei den Verfahrensbeteiligten rechtliches Gehör zu gewähren; diese hätten im Anschluss die Möglichkeit, den Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen und mithin auch die direkte Anwendbarkeit des § 29 StPO herbeizuführen. Erachteten sie den Richter aufgrund der ihnen mitgeteilten Selbstanzeige nicht für befangen, so brächten sie hiermit zum Ausdruck, keine Bedenken gegen seine weitere Mitwirkung zu haben.
Stufenverhältnis Befangenheit – Ausschlussgründe
Zudem sei zu berücksichtigen, dass sich der Gesetzgeber für ein gestuftes Nebeneinander von Ausschlussgründen und Befangenheit entschieden hat. Während Ausschlussgründe nach den §§ 22, 23, 148a Abs. 2 StPO absolut und unabhängig von einem Antrag der Prozessbeteiligten wirkten und auf sie auch nicht verzichtet werden könne, sei der i.S.d. § 24 Abs. 2 StPO befangene Richter nicht bereits mit dem Entstehen des Ablehnungsgrundes von der weiteren Mitwirkung ausgeschlossen, sondern erst nach einem Gerichtsbeschluss, der seine Befangenheit feststellt. Auch finde eine Überprüfung der Befangenheit von Amts wegen nicht statt. Dieses vom Gesetzgeber so vorgegebene Stufenverhältnis wäre unhaltbar, würde der abgelehnte Richter schon vor der Entscheidung des Gerichts über seine Befangenheit nicht mehr gesetzlicher Richter sein.
Unterschiedliche Ausge- staltung von Ablehnung und Selbstanzeige
Schließlich verweist der BGH auch auf die unterschiedliche Behandlung von Ablehnung und Selbstanzeige im Revisionsrecht. Der Revisionsgrund des § 338 Nr. 3 StPO sei nur nach Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit eröffnet, wohingegen in Fällen des § 30 StPO die Entscheidung, durch welche die Selbstanzeige für begründet oder nicht begründet erklärt wird, für das Revisionsgericht für sich gesehen grundsätzlich nicht überprüfbar sei. Erst dann, wenn ein Ablehnungsberechtigter aufgrund des Vorbringens des Selbstanzeigenden diesen abgelehnt hat, sei das Ablehnungsverfahren und mithin der Anwendungsbereich des § 338 Nr. 3 StPO im Revisionsverfahren eröffnet. Insoweit sei dessen hohes Rechtsschutzniveau an den Ablehnungsantrag gebunden. Der Senat neige dazu, auch die Sicherung des § 29 StPO, der nach der gesetzlichen Überschrift und nach dem Normtext allein das Verfahren nach Ablehnung betrifft, nur diesem Verfahren vorzubehalten.
Vorgehen des Vorsitzenden nicht willkürlich
2. Schließlich nimmt der Senat noch zur Vorgehensweise des Vorsitzenden Stellung und führt hierzu aus, dass die Verfahrensbeteiligten über die vom Schöffen mitgeteilten Umstände verspätet, da erst nach vorangegangener Durchführung des 8. Hauptverhandlungstages, informiert worden seien. Die Rüge der fehlerhaften Ablehnung des hierauf gestützten Befangenheitsantrags greife aber dennoch nicht durch, da die Vorgehensweise nicht völlig abwegig sei und auch nicht den Anschein der Willkür erwecke. Insoweit hat der Senat die dienstliche Erklärung des Vorsitzenden akzeptiert, wonach er sich zunächst auf die Verhandlungsfähigkeit des Schöffen an jenem Terminstag konzentriert und die Bedeutung der Mitteilung im Übrigen ohne die Möglichkeit näherer rechtlicher Prüfung noch nicht durchdrungen habe.
III. Bedeutung für die Praxis
Rasche Reaktion auf Selbstanzeige erforderlich
Wenngleich der BGH die Frage nach einer Auslösung der Wartepflicht des § 29 Abs. 1 StPO durch eine Selbstanzeige mangels Entscheidungsrelevanz nicht abschließend entschieden hat, ist die Botschaft aus Karlsruhe doch recht eindeutig: Es besteht in solchen Fällen keine Wartepflicht und die Hauptverhandlung kann über § 29 Abs. 2 S. 1 StPO ohnehin immer fortgesetzt werden. Für die Verteidigung bedeutet dies, dass sie die in einer Selbstanzeige mitgeteilten möglichen Befangenheitsgründe sorgfältig prüfen und dann umgehend entscheiden muss, ob ein Ablehnungsgesuch gestellt wird oder nicht. Erst dann wird die Wartepflicht ausgelöst. Andernfalls hat die Verteidigung, will sie einen Verstoß gegen die Wartepflicht rügen, in der Revision schlechte Karten, zumal dort auch die Gefahr besteht, dass das Vorbringen wegen Widersprüchlichkeit als unzulässig angesehen wird. Auch vorliegend hat der Senat die Zulässigkeit der Rüge für fraglich erachtet, nachdem die Verteidigung einerseits einen Verstoß gegen die Wartepflicht monierte, andererseits aber auch vorgetragen hat, der Schöffe sei willkürlich aus dem Spruchkörper herausgedrängt worden.