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StRR-Kompakt 2023_11

Beschluss: Erfordernis der Unterzeichnung

Bei Beschlüssen ist es nicht zwingend erforderlich, dass sie überhaupt unterzeichnet sind, denn die Regelung des § 275 Abs. 2 StPO gilt nur für Urteile und ist auf Beschlüsse nicht, auch nicht entsprechend, anwendbar. Ist ein Beschluss gar nicht (oder nicht von allen zur Entscheidung berufenen Richtern) unterschrieben, so muss sich aber zumindest aus den Umständen zweifelsfrei ergeben, dass die Entscheidung auf der Willensbildung der zur Entscheidung berufenen Richter beruht. Wenn alle zur Entscheidung berufenen Richter an der Beschlussfassung mitgewirkt haben, ist die Ersetzung der Unterschrift des an der Unterzeichnung des schriftlichen Beschlusses verhinderten Richters auch dann möglich, wenn der Tenor des Beschlusses nicht zuvor bei Beschlussfassung in einem Vermerk schriftlich niedergelegt worden ist (entgegen KG, Beschl. v. 22.7.2014 – 2 Ws 265/14; Beschl. v. 20.5.2015 – 2 Ws 73/15; Beschl. v. 6.2.2018 – 2 Ws 2/18; OLG Brandenburg, Beschl. v. 16.1.2023 – 1 Ws 153/22 (S)).

OLG Hamm, Beschl. v. 12.9.2023 – 3 Ws 302/23

ANOM-Chatverlauf: Beweisverwertungsverbot

Die Erkenntnisse aus der Auswertung gesicherter Chatverläufe des Krypto-Messengerdienstes „ANOM“ sind mangels Überprüfbarkeit, was zu einem Beweisverwertungsverbot führt, nicht verwertbar.

OLG München, Beschl. v. 19.10.2023 – 1 Ws 525/23

Zustellung: Scheinwohnsitz

Ein Scheinwohnsitz, an dem gem. §§ 37 Abs. 1, 180 ZPO eine Zustellung wirksam erfolgen könnte, ist nicht bei der aufgegebenen Wohnung anzunehmen, wenn der unter laufender Bewährung stehende Zustellungsadressat entgegen der Anordnung im Bewährungsbeschluss dem Gericht den Wohnsitzwechsel nicht mitgeteilt hat.

LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 22.9.2023 – 12 Qs 66/23

Ausschluss des Richters: Verfahrens-/Sachidentität

Der Ausschluss eines Richters nach § 22 Nr. 5 StPO wegen Zeugenvernehmung in einem anderen Verfahren setzt keine Verfahrensidentität voraus. Es genügt, wenn die Vernehmung Umstände thematisiert, die der Richter auch in dem ihm vorliegenden Verfahren im Hinblick auf Schuld- und Straffrage in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht bewerten muss.

BGH, Beschl. v. 12.9.2023 – 5 StR 251/23

Zeugenvernehmung: Beanstandung

Die Entscheidung, ob und in welchem Umfang ein Zeuge durch seine Aussage eine Verfolgungsgefahr i.S.d. § 55 Abs. 1 StPO begründen kann und daher die Auskunft verweigern darf, unterliegt als Maßnahme der Sachleitung weitgehend der wertenden Beurteilung des Vorsitzenden. Hält ein Verfahrensbeteiligter dessen Entscheidung für rechtsfehlerhaft und damit für unzulässig, hat er gemäß § 238 Abs. 2 StPO die Möglichkeit, hiergegen den gesamten Spruchkörper anzurufen. Unterlässt der verteidigte Angeklagte dies, kann er in der Revisionsinstanz mit einer entsprechenden Rüge, durch die er sich in Widerspruch zu seinem früheren Verhalten setzen würde, nicht mehr gehört werden.

BGH, Beschl. v. 12.9.2023 – 4 StR 179/23

Nichtöffentlichkeit im JGG-Verfahren: Zulassung anderer Personen

Die Zulassung von Polizeibeamten zu einer nichtöffentlichen Hauptverhandlung gem. § 48 Abs. 2 S. 3 JGG ist nicht ermessensmissbräuchlich, wenn diese mit der Festnahme der Angeklagten zur Vollstreckung eines Untersuchungshaftbefehls in einem gesonderten Verfahren beauftragt sind. Die Anordnung des Vorsitzenden gem. § 48 Abs. 2 S. 3 JGG kann in der Hauptverhandlung gem. § 238 Abs. 2 StPO beanstandet werden; unterbleibt die mögliche Anrufung des Gerichts, ist die Verfahrensrüge präkludiert (obiter dictum).

OLG Celle, Beschl. v. 27.9.2023 – 2 ORs 82/23

beA: Rechtsanwalt als Betroffener

Die Pflicht zur Begründung der Rechtsbeschwerde durch ein elektronisches Dokument (§ 32d S. 2 StPO i.V.m. § 110c S. 1 OWiG) gilt zumindest dann auch für den Rechtsanwalt, der selbst Betroffener ist, wenn dieser als Rechtsanwalt auftritt. Wird die Rechtsmittelbegründung ausnahmsweise nicht in elektronischer Form übersandt, ist darzulegen und glaubhaft zu machen, dass im Zeitpunkt der Übersendung eine grundsätzlich einsatzbereite technische Infrastruktur zur elektronischen Übermittlung von anwaltlichen Schriftsätzen an die Gerichte existierte und eine nur vorübergehende technische Störung gegeben war (Anschl. an BGH, Beschl. v. 30.8.2022 – 4 StR 104/22).

BayObLG, Beschl. v. 14.7.2023 – 201 ObOWi 707/23

Wiederholungsgefahr: Schwere der Tat

Eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung liegt dann vor, wenn die Anlasstat einen überdurchschnittlichen Schweregrad und Unrechtsgehalt aufweist. Es muss sich um eine Straftat handeln, die schon nach ihrem gesetzlichen Tatbestand einen erheblichen, in der Höhe der Strafandrohung zum Ausdruck kommenden Unrechtsgehalt aufweist und in ihrer konkreten Gestalt, insbesondere nach Art und Ausmaß des angerichteten Schadens, die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigt hat. Es kann nicht ausschließlich auf die Straferwartung, die bei den Katalogtaten des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO bereits die generelle schwerwiegende Natur begründet, abgestellt werden. Vielmehr sind auch die Umstände der Tat im Einzelfall heranzuziehen.

OLG Schleswig, Beschl. v. 12.10.2023 – 1 Ws 233/23

Langzeitbesuch in der Haft: Einschränkungsmaßnahmen

Der begründete Verdacht, dass der Besucher und der Gefangene in gemeinsame kriminelle Aktivitäten verstrickt sind oder dass sie anlässlich von Langzeitbesuchen Rauschmittel konsumieren bzw. diesen unüberwachten Besuch für das Einbringen von verbotenen Substanzen ausnutzen könnten, vermag grundsätzlich eine fehlende Geeignetheit für einen mehrstündigen unbeaufsichtigten Besuch (Langzeitbesuch) zu begründen. Die Gefahr des Missbrauchs eines Langzeitbesuchs muss aber aufgrund konkreter Tatsachen belegt werden.

OLG Celle, Beschl. v. 19.9.2023 – 1 Ws 228/23

Unerlaubtes Entfernen: bedeutender Schaden

Derzeit ist ein bedeutender Schaden i.S.d. § 69 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht unter 1.800 EUR anzunehmen.

LG Dresden, Beschl. v. 15.9.2023 – 17 Qs 66/23

Betäubungsmittel: Anbau

Der Anbau von Betäubungsmitteln in Form der Aufzucht umfasst sämtliche gärtnerischen oder landwirtschaftlichen Bemühungen, um Wachstum von in den Anlagen I bis III zum Betäubungsmittelgesetz genannten Pflanzen zu erreichen. Hierzu zählen namentlich das Bewässern, das Düngen und das Belichten.

BGH, Beschl. v. 6.9.2023 – 6 StR 107/23

Levometamfetamin: geringe Menge

Für Levometamfetamin – (R)-(Methyl)(1-phenylpropan-2-yl)azan – beginnt die nicht geringe Menge i.S.v. §§ 29a Abs. 1 Nr. 2, 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG bei 50 g der wirkungsbestimmenden Base.

BGH, Urt. v. 10.8.2023 – 3 StR 462/22

Handel mit Hanfblütentee: Voraussetzungen für die Annahme einer Rauscheignung

Hanfblütentee, der Tetrahydrocannabinol (THC) enthält, unterfällt grundsätzlich dem Betäubungsmittelgesetz. Eine Ausnahme hiervon besteht nur dann, wenn der THC-Gehalt 0,2 % (ab 1.1.2023: 0,3 %) nicht übersteigt und der Verkehr ausschließlich gewerblichen oder wissenschaftlichen Zwecken dient, die einen Missbrauch zu Rauschzwecken ausschließen (Anlage I zu § 1 BtMG). Gelangt ein Sachverständigengutachten in Abweichung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die ihrerseits auf wissenschaftlichen Studien beruht, zu dem Ergebnis, dass bereits bei einem Konsum von 2 mg THC durch Inhalation ein Rausch erzielt werden könne, ist es rechtsfehlerhaft, wenn eine nähere Darlegung unterbleibt, aufgrund welcher Erkenntnisse die Sachverständige zu ihrer Einschätzung gelangt und aus welchen Gründen der Gegenansicht nicht zu folgen ist.

BayObLG, Beschl. v. 24.8.2023 – 202 StRR 52/23

Volksverhetzung: „Judenstern“/“nicht geimpft“

Die Verwendung des „Judensterns“ unter Ersetzung des Wortes „Jude“ durch die Wörter „nicht geimpft“ erfüllt den Tatbestand der Volksverhetzung gem. § 130 Abs. 3 StGB nicht, da die Verpflichtung der Juden zum Tragen des Judensterns, die durch die „Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden“ vom 1.9.1941 eingeführt wurde, für sich genommen noch keinen Völkermord i.S.v. § 6 Abs. 1 Nr. 3 VStGB darstellt; die Kennzeichnung einer Gruppe ist juristisch von der „auf körperliche Zerstörung gerichteten lebensgefährlichen Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen“ zu trennen. Die bloße Verwendung des „Ungeimpft-Sternes“ in einem – ggf. auch öffentlich zugänglichen – Facebook-Profil erfüllt ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht den Tatbestand der Volksverhetzung gem. § 130 Abs. 3 StGB, da es an der Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens fehlt.

OLG Braunschweig, Urt. v. 7.9.2023 – 1 ORs 10/23

Abschleppen. Parken auf Elektrofahrzeugen vorbehaltenen Parkflächen

Benutzer von Elektrofahrzeugen müssen darauf vertrauen können, dass ausdrücklich Elektrofahrzeugen vorbehaltene Parkflächen mit Ladesäulen frei bleiben und benutzt werden können. Daher können auf einer solchen Parkfläche abgestellte Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor auch ohne konkrete Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer abgeschleppt werden.

VG Düsseldorf, Urt. v. 19.9.2023 – 14 K 7479/22

Vollstreckungsverfahren: Kostenentscheidung

Auch für das Bußgeldverfahren ist nach § 464a Abs. 1 S. 2 Hs. 2 StPO davon auszugehen, dass die Kosten des Vollstreckungsverfahrens von der Kostenentscheidung im Hauptsacheverfahren umfasst werden.

AG Friedberg (Hessen), Beschl. v. 29.9.2023 – 47 a OWi 179/23

Grob ungehörige Handlung: Wasserlassen in der Öffentlichkeit

Der Vorgang des Wasserlassens unter freiem Himmel außerhalb von Bedürfnisanstalten ist unter Beachtung üblicher Rücksichtnahmen und ohne Hinzutreten besonderer Umstände keine grob ungehörige Handlung i.S.d. § 118 OWiG. Die grobe Ungehörigkeit ergibt sich nicht aus der Eignung zur Verletzung des Schamgefühls und nicht aus belästigenden Verunreinigungen oder belästigenden Gerüchen.

AG Lübeck, Urt. v. 29.6.2023 – 83a OWi 739 Js 4140/23 jug

Beratungshilfe; anhängiges Strafverfahren

Die Bewilligung von Beratungshilfe ist auch noch nach Zustellung der Anklageschrift in einem anhängigen Strafverfahren möglich.

AG Köln, Beschl. v. 14.9.2023 – 360 XI 923/23

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