1. Eine im Ermittlungsverfahren erstellte Bild-Ton-Aufzeichnung einer Zeugenvernehmung ist unverwertbar, wenn der Zeuge vom Ermittlungsrichter rechtsfehlerhaft belehrt worden ist.
2. Zum erforderlichen Vortrag zur Begründung einer Verfahrensrüge, mit der geltend gemacht wird, dass eine im Ermittlungsverfahren durchgeführte Bild-Ton-Aufzeichnung rechtsfehlerhaft als nicht verwertbar angesehen worden ist.
(Leitsätze des Verfassers)
Das LG hat den Angeklagten vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Mit der Anklage hatte die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten zur Last gelegt, seinen im Jahr 2013 geborenen Sohn J im Zeitraum vom 1.1.2017 bis 30.1.2020 im elterlichen Schlafzimmer sowie in einer Gartenlaube aufgefordert zu haben, am Penis des Angeklagten zu manipulieren, wobei der Junge dem jeweils bis zum Samenerguss nachgekommen sei.
Die Strafkammer hat zu den Anklagevorwürfen keine näheren Feststellungen getroffen. Der Angeklagte hat sich auf sein Schweigerecht berufen. Sein Sohn als einziger unmittelbarer Tatzeuge hat in der Hauptverhandlung das Zeugnis verweigert. Die Bild-Ton-Aufzeichnung seiner ermittlungsrichterlichen Videovernehmung hat die Strafkammer als unverwertbar angesehen.
Gegen den Freispruch hat die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt. Sie hat ihre Verfahrensrüge u.a. auf die unzutreffende Annahme eines Beweisverwertungsverbotes gestützt und insoweit die Aufklärungsrüge erhoben. Die Revision hatte keinen Erfolg.
Die Verfahrensrüge war nach Auffassung des BGH bereits unzulässig (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO).
Zur Begründung war folgendes Verfahrensgeschehen vorgetragen worden. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wurde der sechsjährige Zeuge J am 21.2.2020 ermittlungsrichterlich vernommen; hiervon wurde eine Bild-Ton-Aufzeichnung gefertigt. Der mit Blick auf ein – irrtümlich angenommenes – gemeinsames Sorgerecht des Angeklagten und der Kindsmutter bestellte Ergänzungspfleger hatte tags zuvor schriftlich gegenüber dem AG erklärt, dass das Kind von seinem Zeugnisverweigerungsrecht keinen Gebrauch machen werde. Zu Beginn der Vernehmung wurde der Zeuge richterlich auf seine Wahrheitspflicht hingewiesen und ferner wie folgt belehrt: „Und wenn wir jetzt Fragen stellen nach deinem Papa und du sagst, ach, das will ich lieber nicht beantworten, dann sagst du mir das. Dann sagst du mir, das will ich lieber nicht erzählen, okay?“. Anschließend sagte der Zeuge zur Sache aus. Der Verteidiger konnte mittels elektronischer Nachrichten an der Vernehmung aus einem Nebenzimmer mitwirken, in das die Vernehmung audio-visuell übertragen wurde. Die Kindsmutter, die Zeugin G, erklärte im August 2020 im Rahmen eines familiengerichtlichen Verfahrens zu Protokoll, mit der Verwertung der Bild-Ton-Aufzeichnung der ermittlungsrichterlichen Vernehmung durch das LG einverstanden zu sein. In der Hauptverhandlung vor der Strafkammer wiederholte sie dieses Einverständnis. Dort berief sich indes J nach Belehrung auf sein Zeugnisverweigerungsrecht. Sodann wurde er gefragt, ob er mit Blick auf die fehlerhafte Belehrung bei seiner ermittlungsrichterlichen Vernehmung „bei ordnungsgemäßer Belehrung zu einer Aussage bereit gewesen wäre“.
Nach Ansicht des BGH hat die Staatsanwaltschaft die für eine revisionsgerichtliche Prüfung des Geschehens erforderlichen Tatsachen nicht vollständig vorgetragen (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO).
Nach dem Beschwerdevorbringen wäre – so der BGH – die Bild-Ton-Aufzeichnung wegen einer rechtsfehlerhaften Belehrung des Zeugen durch den Ermittlungsrichter grundsätzlich unverwertbar. Zwar stehe die nachträgliche Ausübung eines Zeugnisverweigerungsrechts der Verwertung der Bild-Ton-Aufzeichnung einer früheren richterlichen Vernehmung nach § 255a Abs. 2 StPO grundsätzlich nicht entgegen (vgl. BGH, Beschl. v. 26.11.2019 − 5 StR 555/19, NStZ 2020, 181; nicht tragend bereits BGH, Urt. v. 12.1.2004 – 3 StR 185/03, BGHSt 49, 72, 83; Beschl. v. 15.7.2016 – GSSt 1/16, BGHSt 61, 221, 239; BeckOK-StPO/Berg, 45. Ed., § 255a Rn 11 m.w.N.; LR/Mosbacher, 27. Aufl., § 255a Rn 21; SK-StPO/Rogall, 5. Aufl., § 52 Rn 94). Die vernehmungsersetzende Vorführung dieses Beweissurrogats nach § 255a Abs. 2 StPO setze aber eine vorangegangene ordnungsgemäße Beweiserhebung unter Wahrung der wesentlichen Verfahrensvorschriften voraus (vgl. KK-StPO/Diemer, 9. Aufl. 2023, § 255a Rn 9; KMR/R. Fischer, StPO, 107. Lfg., § 255a Rn 44; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 255a Rn 8a). Bei einer richterlichen Zeugenvernehmung, welche in Bild und Ton aufgezeichnet werde (§ 58a StPO), seien deshalb namentlich die rechtlich geschützten Belange des Beschuldigten, etwa seine Gelegenheit zur Mitwirkung (vgl. § 255a Abs. 2 S. 1 StPO; BGH, Urt. v. 12.2.2004 – 3 StR 185/03, a.a.O.; im Einzelnen KMR/R. Fischer, a.a.O., Rn 45 ff.), zu wahren. Dies gilt gleichermaßen für Zeugenrechte (vgl. BeckOK-StPO/Berg a.a.O.; KK-StPO/Diemer a.a.O.). Denn die rechtlichen Maßgaben des § 255a Abs. 2 StPO stehen im regelungssystematischen Zusammenhang mit § 58a StPO. Dieser ermögliche unter näher bestimmten Voraussetzungen eine Videodokumentation der Vernehmungsinhalte und ergänze insoweit die übrigen – unbeschränkt fortgeltenden – Verfahrensregeln über richterliche Zeugenvernehmungen etwa im Ermittlungsverfahren (vgl. §§ 162, 48 ff. StPO). Sei die gebotene ordnungsgemäße Zeugenbelehrung nach § 52 Abs. 3 S. 1 StPO versehentlich unterblieben, könne die Bild-Ton-Aufzeichnung grundsätzlich nicht vernehmungsersetzend eingeführt werden. Über § 255a Abs. 2 StPO könne die aufgezeichnete ermittlungsrichterliche Vernehmung – als Beweissurrogat – eine unmittelbare Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung aus Gründen des Opferschutzes ersetzen. Die Vernehmung durch den Ermittlungsrichter (§ 162 StPO) erweise sich damit gleichsam als vorverlagerter Teil der Hauptverhandlung (vgl. BGH, Urt. v. 12.22004 – 3 StR 185/03, a.a.O.). Für diese sei anerkannt, dass eine Zeugenaussage bei versehentlich unterbliebener Zeugenbelehrung oder Einholung einer Zustimmung nach § 52 Abs. 2 StPO – im selben Umfang wie bei § 252 StPO – weder verlesen noch verwertet werden darf (vgl. BGH, Urt. v. 2.3.1960 – 2 StR 44/60, BGHSt 14, 159, 160; v.10.2.2021 – 6 StR 326/20, NStZ-RR 2021, 142, 143). Dies gilt gleichermaßen, wenn die aufgezeichnete ermittlungsrichterliche Vernehmung (§ 58a StPO) die Zeugenvernehmung über § 255a Abs. 2 StPO in der Hauptverhandlung als deren vorverlagerter Teil ersetzen soll. Auch dann fehle es wegen des Belehrungsmangels an einer wirksamen Disposition des Zeugen im Rahmen der richterlichen Vernehmung über sein Recht aus § 52 Abs. 1 StPO und mithin an einem ordnungsgemäß vorangegangenen Verfahren (vgl. aber zur fehlenden Zustimmung des gesetzlichen Vertreters – nicht tragend – BGH, Urt. v. 12.2.2004 – 3 StR 185/03, a.a.O.).
Hier habe die dem Zeugen erteilte Belehrung nicht ausgereicht, um den Weg zu einer Vorführung der aufgezeichneten Zeugenvernehmung (§ 255a Abs. 2 StPO) zu öffnen. Die Belehrung nach § 52 Abs. 3 StPO erweise sich bereits mit Blick auf den Umfang des Zeugnisverweigerungsrechts aus § 52 Abs. 1 StPO als mangelhaft. Die gewählten Formulierungen legen – auch eingedenk der gebotenen und hier ersichtlich vorgenommenen kindgerechten Fassung – nahe, dass der Zeuge zwar die Antworten auf einzelne Fragen (vgl. § 55 StPO), nicht aber – wie ihm gesetzlich garantiert – die Aussage vollständig verweigern kann. Überdies fehlte es an dem Hinweis an den Zeugen, dass er sein Recht auf Verweigerung des Zeugnisses auch ungeachtet der vom Ergänzungspfleger erteilten Zustimmung ausüben könne.
Der Senat könne allerdings die Verwertbarkeit des Beweismittels anhand des Revisionsvortrags nicht abschließend beurteilen. Die Verwertbarkeitsfrage könnte nämlich anders zu bewerten sein, wenn der Zeuge die Verwertung der Angaben mit der Folge der Heilung des Verfahrensfehlers genehmigt hätte (vgl. BGH, Urt. v. 23.9.1999 – 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 208; Beschl. v. 10.2.2015 – 1 StR 20/15, NStZ 2015, 232; v. 25.8.2020 – 2 StR 202/20, NStZ 2021, 58). Hierzu schweige die Revision; die ohne nähere Erörterungen zusammengestellten Auszüge aus der Sitzungsniederschrift ersetzen – so der BGH – den notwendigen Revisionsvortrag nicht.
1. Die Entscheidung zeigt noch einmal die Voraussetzungen für die Verwertbarkeit einer BTA auf (vgl. dazu eingehend Hirsch, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 5131 ff., und in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 3972 ff.). Zudem nimmt er Stellung zur ordnungsgemäßen Zeugenbelehrung von Kindern. Die damit zusammenhängenden Fragen spielen ja gerade in den Missbrauchsfällen eine besondere Rolle.
2. Der BGH weist zudem darauf hin, dass der Freispruch des LG auch sachlich-rechtlicher Überprüfung standhalte. Die Strafkammer habe nachvollziehbar zu erkennen gegeben, dass verwertbare Angaben des einzigen unmittelbaren Tatzeugen wegen eines Verwertungsverbotes für ihre Überzeugungsbildung nicht zur Verfügung standen (§ 261 StPO). Vor diesem Hintergrund seien ihr nähere Feststellungen zu den angeklagten Taten nicht möglich gewesen. Auch sei eine sachlich-rechtliche Überprüfung der vom LG hilfsweise vorgenommenen Beweiswürdigung nicht veranlasst gewesen. Auf diese könne es nicht ankommen, weil die Aussagen des einzigen Belastungszeugen einer Würdigung durch die Strafkammer wegen des angenommenen Verwertungsverbots nicht zugänglich gewesen seien. Das gesetzlich zwingende Verwertungsverbot sei im Rahmen der Beratungen nach § 263 StPO vorrangig zu prüfen; fehle es aber aus gesetzlich zwingenden Gründen schon an der Verwertbarkeit eines zentralen Beweismittels und könne deshalb keine für die Verurteilung zureichende Tatsachenbasis als erwiesen angesehen werden, bestehe keine Möglichkeit und erst recht kein sachlich-rechtlicher Grund zur Darstellung hierauf gestützter (hypothetischer) Beweiserwägungen in den schriftlichen Urteilsgründen. Selbst wenn einzelne Erwägungen der hilfsweise vorgenommenen Bewertung lückenhaft oder sonst rechtsfehlerhaft sein sollten, könnte hierauf auch nichts beruhen (§ 337 StPO).
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