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Bindungswirkung einer Verfahrenseinstellung gem. § 154 Abs. 1 StPO durch die Staatsanwaltschaft

Eine Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 1 StPO durch die Staatsanwaltschaft erzeugt keinen Vertrauenstatbestand derart, dass sie einer späteren Strafverfolgung bezüglich der hiervon umfassten Taten grundsätzlich entgegensteht. Auch erzeugt dieser Umstand bei einer späteren diesbezüglichen Verurteilung keinen gewichtigen Strafmilderungsgrund. Gleichwohl bedarf die spätere Strafverfolgung der von der Einstellung zuvor erfassten Taten eines hinreichend sachlichen Anlasses, der darin liegen kann, dass die Taten, im Hinblick auf deren Verurteilung die Einstellung nach § 154 Abs. 1 StPO erfolgte, nicht zur (rechtskräftigen) Verurteilung gelangen.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 13.12.20221 StR 380/22

I. Sachverhalt

Urteil des BGH

Die Angeklagte ist vom LG wegen Steuerhinterziehung und anderer Delikte verurteilt worden. Diese Verurteilung wurde durch Urteil des BGH v. 11.11.2020 – 1 StR 328/19 in einzelnen Punkten bestätigt, in anderen erfolgte eine Teilaufhebung bzw. Zurückverweisung an die Vorinstanz.

Eingestellte Taten „abgeurteilt“

Vor Anklageerhebung im ersten Rechtsgang hatte die Staatsanwaltschaft hinsichtlich einiger Steuerstraftaten das Verfahren nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt. Im zweiten Rechtsgang kamen diese Straftaten, bezüglich derer zuvor die Einstellung erfolgte, jedoch zur Aburteilung.

Die Verteidigung führt nunmehr ins Feld, dass diese Einstellung mit einer Zusage der Nichtwiederaufnahme verbunden gewesen sei, und vertritt im aktuellen Revisionsverfahren die Rechtsauffassung, dass sich aus der Zusage der Nichtwideraufnahme durch die Staatsanwaltshaft ein Vertrauenstatbestand ergäbe, der einer Verurteilung entgegenstünde. Der frühere Verteidiger des Angeklagten hatte diesen jedoch darauf hingewiesen, dass sich aus der Einstellung keine rechtliche Bindung ergeben würde. Gleichwohl hat sodann im zweiten Rechtsgang die Vorinstanz diesen Umstand strafmildernd berücksichtigt.

II. Entscheidung

Der BGH sieht keinen Vertrauenstatbestand gegeben.

Keine Bindungswirkung

Einer diesbezüglichen Zusage der Staatsanwaltschaft komme nämlich keine Bindungswirkung wie einer gerichtlichen Verständigung nach § 257c StPO zu (BVerfG, Urt. v. 19.3.2013 – 2 BvR 2628/10 u.a., NJW 2013, 1058 Rn 79; BT-Drucks 16/12310, S. 13). Die gegenteilige Rechtsauffassung, die der BGH vor dem Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009 (BGBl I 2009, S. 2353) vertreten hat, wonach eine solche Zusage einen gewichtigen Strafmilderungsgrund (§ 267 Abs. 3 S. 1 StPO) begründen könne (vgl. BGH, Urt. v. 18.4.1990 – 3 StR 252/88, NJW 1990, 1924), sei aufgrund der gesetzlichen Implementierung der strafprozessualen Verständigung in § 257c StPO überholt (BVerfG, Urt. v. 19.3.2013 – 2 BvR 2628/10 u.a., NJW 2013, 1058). Zudem habe der frühere Verteidiger des Angeklagten diesen bereits darauf hingewiesen, dass insofern kein Vertrauenstatbestand gegeben sei. Durch die gewichtige Teilaufhebung des Urteils im ersten Rechtsgang durch den BGH sei ein sachlicher Anlass gegeben, neben den rechtskräftig gewordenen Einzelstrafen wegen Ertragsteuerhinterziehung die gleichgelagerten Fälle, auf die sich die Einstellung nach § 154 Abs. 1 StPO bezog, der Verurteilung zuzuführen (BVerfG, Beschl. v. 19.5.2022 – 2 BvR 1110/2, wistra 2022, 376; BGH, Beschl. v. 30.4.2009 – 1 StR 745/08, wistra 2009, 400).

Überdies hat die Vorinstanz im zweiten Rechtsgang den Umstand der diesbezüglichen Zusage der Nichtwiederaufnahme sogar strafmildernd berücksichtigt. Dadurch ist der revidierende Angeklagte aber nicht belastet.

III. Bedeutung für die Praxis

Vertrauensgrundlage

In Bezug auf die Vorschriften der strafprozessualen Verständigung führt die amtliche Gesetzesbegründung aus: „Nicht ausgeschlossen ist …, dass die Staatsanwaltschaft Zusagen im Rahmen ihrer gesetzlichen Befugnisse zur Sachbehandlung in anderen, bei ihr anhängigen Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten, wie z.B. eine Einstellung nach § 154 StPO, abgibt. Solche Zusagen können aber naturgemäß nicht an der Bindungswirkung teilnehmen, die eine zustande gekommene Verständigung“ nach Maßgabe der § 257c Abs. 4 und 5 StPO „für das Gericht entfaltet“ (BT-Drucks 16/12310, S. 13). Somit ist es ausgehend von der Intention des Gesetzgebers zutreffend, dass eine Bindungswirkung über § 257c StPO im Hinblick auf die Zusage der Staatsanwaltschaft im Fall nicht, auch nicht analog, gegeben war. Auch ein Strafklageverbrauch lässt sich dadurch nicht herleiten. Jedoch geht das BVerfG davon aus, dass „gleichwohl auch die staatsanwaltschaftliche Verfahrenseinstellung für den Beschuldigten regelmäßig eine Vertrauensgrundlage“ schafft. „Die Wiederaufnahme eines durch die Staatsanwaltschaft eingestellten Verfahrens darf daher nicht willkürlich, sondern nur bei Vorliegen eines sachlich einleuchtenden Grundes erfolgen, um das Vertrauen des Beschuldigten und der Allgemeinheit in den Bestand des Verfahrensabschlusses nicht zu gefährden“ (BVerfG, Beschl. v. 19.5.2022 – 2 BvR 1110/2, wistra 2022, 376). Einen solchen sachlichen Grund sieht der BGH aber im Fall darin, dass es zuvor durch die Revision zum Wegfall von Anklagepunkten gekommen war. Folglich bedarf eine Wiederaufnahme nach erfolgter Einstellung gemäß § 154 StPO eines nachvollziehbaren Grundes.

Dr. Matthias Gehm, Limburgerhof

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