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Verdeckungsmord bei Misshandlung von Schutzbefohlenen

Ein (versuchter) Mord zur Verdeckung einer anderen Straftat liegt nicht vor, wenn der Täter nur diejenige Tat verdecken will, die er gerade begeht (hier: schwere Misshandlung von Schutzbefohlenen).

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Urt. v. 15.3.20232 StR 462/21

I. Sachverhalt

Massive Vernachlässigung eines Kindes

Das LG hat die Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer Misshandlung einer Schutzbefohlenen verurteilt. Am 21.11.2014 gebar die Angeklagte F ihre Tochter A, das spätere Tatopfer, zu der sie von Anfang an keine Bindung aufbauen konnte. Ab dem zweiten Lebensjahr kümmerte sich die Angeklagte immer weniger um A. A erhielt zu wenig Nahrung und zu wenig persönliche Zuwendung, wodurch sie abmagerte, sich ihr Längenwachstum verlangsamte und sich ihre kognitiven, sprachlichen, motorischen und feinmotorischen Fähigkeiten nicht altersgerecht entwickelten. Die Angeklagte erkannte diese negative Entwicklung. Ihr war auch bewusst, dass A hierunter litt. Die entstehenden körperlichen und seelischen Schäden nahm sie angesichts ihrer ablehnenden Haltung gegenüber A in Kauf. Im Februar 2019 zog der Angeklagte S bei F ein und nahm zunehmend auch die Stellung eines Familienvaters ein. Den Kontakt zu A empfand er jedoch als unbefriedigend, er empfand sie als lästig. In der Folgezeit kümmerten sich die Angeklagten noch weniger um A. Ab dem 1.8.2020 erkannten die Angeklagten aufgrund des nunmehr kritischen Gewichtsverlustes und der erheblichen Verschlechterung des Zustands von A (sie konnte nicht mehr selbst laufen oder stehen), dass deren Gesundheitszustand infolge der chronischen und massiven Unterernährung mittlerweile lebensbedrohlich war und jederzeit mit dem Tod des Kindes gerechnet werden musste. Den Angeklagten war auch bewusst, dass A bei ihren Bewegungen erhebliche Schmerzen erlitt. Die Hinzuziehung ärztlicher Hilfe zogen sie nicht in Betracht, aus Sorge, dass die schlechte Versorgung des Kindes behördenbekannt würde und eine Inobhutnahme auch des erwarteten dritten Kindes nach sich ziehen könnte. A wurde schließlich durch das eingeschaltete Jugendamt am 27.8.2020 zu einem Kinderarzt gebracht und von dort ob ihres lebensbedrohlichen Zustands umgehend in ein Krankenhaus. A wurde nach medizinischer Versorgung in einer heilpädagogischen Einrichtung untergebracht. Ob sie die auf die Mangelversorgung zurückzuführenden Entwicklungsverzögerungen jemals aufholen kann, ist unklar. Die Revisionen der Angeklagten blieben zum Schuldausspruch ohne Erfolg. Die Strafaussprüche wurden aufgehoben und die Sache insoweit zurückverwiesen.

II. Entscheidung

Schwere Misshandlung von Schutzbefohlenen

Die Feststellungen trügen die Verurteilung der Angeklagten wegen versuchten Mordes durch grausame Tatbegehung (wird näher ausgeführt). Der Schuldspruch habe auch insoweit Bestand, als die Angeklagten, deren Fürsorge und Obhut die im gemeinsamen Haushalt lebende A unterstand, wegen tateinheitlich verwirklichter schwerer Misshandlung einer Schutzbefohlenen nach § 225 Abs. 1, Abs. 3 Ziffer 1 StGB verurteilt sind. Ohne Rechtsfehler erblicke die Strafkammer ein Quälen und eine rohe Misshandlung i.S.d. § 225 Abs. 1 StGB darin, dass die Angeklagten durch die dauerhaft mangelnde Nahrungszufuhr nicht nur ein anfängliches Hungergefühl bei A, sondern für einen längeren Zeitraum erhebliche Bewegungsschmerzen verursachten und dass sie A in diesem Zeitraum auch ohne Ansprache und Zuwendung allein „über Stunden in ihrem Kinderbett im abgedunkelten Zimmer liegen ließen“, was seelisches Leid verursachte. Für den Zeitraum ab dem 1.8.2020 seien die objektiven und subjektiven Voraussetzungen des § 225 StGB rechtsfehlerfrei belegt. Soweit die Strafkammer hinsichtlich der Angeklagten F eine Misshandlung zusätzlich in einer böswilligen Vernachlässigung sieht, sei diese für einen vor dem 27.8.2020 liegenden Zeitpunkt belegt. Böswillig i.S.d. § 225 Abs. 1 3. Alt. StGB handele, wer seine Pflicht, für einen anderen zu sorgen, aus einem verwerflichen Beweggrund vernachlässigt; das Gesinnungsmerkmal der Böswilligkeit sei gekennzeichnet durch feindseliges Verhalten aus Bosheit, Lust an fremdem Leid, Hass und anderen verwerflichen Gründen, etwa auch aus Geiz und Eigensucht; Gleichgültigkeit, Abgestumpftheit oder Schwäche sowie Überforderung wegen mangelnder Reife reichen hingegen in der Regel nicht aus (BGH NStZ-RR 2015, 369, 371). Hiervon sei die Strafkammer zutreffend ausgegangen und habe bei der von ihr vorgenommenen Würdigung maßgeblich auf die grundsätzlich ablehnende Haltung der Angeklagten ihrer Tochter gegenüber abgestellt. Es habe auch die konkrete Gefahr bestanden, dass A infolge des Verhaltens der Angeklagten ums Leben kommt (§ 225 Abs. 3 Nr. 1 StGB); es sei vielmehr „überraschend, dass A so lange“ überlebte. Die durch die Misshandlung verursachte Todesgefahr für A sei von dem jedenfalls ab dem 1.8.2020 gegebenen bedingten (Tötungs-)Vorsatz der Angeklagten umfasst. Die versuchte Tötung stehe zur vollendeten schweren Misshandlung in Tateinheit (§ 52 StGB; BGH, Urt. v. 16. 4.2014 – 2 StR 608/13).

Kein versuchter Verdeckungsmord

Indes begegne die Annahme der Strafkammer, die Angeklagten hätten ab dem 1.8.2020 auch mit der Absicht gehandelt, die schwere Misshandlung von A zu verdecken, durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Insoweit ließen die Urteilsgründe besorgen, dass das LG den Zweifelsgrundsatz nicht beachtet hat. Der Annahme eines Verdeckungsmordes stehe grundsätzlich nicht entgegen, dass sich bereits die zu verdeckende Vortat gegen Leib und Leben des Opfers richtet (BGHSt 35, 116 = NJW 1988, 2679) oder die Tat mit bedingtem Vorsatz und durch Unterlassen begangen wurde (BGH NJW 2000, 1730). Auch könne hier für eine Absicht der Eltern, die vorangehende Misshandlung Schutzbefohlener durch den Tod des Opfers zu verdecken, und damit für das Vorliegen des Mordmerkmals der Verdeckungsabsicht sprechen, dass sie niemanden mehr zu dem Kind ließen, weil sie die lebensbedrohliche Verschlechterung des Zustandes des Kindes bemerkten und weil sie die Einschaltung des Jugendamtes fürchteten, und dass sie Dritten gegenüber wahrheitswidrige Angaben zum Gesundheitszustand des Kindes machten. Um eine zu verdeckende „andere Straftat“ (§ 211 Abs. 2 StGB) handele es sich jedoch dann nicht, wenn der Täter nur diejenige Tat verdecken will, die er gerade begeht. Handelt der Täter bereits von Anfang an mit (bedingtem) Tötungsvorsatz, sei für die Annahme eines Verdeckungsmordes kein Raum (st. Rspr.; BGH NStZ 2017, 342; NStZ-RR 2017, 209, 210). Es fehle folglich an einer für das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht erforderlichen „anderen“ Straftat, wenn der Täter das Tatopfer zunächst mit (bedingtem) Tötungsvorsatz misshandelt und es anschließend zur Verdeckung dieses Geschehens unterlässt, Maßnahmen zur Rettung des überlebenden Opfers einzuleiten; ist diese Möglichkeit nicht auszuschließen, müsse sie wegen des Zweifelsgrundsatzes gegebenenfalls zugunsten des Angeklagten angenommen werden. Dies habe das LG nicht hinreichend bedacht, wenn es im Hinblick auf den Tötungsvorsatz zugunsten der Angeklagten von einem Zeitraum ab dem 1.8.2020 ausgeht, dem Tag, an dem der lebensbedrohliche Zustand des Tatopfers auf einem Lichtbild deutlich erkennbar ist. Ob ein wenigstens bedingter Tötungsvorsatz nicht ausschließbar auch schon zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen haben könnte, nehme das LG nicht in den Blick. Dies sei nach den Urteilsgründen auch nicht ausgeschlossen.

Die Urteilsgründe erlaubten dem Senat auch nicht den sicheren Schluss, die vom LG als zu verdeckende Tat angesehene „Misshandlung der ihnen als Schutzbefohlene unterstellten A“ habe zu einem Zeitpunkt begonnen, als die Angeklagten noch nicht mit zumindest bedingtem Tötungsvorsatz handelten. Zwar erscheine es nach den Urteilsgründen durchaus möglich, dass die Angeklagten mit Verdeckungsabsicht handelten. Es sei aber weder Aufgabe des Revisionsgerichts, sich aus der detailreich in einer Chronologie nacherzählten Entwicklung von A die Umstände herauszusuchen, die die Wertung der Strafkammer tragen könnten, noch ist es ihm möglich, der Verurteilung wegen Verdeckungsmordes eine andere als die von der Strafkammer angenommene Verdeckungstat (etwa die festgestellte Körperverletzung) zugrunde zu legen; dem stehe auch § 265 StPO entgegen (BGHSt 56, 121 = NJW 2011, 1301 = StRR 2011, 193 [Burhoff]). Der aufgezeigte Rechtsfehler ziehe die Aufhebung des Strafausspruchs nach sich, da das LG die Verdeckungsabsicht strafschärfend berücksichtigt hat.

III. Bedeutung für die Praxis

Wortlaut des Gesetzes

Schon der Wortlaut des § 211 Abs. 2 StGB ist eindeutig. Es muss die Absicht zur Verdeckung einer anderen Straftat bestehen. Diese kann zwar auch rechtlich in Tateinheit zur Tötungstat stehen (BGH NStZ 2003, 371), muss aber tatsächlich von ihr abgrenzbar sein. Die entsprechenden Feststellungen und Wertungen muss das Tatgericht treffen, nicht das Revisionsgericht. Es muss unter Berücksichtigung von Tun und Unterlassen das Verhältnis von Vortat und Tötungstat klären oder eben in dubio pro reo festhalten, dass ihm dies nicht möglich ist. Dass dies dem LG hier nicht gelungen ist, hat hier zur Aufhebung der Strafaussprüche geführt.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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